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Beitrag 9

Epistemische Funktion des Briefes Zum Konzept der Ganzheit in den Korrespon­denzen Karl August Varnhagens von Ense mit Alexander von Humboldt und Ignaz Paul Vital Troxler[^* Der vorliegende Beitrag bietet die Projekt­beschreibung zum gleichnamigen Dissertations­projekt.]

Joanna Szczukiewicz (Jagiellonen-Universität)

Zum Gegenstand meiner Untersuchung wurde die epistemische Funktion des Briefes, die ich am Beispiel von zwei bedeutenden Korrespondenzen des Intellektuellen Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858) analysierte. Varnhagen von Ense war ein deutscher Publizist, Diplomat und Begründer der einzigartigen Handschriftensammlung, die heute in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau (Polen) aufbewahrt wird (vgl. Jaglarz / Jaśtal 2018: 15–30). Den Schwerpunkt meiner Arbeit bildete die Untersuchung des im Brief geführten intellektuellen Dialogs, der auf die Vermittlung von Wissen abzielte, das die Korrespondenzpartner im Laufe ihrer individuellen Erkenntnisse erworben haben.

Der erste Teil des Korpus umfasst die Korrespondenz Varnhagens mit dem als „Weltbürger“ (Biermann / Schwarz 1999: 182) und Polyhistor bekannten Alexander von Humboldt (1769–1859), dem Reiseforscher, der mit seinem Verständnis von der Natur als „Netz des Lebens“ (Wulf 2016: 21) die Entwicklung der modernen Wissenschaft beeinflusste. Die Edition ‚Briefe Alexander von Humboldts an K.A.V. von Ense aus den Jahren 1827–1858‘ wurde im Jahre 1860 von Ludmilla Assing veröffentlicht, Varnhagens Nichte, die nach dem Tod ihres Onkels seinen handschriftlichen Nachlass verwaltete (vgl. Gatter 2000: 266). Die Ausgabe enthält 157 Briefe von Humboldt und 12 Briefe von Varnhagen und ist kein vollständiges Register dieser Briefpartnerschaft.

Den zweiten Teil des Korpus bildet die Korrespondenz Varnhagens mit Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866), dem Schweizer Arzt und Philosophen, der ebenso als ‚Gründervater der modernen Schweiz‘ (Furrer 2009) gilt. Der Briefwechsel fand in den Jahren 1815–1858 statt. Die 1953 von Iduna Belke herausgegebene Briefedition wird von der Forscherin als vollständig angesehen, sie enthält 66 Briefe von Varnhagen und 81 Briefe von Troxler.

Für die Zusammenstellung beider Korrespondenzen war die geistige Nähe der Gesprächspartner, ihre naturwissenschaftliche Ausbildung (Humboldt und Troxler waren Naturwissenschaftler, Varnhagen studierte Medizin), das politische Engagement und das Interesse an publizistischen Fragestellungen von Bedeutung. Außerdem beeinflusste diese Entscheidung auch die unterschiedlich ausgeführte Aufbewahrungs- und Editionspraxis. Die präzise Dokumentation von Varnhagens Ansichten aus dem Korrespondenzverhältnis mit Troxler erlaubt es, seine frühen Ansichten über aktuelle Fragestellungen kennenzulernen und seinen Beitrag an dem chronologisch später erfolgenden Briefwechsel mit Humboldt zu erkennen, von dem bis heute grundsätzlich nur die Briefe des Naturforschers erhalten geblieben sind.

Eine Inspirationsquelle für die Betrachtung des Briefs als Medium der Wissensvermittlung waren Thesen des britischen Forschers Peter Burke zur sozialen Geschichte des Wissens. In seiner Studie ‚Explosion des Wissens‘ (2014) untersuchte Burke die Mechanismen der Entstehung und Vermittlung von Wissen in Bezug auf das kommunikative Potenzial verschiedener Medien. Dem Brief kommt laut Burke eine besondere Qualität als Medium der Wissensvermittlung zu, er zeichnet sich durch seinen dialogischen Charakter und hybride Form aus, d. h. solche, die Elemente der Mündlichkeit und Schriftlichkeit verbindet (vgl. Burke 2014: 114).

Burkes innovatives Werk bietet dem Leser jedoch keine kohärente Methodologie, die er für seine weitere Forschung nutzen könnte. Es erschien deshalb notwendig, die Vorschläge des englischen Forschers zu ergänzen, d.i. den Begriff Wissensvermittlung präzise zu definieren und die Kategorien der Briefanalyse zu bestimmen. Die Wissensvermittlung definierte ich u. a. in Anlehnung an die Vorschläge von Antoine Hornung (vgl. Hornung 2005: 391) und Gerhard Steindorf (vgl. Steindorf 1985: 160) als eine kommunikative Handlung zwischen einem Sender und Empfänger, deren Ziel die Weitergabe von Wissen mit Verständnisanspruch darstellt. Versuche, Analysekategorien der Gattung Brief systematisch zu benennen, werden selten unternommen. Ein ausgebautes Kategorieninventar bietet die Studie von Karl Ermert aus den 1980er Jahren mit dem Titel ‚Briefsorten. Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation‘, die in der Forschung bisher wenig beachtet wurde. Dank der darin enthaltenen Vorschläge wurde es möglich das Sender-Empfänger-Verhältnis festzulegen, die Rolle der epistolaren Kommunikation im allgemeinen Kontext der brieflichen und nicht brieflichen Kommunikation zwischen den Schreibenden zu bestimmen, Themen zu identifizieren und vor allem die Funktion der einzelnen Briefe zu ermitteln (vgl. Ermert 1979: 68–82). Ermert geht davon aus, dass ein Brief mehrere Funktionen erfüllen kann, wobei eine immer dominant bleibt. Er zählt folgende Funktionen auf: Kontaktfunktion, Darstellungsfunktion, Wertungsfunktion, Aufforderungsfunktion und kognitive Funktion. In meiner Untersuchung erweiterte ich das von Ermert erstellte Modell um die epistemische Funktion, unter der ich nach Dietrich Busse und Grzegorz Pawłowski die in der epistolaren Kommunikation stattfindende Wissensvermittlung verstehe, die „auf vorgängige Erkenntnisakte“ (zit. nach Pawłowski 2015: 67) der Schreibenden zurückverweist. Die epistemische Funktion wird im Brief dann realisiert, wo in der Nachricht der Fokus auf die Präsentation der bereits erfolgten individuellen Erkenntnisse gerichtet wird (Darstellungs- und Wertungsfunktion nach Ermert) und nicht dort, wo im Zentrum die Exposition der Beziehung steht (Kontakt- und Appellfunktion) oder der Reflexionsprozess, der während des Schreibens stattfindet (kognitive Funktion).

Um zu bestimmen, in welchen Phasen der Zusammenarbeit der Brief von den Gesprächspartnern als Medium der Wissensvermittlung verwendet wurde, war es notwendig, die Korrespondenz anhand der von Ermert vorgeschlagenen Analysekategorien genau zu strukturieren. Bei der Lektüre und Analyse der Briefe erwies es sich als hilfreich, den biographischen Kontext zu berücksichtigen, der wichtige Hinweise auf den Verlauf der epistolaren Kommunikation und seine Funktion lieferte.

Das Korrespondenzverhältnis zwischen dem preußischen Diplomaten Varnhagen und dem Schweizer Gelehrten Troxler entwickelte sich vor dem Hintergrund der politischen Debatten auf dem Wiener Kongresses, an dem beide Intellektuellen teilnahmen und ihre Länder repräsentierten. Beide vertraten liberale Ansichten und engagierten sich für die internationale Zusammenarbeit. Ihr Briefwechsel aus den Jahren 1815–1858 wurde zum Ausdruck des europäischen Zusammenhalts. Den Verlauf der Korrespondenz bestimmten zwei Ereignisse im Leben der Gesprächspartner. Die erste ­bedeutende ­Zäsur war im Februar 1815, als Troxler (zwei Monate nach dem Beginn der ­Korrespondenz) mit dem Ende des Kongresses Wien verließ und in seine Heimat Schweiz zurückkehrte. Als zweite biografische Zäsur kann Juni 1856 angesehen werden, als sich die Freunde nach einer über 40 Jahre dauernden Trennung in der Schweiz wiedertrafen. Anhand der angegebenen Daten lässt sich die Korrespondenz zwischen Varnhagen und Troxler in drei Phasen einteilen: eine kurze Zeitspanne von Januar bis Februar 1815, in der die epistolare Kommunikation die Zusammenarbeit der Intellektuellen auf dem Wiener Kongress unterstützte, die Briefe erfüllten die Appellfunktion; die Zeit zwischen März 1815 bis Juni 1856, in der der Briefwechsel die Kontakte zwischen Varnhagen und Troxler regulierte, in den Briefen aus dieser Phase dominierten die Darstellungs- und Wertungsfunktion. Abhängig von den persönlichen und beruflichen Interessen wechselte in diesen Jahren die thematische Ausrichtung der Korrespondenz: zwischen 1815–1818 fand der intensivste Gedankenaustausch statt, verbunden war er mit der literarisch-politischen Zusammenarbeit der Briefpartner, die um die Herausgabe der internationalen Zeitschrift „Schweizerisches Museum“ zirkulierte. Zwischen 1819 und 1846 kam es zu einer allmählichen Abschwächung der Korrespondenzbeziehung. Dies lag zum einen an der Verschärfung der politischen Situation, zum anderen an der Konzentration der Gesprächspartner auf ihre eigenen Projekte. In Troxlers Briefen aus dieser Zeit dominieren philosophische Überlegungen, in Varnhagens Briefen Reflexionen über die Bedeutung der Literatur für das gesellschaftliche Leben. Kurz vor dem Ausbruch der Märzrevolution kehrten politischen Fragen zurück. Zwischen 1847 und 1856 erörterten die Schreibenden aktuelle Ereignisse, mögliche Entwicklungen in Europa und ihren Beitrag zur geistigen Entwicklung der Menschheit. In der letzten, dritten Phase der Korrespondenz, d. h. zwischen 1856–1858, dominierte die Kontaktfunktion.

Die edierten Briefe zwischen Varnhagen und Alexander Humboldt dokumentieren das Korrespondenzverhältnis zwischen den Intellektuellen, das in den Jahren 1827–1858 stattfand. Die verfügbaren Quellen deuten jedoch darauf hin, dass die Korrespondenten schon viel früher in Kontakt getreten sind (vgl. Varnhagen von Ense 1987: 59). Aus den Briefen geht hervor, dass ihre Beziehung 1827 nach Humboldts Rückkehr in seine Heimatstadt Berlin erneuert wurde. Der Gelehrte hatte die Jahre zuvor in Paris verbracht, die Motivation für die Kontaktaufnahme mit Varnhagen ging mit Humboldts wissenschaftlich-publizistischen Vorhaben einher. Die Briefe enthalten zahlreiche Hinweise auf die Zweigleisigkeit der Kommunikation, d. h. auf ihren mündlichen und schriftlichen Charakter, da sie über die Treffen der Korrespondenten berichten und manchmal die dabei besprochenen Themen berühren. Die biographischen Schlüsselmomente, die die Dynamik der Korrespondenz prägen, waren politische Ereignisse und schwierige persönliche Erfahrungen. Diese waren (in chronologischer Reihenfolge): der Tod Varnhagens Frau Rahel (1833), der Tod Humboldts Bruders, des Sprachwissenschaftlers Wilhelm von Humboldt (1835) und die Märzrevolution (1848 / 49). Die Erkenntnis dieser Zäsuren ermöglichte es, den Briefwechsel in drei Phasen zu gliedern.

Die erste Phase umfasst Briefe aus den Jahren 1827 bis 1835. Die erhaltene Korrespondenz aus dieser Zeit dokumentiert Vorarbeiten Alexander von Humboldts zum opus magnum ‚Kosmos‘, an dem Varnhagen als literarischer Berater beteiligt war. In diesen Briefen dominiert die Darstellungsfunktion. In den folgenden Jahren, d. h. zwischen 1836 und 1849, besprachen die Korrespondenten die individuellen wissenschaftlichen und literarischen Projekte (zu denen u. a. die weitere Arbeit Humboldts am ‚Kosmos‘ gehörte sowie Varnhagens Arbeit an Lebenserinnerungen ‚Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens‘ oder der berühmten Varnhagen-Sammlung), sowie bewerteten wissenschaftliche Bemühungen anderer Intellektuellen, kommentierten auch politische Entwicklungen. Die Briefe erfüllten die Wertungsfunktion. Die letzten Jahre des Briefwechsels, d. h. 1850–1858 wurden durch die Folgen der Märzrevolution bestimmt. Die Briefe spiegeln die politische Unzufriedenheit der Schreibenden wider. Ihre Hoffnungen auf einen einheitlichen deutschen Staat waren gescheitert. Während in den vorangegangenen Phasen die schriftliche Kommunikation mit der mündlichen einherging, wurden in der letzten Phase ihres intellektuellen Austausches die persönlichen Treffen der Schreibenden aufgrund ihres gesundheitlichen Zustands merklich seltener. Die Briefe kompensierten die Unmöglichkeit des persönlichen Gesprächs, in den Mitteilungen aus dieser Zeit überwiegen, je nach Situation, die Wertungs- und Kontaktfunktion.

Aufgrund der durchgeführten Analysen konnte festgestellt werden, dass die epistemische Funktion in der Korrespondenz zwischen Varnhagen und Troxler in dem Schreibzeitraum zwischen März 1815 und Juni 1856 realisiert wird. Im Fall der Briefe von Humboldt und Varnhagen ist die epistemische Funktion in der gesamten Korrespondenz aus den Jahren 1827–1858 präsent. Die in beiden Korrespondenzen wiederkehrenden Gedankengänge ließen das Konzept der Ganzheit als den vermittelten Wissensbestand identifizieren, den Varnhagen, Humboldt und Troxler in ontologischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht erwogen. Das Konzept der Ganzheit wurzelt in der antiken Tradition und verweist auf den Problemzusammenhang zwischen dem Teil und dem Ganzen. Um 1800, aufgrund der erlebten Zersplitterung infolge der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen, kam es zur Aufwertung dieser Problematik. Die Suche nach komplexen Zusammenhängen, einem integrierten Blick auf die Welt und den Menschen wurde zur Notwendigkeit.

Die Präsentation der Inhalte im Brief (einschließlich wissenschaftlicher Fragestellungen) unterlag in den epistolaren Nachrichten des 19. Jahrhunderts keinen formalen Vorschriften. Briefe waren adressatengebunden und wurden an den Verstehenshorizont des Gesprächspartners angepasst. Um die Vermittlung des Konzepts der Ganzheit in den durch ihre Selektivität gekennzeichneten Korrespondenzen näher ergründen zu können, rekapitulierte ich in der Arbeit die Ansichten der Intellektuellen. Ausschlaggebend für meine Untersuchung wurden die auf ein ganzheitliches Weltverständnis ausgerichteten Studien der Intellektuellen, d.i. ‚Kosmos‘ (1845–1862) von Alexander von Humboldt, ‚Blicke in das Wesen des Menschen‘ (1812) von I. P. V. Troxler sowie eine Sammlung von Literaturkritiken von K.A.V von Ense (1833). Auf diese Weise konnte ich einen breiteren Kontext für die nicht systematischen oder verkürzten Beiträge zu den von mir analysierten wissenschaftlichen Themen skizzieren.

Für Alexander von Humboldt wurde die ganzheitliche Erkenntnis zum Grundmodell seines wissenschaftlichen Denkens. Diese für seine Arbeit grundlegende These formulierte der Wissenschaftler bereits vor dem Beginn seiner Südamerikareise (1799–1804) und bestätigte 1808 in seiner Studie ‚Ansichten der Natur‘, in der er auf die Komplexität der Naturerscheinungen hinwies. Schon damals förderte er die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, was schließlich zur Veröffentlichung seines Lebenswerks ‚Kosmos‘ führte. Troxler bezog das Konzept der Ganzheit auf seine anthropologischen Untersuchungen. Er strebte eine ganzheitliche Sicht des Menschen an und versuchte dabei, die gegensätzlichen Positionen von Materialismus und Spiritualismus sowie Idealismus und Realismus zu verbinden. Die Ergebnisse seiner Forschung legte er in seiner Studie ‚Blicke in das Wesen des Menschen‘ vor. In den folgenden Jahren seines Lebens arbeitete er weiter an der Idee der Anthroposophie, seiner originellen philosophischen Position, in der er anthropologische, philosophische und theologische Ansätze zu verbinden suchte. Varnhagens frühe Thesen zum Konzept der Ganzheit lassen sich in seiner Korrespondenz wiederfinden. In seiner beruflichen Tätigkeit als Publizist, Literaturkritiker und Autographensammler setzte er seine Ansichten in die Praxis um. Sein ganzheitliches Denken wandte er auf die literarische Tätigkeit an: zum einen auf den Schreibprozess und die damit verbundene Spannung zwischen den Textteilen und dem Textganzen, zum anderen auf den Text als Element (Teil) eines Ganzen, das es im Kulturraum ist, innerhalb dessen er eine Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellt.

Varnhagens Briefwechsel mit Troxler und Humboldt bieten dem Leser zwei unterschiedliche Reflexionsvarianten von dem Konzept der Ganzheit. Dies wird sowohl durch den Entwicklungsgrad ihres intellektuellen Bewusstseins zu dem bestimmten biografischen Zeitpunkt bestimmt als auch durch die Rolle, die der Brief in der Kommunikation zwischen den Partnern spielte. Die Briefe Varnhagens und Troxlers zeichnen sich durch eine detaillierte Ergebnisdarstellung aus. Dies ist zum einen auf die räumliche Entfernung und die Beschränkung der Interaktion auf schriftliche Kommunikation zurückzuführen, zum anderen auf die im Laufe der Jahre fortschreitende Präzisierung der individuellen Ansichten. Im Falle von Varnhagen und Humboldt waren detaillierte Aussagen größtenteils überflüssig. Lange Zeit ergänzte die schriftliche Kommunikation die zahlreichen persönlichen Treffen. Die Intellektuellen verfügten zum Zeitpunkt der epistolaren Kontaktaufnahme über ausgebaute konzeptuelle Lösungen, die der Öffentlichkeit bekannt waren. Das Konzept der Ganzheit manifestierte sich in den Briefen in der Realisierung gemeinsamer Projekte, in denen die Korrespondenzpartner versuchten, die individuell entwickelten Ideen miteinander zu verbinden.

In dem intellektuellen Austausch zwischen Varnhagen und Troxler aus dem Zeitraum zwischen März 1815 und Juni 1856 wurde das Konzept der Ganzheit auf drei Themenkomplexe bezogen: Politik, Literatur und Philosophie, die teilweise getrennt, teilweise parallel diskutiert wurden und in verschiedenen Phasen der Korrespondenz, abhängig von politischen, persönlichen und beruflichen Interessen dominierten.

Die Analyse der vermittelten Ansichten lässt einen von Brief zu Brief stattfindenden Wissenszuwachs beobachten. Sie markieren einen vollständig durchgeführten Denkvorgang von Analyse zur Synthese, der über die Jahre verteilt ist und das Konzept der Ganzheit als ein übergeordnetes Denkprinzip erkennen lässt. Die Erweiterung der Erkenntnisperspektive vollzieht sich sowohl auf der quantitativen (Themenvielfalt) als auch qualitativen (Gedankentiefe) Ebene. Wesentliche Wendepunkte bilden die Jahre 1819 und 1847, in denen neue Ideen in den epistolaren Dialog eingeführt wurden und den intellektuellen Austausch in drei Phasen gliedern ließen: die Jahre 1815–1818, in denen das Konzept der Ganzheit politisch-literarisch erörtert wurde. Die Veränderungen in den einzelnen Ländern nach dem Wiener Kongress diskutierten die Korrespondenzpartner nicht getrennt, sondern zusammen, als Teile einer gemeinsamen Weltentwicklung. In der Publizistik erkannten sie die Möglichkeit der Völkerverbindung und den Weg zum politischen Wiederaufbau. Beide kommentierten die Bedeutung der Literatur für den sozialen Bewusstseinswandel. Durch die Herausgabe der Zeitschrift ‚Schweizerischen Museums‘ beabsichtigten sie die Zusammenarbeit der deutschsprachigen Länder zu unterstützen und langfristig auf das Zusammensein der Nationen einzuwirken.

In der Zeit zwischen 1819 und 1846 wurde das Konzept der Ganzheit im philosophischen und literarischen Kontext erörtert. Im Gegensatz zu früheren Überlegungen wurde die ganzheitliche Weltentwicklung auf das Wirken von Individuen zurückgeführt. Dies hing u. a. mit der philosophischen Tätigkeit Troxlers zusammen, der in der Weltordnung einen generationenübergreifenden Entwicklungsprozess erkannte und die „Suche des Menschen im Menschen“ (Aeppli 1936: 153) postulierte. In den Briefen erläuterte er seinen innovativen philosophischen Ansatz der Anthroposophie. Varnhagen beschäftigte hingegen die literarische Auslegung des Konzepts der Ganzheit, das er sowohl auf Einzeltexte als auch auf literarische Formen anwandte. Die Korrespondenten experimentierten mit neuen Ausdrucksformen, die sich auf dieses Konzept bezogen. Varnhagen übte sich in dieser Zeit in Formen des biografischen und autobiografischen Schreibens und gab u. a. Briefe seiner verstorbenen Frau heraus: ‚Rahel. Das Buch des Andenkens‘ (1833). Zudem engagierte er sich als Autographensammler. In den Briefen aus den letzten Jahren des intellektuellen Austausches, d.i. 1847–1856, wurden politische, philosophische und literarische Überlegungen miteinander verbunden, das Konzept der Ganzheit wurde von den Korrespondenten als ein universelles Prinzip der Weltwahrnehmung und der Reflexion über die Welt verstanden.

Der Briefwechsel von Karl August Varnhagen von Ense und Alexander von Humboldt aus den Jahren 1827 bis 1858 lässt beobachten, wie die von den Gesprächspartnern zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten ganzheitlichen Konzepte von der Natur und Literatur miteinander verbunden werden. Die bereits vorgeschlagene Einteilung der Korrespondenz in drei Perioden, deren Wendepunkte mit den für die Gesprächspartner wichtigen persönlichen und politischen Ereignissen zusammenfallen, erlaubt auch die Einführung neuer thematischer Schwerpunkte zu bemerken.

Briefe aus den Jahren 1827–1835 zeigen die Anfänge der Zusammenarbeit zwischen Varnhagen und Humboldt. Das Konzept der Ganzheit wurde von den Gesprächspartnern auf die Frage der Wissenspopularisierung bezogen. Für Humboldt war dies eine intensive Zeit der Arbeit an seinem Lebenswerk ‚Kosmos‘, einer Himmel und Erde umfassenden Weltbeschreibung, in der er die Komplexität der Naturphänomene zu vermitteln suchte. Varnhagen, als ein von Humboldt geschätzter Literaturkritiker, beteiligte sich an dem Vorhaben des Naturforschers, indem er Korrekturarbeiten zum Werk leistete und den richtigen literarischen Ausdruck für die Darstellung der Ganzheit der Natur suchte. In den Briefen aus den Jahren 1836 bis 1849 wurde das Konzept der Ganzheit von den Gesprächspartnern sowohl auf ihr eigenes geistiges Schaffen als auch auf die Leistungen der Zeitgenossen bezogen: im Sinne einer posthumen Ehrung (hier sind u. a. das gemeinsame Projekt zur Herausgabe der sprachwissenschaftlichen Arbeiten Wilhelm von Humboldts oder die Varnhagen-Sammlung zu nennen) oder aktueller Debattenführung. Die Schreibenden kommentierten den Beitrag der Zeitgenossen zur Entwicklung der Wissenschaft, darunter die Werke von Philosophen, Schriftstellern, Theologen oder Politikern. Nach 1843 wurde auf das Konzept der Ganzheit bezüglich der politischen Situation zurückgegriffen, negativ beurteilt wurde die Kurzsichtigkeit der Regierenden. In den letzten Korrespondenzjahren, d. h. 1850–58, ist aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Korrespondenzpartner eine stärkere Tendenz zu verallgemeinernden Aussagen über den Weltentwicklungsvorgang zu beobachten. Die eigene Existenz schien den Gesprächspartnern ein Bruchteil der Weltgeschichte darzustellen. Trotzdem versuchten sie die eigenen Leistungen im Kontext der Weltentwicklung zu positionieren und hoben den individuellen Beitrag zum Weltfortschritt hervor. In diesem Sinne schließen diese Erwägungen an das Konzept der Ganzheit an, da sie das individuelle Verhältnis zwischen dem Ich und der Welt thematisierten.

Die durchgeführte Untersuchung zur epistemischen Funktion des Briefs fokussierte zwei Korrespondenzen aus dem 19. Jahrhundert. Die Analyse anderer Briefwechsel aus dieser Zeit, die in der zeitgenössischen Forschung noch nicht berücksichtigt wurden, könnte zu weiteren Erkenntnissen im Bereich der epistolaren Wissensvermittlung verhelfen, in einer Zeit, in der die Suche nach Wechselwirkung und Verbindung zum Grundmodell erklärt wurde.

Primärliteratur

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  • Belke, Iduna (Hg.). 1953. Der Briefwechsel zwischen Ignaz Paul Vital Troxler und Karl August Varnhagen von Ense 1815–1858. Aarau: H.R. Sauerländer & Co.

Sekundärliteratur

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  • Ermert, Karl. 1979. Briefsorten. Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Text­klassifikation. Tübingen: Max Niemeyer Verlag.
  • Furrer, Daniel. 2009. Gründervater der modernen Schweiz. Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866). https://folia.unifr.ch/documents/301195/files/FurrerD.pdf (2.11.2023). Ohne DOI.
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  • Hornung, Antonie. 2005. Wissenstransfer versus Wissensvermittlung: eine Annäherung an den Begriff am Beispiel sprachlich- / kulturelles Wissen. In: Antos, Geld (Hg.), Wissenstransfer durch Sprache als gesellschaftliches Problem, S. 391–402. Frankfurt a. M.: Peter Lang GmbH.
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  • Pawłowski, Grzegorz. 2015. Kognitiv und / oder epistemisch? Auf dem Weg zur epistemologischen Semantik. Glottodidactica XLII(1). S. 63–79.
  • Steindorf, Gerhard. 1985. Lernen und Wissen: Theorie des Wissens und der Wissensvermittlung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Varnhagen von Ense, Karl August. 1987. Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Bd. 2, hg. Konrad Feilchenfeldt. Frankfurt a. M.: Bibliothek Deutscher Klassiker.
  • Wulf, Andrea. 2016. Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. München: C. Bertelsmann.

  • Szczukiewicz, Joanna. 2024. Epistemische Funktion des Briefs: Zum Konzept der Ganzheit in den Korrespondenzen Karl August Varnhagens von Ense mit Alexander von Humboldt und Ignaz Paul Vital Troxler. In Franke, Sebastian; Klemm, Anna Luise; Krabi, Richard; Toth, Raphael; Zajac, Wojciech (Hgg.), Studieren und Promovieren in Krakau und Leipzig: Beiträge der Sommerschule 2023. 7–9. Leipzig (text­dynamiken 3).
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