Körperdarstellung in der Korrespondenz Rahel Varnhagens: Nerven, Schmerz und Krankheit[^* Der vorliegende Beitrag bietet Einblick in die März 2024 abgegebene Masterarbeit.]
Die thematische Ausrichtung auf den Körper in den Briefen Rahel Varnhagens (1771–1833) ist keineswegs dem Zufall geschuldet. Vielmehr offenbart sich in dieser Korrespondenz ein zentrales Anliegen der Verfasserin, das durch die prominente Betonung von Sensibilität und Krankheit gekennzeichnet ist. Bei der Untersuchung dieses Zusammenhangs im kulturgeschichtlichen Kontext der Epoche wird deutlich, dass die Wahl dieses Themas keineswegs willkürlich erfolgte, sondern durch den medizinischen Diskurs ihrer Zeit determiniert war. Eine herausragende Bedeutung maßen die zeitgenössischen Diskurse den Nerven als zentraler Struktur des Körpers bei. Mit diesen Strukturen wurde neben der individuellen Sensibilität auch die Anfälligkeit des Menschen gegenüber Krankheiten erklärt. Grundlage der vorliegenden Untersuchung ist ein Korpus von 244 Briefen, die an insgesamt 21 verschiedene Adressaten gerichtet waren. Dabei liegt der Fokus auf der Korrespondenz Rahel Varnhagens mit einer Bandbreite von Adressaten, darunter ihr Ehemann K. A. Varnhagen, ihre Geschwister Markus Theodor, Moritz und Ludwig und Rose sowie enge Freunde wie der Mediziner David Veit, der schwedische Diplomat Karl Gustav von Brinckmann, Wilhelm von Humboldt und die Schriftstellerin Regina Frohberg.
Zu Beginn soll kurz auf das Briefwerk von Rahel Varnhagen eingegangen werden. Anschließend wird das vorherrschende neurologische Modell des Körpers in der medizinischen Praxis dieser Zeit behandelt. Dies dient als Basis, um abschließend die Beschreibung eines Nervenanfalls bei Varnhagen darzustellen und zu analysieren.
Rahel Varnhagen und ihre Korrespondenz:
Ein Überblick
Die Prominenz der jüdisch-deutschen Intellektuellen Rahel Varnhagen, die auch unter den Namen Rahel Levin oder Rahel Robert bekannt ist, in der Korrespondenz ihrer Zeit ist unbestreitbar. Ihr Ansehen gründet sowohl auf der Qualität als auch der Anzahl ihrer Briefe. Bis dato sind über 6000 dieser Schriftstücke bekannt, in denen sie mit etwa 300 Adressaten in Kontakt stand (vgl. Trejnowska-Supranowicz 2011: 303). Dieser Kreis umfasste vor allem einflussreiche Persönlichkeiten des deutschen Kulturlebens, wie etwa Wilhelm von Humboldt, Achim von Arnim, Heinrich Heine und Jean Paul. Ihr prominentestes Werk ist die Briefsammlung ‚Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde‘, das im Jahr 1834 posthum veröffentlicht wurde. In ihrer Rolle als Intellektuelle und Schriftstellerin spielte Rahel Varnhagen eine maßgebliche Rolle bei der Gestaltung der Ideen der deutschen Romantik. Sie war unmittelbar mit dem Geist dieser Ära verknüpft, die sich durch eine nachdrückliche Betonung von Emotionen, Individualität, Vorstellungskraft sowie dem Streben nach der Verkörperung innerer Wahrheit und Authentizität auszeichnete. Die literarische Brillanz der Briefe ist in hohem Maße den Prinzipien der romantischen Briefkultur zu verdanken. Die Romantik befreite den Brief von rein praktischen Verpflichtungen und eröffnete dem Schreiben Raum für Selbsterkundung und poetische Experimente. In der Fachliteratur wird Varnhagen nicht selten als „Revolutionärin des Briefes“ bezeichnet (vgl. Dampc-Jarosz 2010: 14). Trotz der begeisterten Aufnahme ihrer Briefwerke verzichtete Varnhagen beharrlich darauf, in der Öffentlichkeit als Autorin in Erscheinung zu treten. Durch ihre bewusste Distanzierung von den Strukturen des von Männern geprägten Literaturbetriebs erscheint sie oft als Autorin ohne formales Œuvre. Die Briefe von Rahel Varnhagen stellen eine unschätzbare Quelle von Informationen über ihren Gesundheitszustand dar, insbesondere im Hinblick auf ihr Leiden an verschiedenen gesundheitlichen Störungen, zu denen auch Nervenprobleme gehörten. Dabei gelang es Varnhagen, nicht nur über ihre körperlichen Beschwerden zu berichten, sondern auch über ihre emotionalen Empfindungen, Spannungen und inneren Unruhen, die häufig mit ihrer Krankheit einhergingen.
Die Nerven als Schlüsselstruktur: Medizinischer Diskurs der Romantik
Die Briefe von Rahel Varnhagen heben insbesondere die Bedeutung von Sensibilität und Krankheit hervor, zwei Themen, die eng mit den medizinischen Ideen ihrer Zeit verwoben sind. In der Romantik standen die Nerven im Mittelpunkt der medizinischen Diskussion. Sie galten nicht nur als zentrale Struktur des Körpers, die die Körperfunktionen steuerte, sondern auch als Bindeglied zwischen Körper, Geist und Seele. Diese Sichtweise führte dazu, den Menschen als eine Einheit zu betrachten, in der Körper und Psyche miteinander verbunden sind. In dieser Zeit beruhte die Bedeutung der Nerven auf empirischer Evidenz. 1743 gelang es Albrecht von Haller, die entscheidende Rolle der Nerven im Funktionieren des Körpers zu etablieren. Sie wurden als Strukturen identifiziert, die äußere Reize wahrnehmen, interne Signale weiterleiten und für jede Muskelbewegung verantwortlich sind. Diese Erkenntnisse bildeten die Grundlage für die berühmten Experimente von Luigi Galvani und flossen ebenso in die romantische Medizin ein, die sich stark von den Schriften Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings inspirieren ließ. Diese Schriften betonten die Bedeutung der Elektrizität und ihrer Wirkung auf den Körper. Diese Forschungen waren von Bedeutung nicht nur für Medizin und Physiologie, sondern auch für Kultur und Literatur. Die Experimente weckten das Interesse an der Natur des Lebens und des Todes sowie an der Rolle von Seele und Körper und deren Verbindung (vgl. Corbin / Courtine / Vigarello 2020: 38). Die Nerven wurden als entscheidendes Element der menschlichen Psyche, Emotionen und Kreativität betrachtet, sowie als Quelle von Krankheiten und Leiden. Der in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts hochgeschätzte Diskurs über Sensibilität bezog sich in vielen Aspekten auf das neurologische Modell des Körpers. Die Empfindsamkeit wurde mit der Feinheit der Nerven begründet. Die zeitgenössische medizinische Sichtweise führte nahezu sämtliche Krankheitszustände auf die Beschaffenheit der Nerven zurück, sei es durch deren Überreizung oder Verminderung der Aktivität. In naturwissenschaftlichen und medizinischen Schriften dieser Zeit spielten Begriffe wie „Irritabilität“, „Empfindlichkeit“ und „Sensibilität“ eine herausragende Rolle, da sie sowohl die Nerven als auch die Muskeln stimulierten. Im 19. Jahrhundert vollzog sich in der Medizin ein Paradigmenwechsel in der Auffassung von Nervenkrankheiten. Durch die fortschreitende Präzisierung im Verständnis der Nervenfunktion erlangten Mediziner die Fähigkeit, eine Vielzahl von Krankheitsbildern, die zuvor womöglich nicht eindeutig zugeordnet werden konnten, nunmehr exakt zu diagnostizieren und zu systematisieren. In diesem Zusammenhang etablierte sich u. a. der Begriff Nervenfieber als Bezeichnung für eine Vielzahl von Krankheitsbildern, die mit nervösen Symptomen einhergehen (vgl. Bartels 1837: VII–XI). In der Korrespondenz Rahel Varnhagens findet sich eine reichhaltige Sammlung von ausführlichen Beschreibungen dieser Beschwerden.
Die sprachliche Charakteristik der medizinischen Schriften dieser Zeit wird von Katarzyna Jaśtal ausführlich beschrieben.
Wenden sich medizinische Texte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh.s der Beschaffenheit des Nervensystems, bzw. der „Nervenfibern“ zu, operieren sie mit Attributen „schwach“, „zart“, „delicat“, „empfindlich“, „schlaff“, „erschöpft“, bzw. „stark“, „robust“. Wird die Einwirkung eines Stimulus auf das Nervensystem beschrieben, heißt es, die Nerven würden „gereizt“, „erregt“, „irritiert“, „afficiert“. In der Folge kommt es zu „Anstrengung“, „Anspannung“, bzw. „Über(an)spannung“ oder „Überreizung“, die zu „Zuckungen“, „Krämpfen“ oder gar „Convulsionen“ führen können (Jaśtal 2009: 59).
Nerven in der Korrespondenz Rahel Varnhagens
In dem Zeitraum um 1800 waren nervöse Erkrankungen die häufigste Form gesundheitlicher Beeinträchtigung. Die breite Verwendung des Begriffs Nervenleiden in dieser Epoche spiegelte die Schwierigkeiten der Ärzte wider, diese vielfältigen Symptome in enge medizinische Kategorien einzuordnen. Die zeitgenössische medizinische Gemeinschaft konzentrierte sich stark auf die Erforschung des Nervensystems und seiner Rolle bei der Entstehung von Krankheiten. Solche Nervenprobleme wurden als vielschichtig betrachtet, da sie eine breite Palette von körperlichen und geistigen Symptomen umfassten. Anhand eines exemplarischen Briefes Rahel Varnhagens vom 15. Dezember 1811 wird deutlich, wie eng ihre Beschreibungen von körperlichen und seelischen Zuständen mit dem medizinischen Diskurs ihrer Zeit verbunden sind. In diesem Brief schildert sie einen Nervenanfall von bisher ungekannter Intensität. Ihre detaillierte Beschreibung der körperlichen Symptome, begleitet von emotionalen Zuständen wie Angst und Erschöpfung, offenbart eine enge Verbindung zur zeitgenössischen Medizin:
Donnerstag vor acht Tagen bekam ich Nervenanfälle, wie ich sie nie hatte. Zittern und Dröhnen im höchsten Grade: ich wurde gehalten, sprach im Anfang unaufhörlich; von halb 10 ging’s an (…). Oft konnt ich nichts sprechen, mein Gesicht grimassirte. Ich rief nach dir: und in Augenblicken, wo mir Zunge und Gaumen kalt wurden, und das Gehirn aufhören wollte, dacht’ ich zu sterben. Ohne Angst. Vorher in der Nervenangst hatte ich gräßliche: aber noch nicht solche, wie ich schon genossen habe (…). Als Line weg war, kam das Dröhnen auf’s Äußerste! Die Zunge wurde nach einiger Neigung zum Erbrechen – welches wohl an vierzehnmal geschah – ganz kalt; Zittern und Dröhnen hörten plötzlich auf; ich ward wie müde: glaubte, so stirbt man. (…) gegen 7 schlief ich ein. Den ganzen Tag schlief ich krankhaft, mit einem Nebel um’s Gehirn; ich trank schwarzen starken Kaffee um es zu bändigen; kam in Agitation; heilte mich langsam mit Stilliegen und Limonade. Töne konnt’ ich nicht ertragen. Lesen, Töne und Schreiben noch schwer (Varnhagen von Ense 2015: 455f.).[^1 Rahel Varnhagen von Ense an Karl August Varnhagen, Brief v. 15.12.1811.]
Diese Passage zeigt die intensive Auseinandersetzung der Autorin mit einer nervlichen Erkrankung. Sie bedient sich detaillierter Beschreibungen der körperlichen Symptome wie Zittern, Grimassieren, d. h. Verkrampfen des Gesichts, gestörtes Temperaturempfinden, Geräuschempfindlichkeit und Übelkeit. Gleichzeitig vermittelt sie Zustände wie Angst und Erschöpfung. Die Autorin verwendet Adjektive wie „gräßlich“ und „krankhaft“, um die Schwere der nervösen Symptome zu unterstreichen. Auch nach dem Abklingen der Symptome ist der Zustand nicht befriedigend. Es wird festgestellt, dass die Verfasserin keine Geräusche erträgt und Schwierigkeiten beim Lesen, Hören und Schreiben hat. Dies deutet darauf hin, dass sie an einer Übererregung oder einer eingeschränkten kognitiven Funktion leidet. Die Autorin hat das Gefühl, dass ihr Körper und ihr Geist kaum noch funktionsfähig sind. Die Beschreibung von Kältegefühlen an Zunge und Gaumen deutet auf eine gestörte Wahrnehmung hin. Die Autorin macht sich Gedanken über die Funktion des Gehirns, des neurologischen Zentrums des Körpers. Es scheint, dass die Verfasserin mit einer bisher unbekannten Intensität der Beschwerden und einer Art nervöser Angst konfrontiert ist. Das Gefühl der Todesnähe wird in der Passage zweimal betont, was den Verlust der Lebenskraft während der Anfälle implizieren kann. Sie schläft lange, aber krankhaft und „mit einem Nebel um’s Gehirn“. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie an einer Art Erschöpfungszustand oder psychischem Stress leidet, der zu starker Schläfrigkeit führt. Es wird angegeben, dass sie schwarzen, starken Kaffee trinkt, um dieser Müdigkeit entgegenzuwirken. Die Verwendung von Kaffee als Nervenstimulans kann auf den Versuch hindeuten, die geistige Wachheit und Konzentration wiederherzustellen, möglicherweise um wieder schreiben zu können. Aufgrund früherer Erfahrungen mit nervösen Anfällen versucht die Autorin, die Homöostase, d. h. das Gleichgewicht der physiologischen Körperfunktionen, zu erreichen.
Wie sich der Zustand ihrer Nerven auf ihren Alltag auswirkte, wird in vielen Briefen Rahels deutlich. Immer wieder schildert Rahel Varnhagen Situationen, in denen sich ihr physisches Leiden auf ihren seelischen Zustand auswirkte und umgekehrt. Die Zusammenhänge zwischen dem Nervenapparat und dem Schreiben sind komplex und können sowohl auf die produktiven als auch auf die funktionalen Aspekte des Schreibens bezogen werden. Die nervlich bedingte Schreibunfähigkeit wirkte sich auch auf ihren Schreibstil aus. Sehr häufig werden verschiedene Nervenmetaphern verwendet, z. B: „Kein Wunder der Nerven“ (Varnhagen von Ense 2011: 93).[^2 Rahel Varnhagen von Ense an Karl August Varnhagen, Brief v. 28.3.1814.] In den Phasen, in denen ihre Nerven in Aufruhr waren, kann man beobachten, dass ihre Texte an Intensität und Emotionalität gewinnen. Möglicherweise griff sie auf eine reichere Sprache und tiefere Gefühle zurück, um die inneren Turbulenzen, die sie empfand, zum Ausdruck zu bringen.
Schlussfolgerungen
Die Untersuchung der Briefe Rahel Varnhagens bietet einen erhellenden Einblick in die Verknüpfung von Körpererfahrungen mit dem medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts. Die präzisen Schilderungen von Nervenleiden und deren Verbindung zur Sensibilität und Krankheit bieten einen einzigartigen Einblick in die literarische Produktion dieser Epoche. Dieses Werk wirft ein neues Licht auf die Art und Weise, wie Schriftstellerinnen und Schriftsteller jener Zeit ihre körperlichen Empfindungen in ihre Werke integrierten und sie als Medium für Ausdruck und Selbstreflexion nutzten. Die Briefe Rahel Varnhagens ermöglichen somit nicht nur eine differenzierte Sicht auf ihr eigenes Leben und ihre Gesundheit, sondern auch auf das kulturelle Umfeld, in dem sie agierte. Ihre Beschreibungen von Nervenleiden reichen über schlichte medizinische Berichte hinaus – sie sind zugleich literarische Artefakte, die tiefe Einblicke in die Psyche der Autorin gewähren. Dabei verdeutlichen sie, wie stark die damalige Medizin und der literarische Diskurs miteinander verknüpft waren. Die umfassende Analyse dieser Briefe verspricht weiterführende Erkenntnisse über dieses bedeutende Werk des 19. Jahrhunderts und die Wechselwirkungen zwischen dem medizinischen Diskurs und der Briefkultur dieser Ära. Es bietet einen reichen Schatz an Informationen nicht nur für Literaturhistoriker, sondern auch für Medizinhistoriker, die an der Verbindung zwischen Körpererfahrungen und der damaligen medizinischen Denkweise interessiert sind.