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Beitrag 7

Hierarchie­dynamik im ‚Salomon und Markolf‘[^* Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Seminars „Salomon und Markolf“ bei Prof. Dr. Sabine Griese und in der Auseinandersetzung mit der Vorlesungsreihe „Figuren des Widerstands“. Die Ausarbeitung des Hierarchiegedankens beruht auf den tiefgründigen und spannenden Diskussionen des Seminars, in welchem die Widerständigkeit Markolfs aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wurde.]

Raphael Toth (Universität Leipzig)

1.

Dynamik und Statik sind Gegensätze. Während der eine Begriff einen festen, klaren, zeitlich wie räumlich unveränderten Zustand beschreibt, steht die Dynamik sinnbildlich für die Begriffsbilder Bewegung, Fluss, Veränderung. Dynamik beschreibt somit eine zeitliche Veränderung eines Zustandes. Wendet man dies auf einen Text an, können Veränderungen in einem spezifischen Bereich dadurch genau beschrieben werden.

Der Bereich, der dynamisch betrachtet werden soll, ist in diesem Vortrag die Hierarchie im Spruchgedicht ‚Salomon und Markolf‘. Die Entstehung dieses Komplexes ist ins 12. und 13. Jahrhundert rückverfolgbar (vgl. Griese 1999: 3) Die vorliegende und genutzte Textausgabe (Hartmann 1934) beruht auf handschriftlichen Textzeugen des 15. Jahrhunderts.

2.

Nicht nur überzeugte Fans von mittelalterlich angehauchten Serien wie ‚Game of Thrones‘, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit ein großer Teil der Menschen haben ein Bild vor Augen, wenn über Konventionen und Rituale einer längst vergangenen – und doch in vielerlei Hinsicht noch sehr aktuellen – Zeit gesprochen wird: dem Mittelalter der Könige, Ritter, der Kirche und der Mönchsorden, der Fehden, der Burgen, der Handschriften auf Pergament oder auf Papier mit Wasserzeichen. Konventionen und Rituale, die sich häufig in fest ablaufenden Mustern zeigen.

Das Herantreten an eine Person mit Macht, wie es beispielsweise häufig ein König sein könnte, sei es der große Artus selbst oder der biblische Salomo, ist auch bis heute nur im Zusammenspiel mit einer Haltung der humilitas (der Demut) zu denken. Die Hierarchie ‚schwingt‘ nicht nur mit, sie bildet das Fundament von Konventionen. Konventionen, die sich in Anbetracht der heutigen Zeit zwar verändert haben, aber bei weitem nicht gänzlich verschwunden sind. Der Text versucht, anhand des Hierarchiebegriffs in der Einhaltung bzw. der expliziten Widersetzung gegenüber Konventionen Veränderungen in der wahrgenommenen Stellung der Akteure zu beobachten.

Gerd Althoff schreibt in seinem Buch ‚Die Macht der Rituale‘: „Im Bereich der mittelalterlichen Herrschaftsordnungen wurde die öffentliche Kommunikation von ritualisierten Formen des Umgangs untereinander geprägt“ (Althoff 2013: 199). Er geht sogar noch weiter: „Dieser Zwang zur Konformität des Verhaltens, der deshalb geradezu permanent gegeben war, war nur zu durchbrechen, wenn man sich dazu entschloss, fern zu bleiben oder zu stören.“ (ebd.)

3.

In unserem Spruchgedicht von Salomon und Markolf geht es um einen, der sich für das Stören entschieden hat, einen Störenfried, der sich dem Zwang zur Konformität widersetzt, der Bewegung in das statische Hierarchiegefälle bringt, eine Figur, die als Katalysator Herrschaftsdynamik herbeiführt. Dabei ist der Herausgeforderte nicht nur eine Randnotiz der menschlichen Geschichte. Der Herausgeforderte ist der biblische König Salomo, Sohn Davids, der Herrscher Israels über 40 Jahre, Erbauer des Tempels in Jerusalem, in unzähligen Kunstwerken als weiser und reicher Herrscher dargestellt.[^1 An dieser Stelle sei auf den Beitrag „Eine Autorität gerät ins Wanken“ von Prof. Sabine Griese hingewiesen, erschienen in „Die Bibel in der Kunst“ (2017), welcher König Salomo nicht nur als Herausgeforderten betrachtet, sondern regelrecht dessen Straucheln in der Auseinandersetzung mit Markolf darstellt, einer Figur der ständigen Provokation.] Sollte diese Aufzählung die Besonderheit dieses Herrschers noch nicht ausdrücklich gezeigt haben, steht im Alten Testament, dass der König Salomo mit einer solch großen Weisheit ausgestattet gewesen ist, dass kein Mensch vor oder nach ihm eine Weisheit gleichen Ausmaßes aufweisen kann. Im Ersten Buch der Könige spricht Gott zu Salomo: „Siehe, ich gebe dir ein weises und verständiges Herz, sodass deinesgleichen vor dir nicht gewesen ist und nach dir nicht aufkommen wird“ (1.Könige 3,12). All das ist tausende Jahre her und doch sollte angemerkt werden, dass auch in Krakau ein salomonischer Geist weiterhin weht. Zwischen dem Wawel und der Remuh-Synagoge liegt ein Vier-Sterne-Hotel, welches den Namen des eben erwähnten Königs trägt.

Dem mittelalterlichen Leser und vor allem dem mittelalterlichen Hörer ist der biblische König Salomo weit besser bekannt als uns heute. Somit ist es keineswegs verwunderlich, dass die Einführung der einen von zwei Figuren, von denen heute die Rede sein wird, kurz und knapp gehalten wird.

Hie vor ein richer herre was,

der gar geweldeclich besaz

in Israel des riches kron:

der was geheizen Salomon.

Er drug die kron bi sinen jaren.

Vil lande ime underdenig waren. (V. 19–24)

Innerhalb von sechs Versen wird der mächtigste König seiner Zeit eingeführt. Mehr werden auch nicht benötigt, da jedem klar ist, um wen es sich handelt. Mit der Erwähnung des Königs Salomo und seiner eindeutigen Bestimmung durch die Verortung als König von Israel wird auf ein Frame rekurriert, welches den mittelalterlichen Christen einen großen Deutungsspielraum gibt.

Salomo ist ein König, dessen Weisheit ein literarisch interessantes Vakuum neben sich schafft. König Saul besaß Samuel, König David Nathan als Richtungsweiser an expliziten Kreuzungen des Lebens. König Salomo kann eine solche Person nicht aufweisen. Belesene Personen würden eventuell auf die Königin von Saba hinweisen, diese greift aber in der biblischen Tradition nicht aktiv in die Lebensweise Salomos ein. Ein König, dessen Weisheit einmalig auf Erden ist und der trotzdem Gott immer stärker den Rücken kehrt, dabei aber niemanden hat, der ihn zurechtweisen kann, ist aus literarischer Perspektive eine Goldgrube (1. Könige 11, 4-13). Das Vakuum wird gefüllt mit einer Figur, die scheinbar in jeder Hinsicht dem König diametral entgegengesetzt werden kann.

4.

Nahezu das Achtfache an Beschreibung erhält Salomos Gegenspieler Markolf, als er am Anfang der Dichtung am Hofe Salomos mit seiner Frau auftritt. Dabei wurde aus Kulanz auf das Addieren der Stellen, an welcher alleine Markolfs Frau in zutiefst unkonventioneller, alle Grenzen der Höflichkeit sprengender, geradezu bösartiger und ekelhafter Manier beschrieben wird, verzichtet. Dabei wird kein Blatt vor den Mund genommen, keine Übertretung der Gürtellinie gescheut, jedwede Konventionen einer ‚Belletristik‘ über Bord geworfen.

Sine augen glichten wol dem struzen

Ein alt hengst von zwenzig muzen

enhette nit so lange zende;

korze finger, dicke hende,

die waren uzer mazen swarz. (V. 45–49)

Es würde gedacht werden, wenn der Erzähler es selbst nicht so vortrefflich auf den Punkt gebracht hätte: Sie waren iemerlich gestalt (V. 71).

Jämmerliche Gestalten, die am Hof auffallen, die für ein aufsehenerregendes Momentum sorgen. Dieses Gefühl, dass beide, Markolf und seine Frau, am falschen Ort sind, wird vor allem durch den Hierarchieabstand verstärkt. Es ist nicht irgendein Hof. Es ist der Hof des Königs Salomo. Und an eben diesen Hof kommen die hässlichsten Gestalten, die man sich vorstellen kann. Jeder Tiervergleich scheint angebracht, um diese Gestalten bildhaft greifen zu können, um sie in der Hierarchie ganz unten einzuordnen, tiefer noch als die Grenze der Menschheit es erlaubt.

5.

Die Hierarchie, welche an diesem Punkt den größten Abstand zwischen den beiden (Gegen-) Spielern beträgt, lässt sich an Gegenpaaren gut verdeutlichen, wobei die Darstellungen Markolfs dem Text entnommen sind, die Gegendarstellung Salomos hingegen auf den Grundkenntnissen der Hörerinnen und Hörer beruht: schwarz – weiß, dreckig – sauber, ekelerregend – rein, triebgesteuert – höflich / kontrolliert, arm – reich.

Man gerät in die Versuchung, diese Liste der Antonyme auszubauen, neigt sogar dazu, den Gegensatz dümmlich – klug aufzustellen, stolpert aber über die Eigenschaft Markolfs, gut klaffen (V. 86) zu können. Diese Gestalt – mehr Tier als Mensch – kann anscheinend ihr Maul aufreißen, sie kann sich artikulieren. Durch diese Information verringert sich der Abstand der Hierarchie um Haaresbreite – die bei Markolf dicker ausfallen dürfte als der höfische Durchschnitt. Es entsteht Dynamik in der Hierarchie.

In einem weiteren überzeugenden Beitrag von Althoff wird der schwierige Weg zum Ohr des Königs analysiert. Nur durch gratia oder über familiaritas war es möglich, in die unmittelbare Nähe des Königs zu kommen und den „Austausch“ zu finden (vgl. Althoff 2014: 197). Markolf benötigt beides nicht, zu versteinert scheint das Gefolge am Hof beim Anblick der beiden zu sein, zu widersprüchlich wirkt das Aussehen im Gegensatz zum deutlich erkennbaren Stolz des Bauern. Der Stolz Markolfs bzw. das Zutrauen dieses Bauern ermöglichen erst den Austausch zwischen zwei Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten. In salomonischer Manier übersieht der König das Aussehen und fordert Markolf erstmal auf, sich mit Namen und familiärer Herkunft auszuweisen. Versetzt man sich für einen Moment in die Rolle Markolfs und überlegt, wie man sich im besten Licht und in der Hoffnung auf ein offenes Ohr einem König vorstellen würde, ergibt die eigene Vorstellung des Handelns eine diametral entgegengesetzte Form zu der Art, wie Markolf sich präsentiert.

Er (Markolf) sprach: Du salt sagen an,

wer was din fader oder din an,

oder wan kommet dir diz geval,

daz man dich fochtet uber al? (V.123–126)

Markolf forciert Augenhöhe, er sprengt die festgelegte Hierarchie. Er leistet Ungehorsam, fordert den König Salomo heraus. Es birgt eine politische Sprengkraft, wenn der ungebetene Gast am Hof den Hausherren, der nebenbei König von Israel ist, auffordert, sich auszuweisen. Entgegen der Erwartung ist die bäuerliche Herkunft eine Tatsache, auf die er stolz ist.

Ich bin von den geburen.

Der ir swerte sulde schuren,

er endede iz nit in eime jare. (V.141–143)

6.

Innerhalb weniger Verse kippt die Hierarchie nahezu, da sich Markolf in großen Schritten der hierarchischen Höhe des Königs nähert. Einzig und allein die Ruhe des Königs, sein sichtbares Interesse an dieser merkwürdigen Figur, seine durch Prägnanz und Ausgeglichenheit geprägte Haltung bewahrt im Sinne der Dynamik das Kippen der Hierarchie. König Salomo bleibt vorerst unantastbar, so sehr dieser merkwürdig schlaue Bauer auch rebelliert. Die Hierarchie wird aber auch von Salomo deutlich ausgesprochen, indem er Markolf zum reichen Mann machen möchte, wenn dieser seine Fragen beantworten kann. Es gibt einen Geber und es gibt einen Nehmer und somit auch ein Gefälle.

Diese Hierarchieaussage, welche von Salomo ausgesprochen wird, hindert Markolf nicht, provokant den ‚schlechter sprechenden‘ der beiden aufzufordern, mit dem ‚Disputieren‘ zu beginnen. Dabei steht es für Markolf außer Frage, dass Salomo der ist, welcher schlechter diskutiert.

Der ubel singet, der singe an!

Also du du und kom dar van! (V. 175–176)

Der Spruchstreit, welcher durch die provokante Aufforderung des Markolf beginnt, als Stichomythie über mehrere hundert Verse verfasst, ist von zwei sich scheinbar widersprechenden Eigenschaften geprägt. Auf eine salomonische Aussage, welche häufig auch im Wortlaut auf das Alte Testament (vielfach auf die Sprüche) rekurriert, folgt eine bauernschlaue, im Normalfall unter der Gürtellinie angelegte Antwort. Markolfs Antworten wirken vulgär, gefährlich und unangebracht. Dennoch treffen sich die beiden Aussagen häufig, da Markolf auf seine Art die Aussage des Salomo deutet, umdeutet und häufig auch umkehrt. Der Sprachgebrauch des einen ist geprägt von moralischen Begriffen und Ideen, von der guten, höfischen Art zu leben, während der Sprachgebrauch des anderen geprägt vom bäuerlichen Leben, von den alltäglichen Arbeiten und den Misthaufen, mit denen man zu tun hat, geprägt ist. Zwei sehr unterschiedliche Begriffswelten treffen aufeinander und behandeln im Kern häufig das gleiche Thema. Dabei ist die beeindruckende Leistung des Markolf, zum einen dem König auf Augenhöhe zu begegnen trotz der unterschiedlich erzeugten Bilder, zum anderen führen Markolfs Aussagen häufig die von Salomon ausgesprochenen Ideale in die reale Welt ein. Markolf zeigt im Vergleich mit Salomo Lebensnähe, zugleich aber auch Witz, Intelligenz und eine zügellose Direktheit. Auf verschiedensten Ebenen kann dieser Spruchstreit auch als Widerstand gegen den Souverän gelesen werden. Ein Beispiel für einen Wortwechsel zwischen den beiden (Gegen-)Spielern ist folgender:

Sal. Win brenget unkuscheit:

Wer drunken ist, der stiftet leit.

Mar. Den armen machet rich der win.

Des solde er alle zit drunken sin. (V. 249–252)

Markolf besiegt Salomo im Spruchstreit und dieser belohnt ihn dafür. Meiner Ansicht nach ist die Hierarchie am Ende dieses ersten Teiles noch immer nicht gekippt, da Salomo seiner Position und Rolle treu bleibt. Erst in späteren Momenten der Handlung wirkt der König immer gereizter, er wird unruhig, lässt sich von Markolf immer wieder herausfordern und verliert an Ansehen. Er droht Markolf häufig mit dem Tod, verurteilt diesen sogar, doch Markolf findet immer einen Weg, seine Haut zu retten. Er soll gehängt werden, bittet aber darum, den Baum selbst auswählen zu dürfen. Wie man sich vorstellen kann, gibt es an jedem Baum etwas auszusetzen.

7.

Vor allem in den weiteren Teilen und den verschiedenen Enden der Konstellation Salomon-Markolf könnte die Analyse des Hierarchieverhältnisses gute Einblicke bieten, den grundlegendenden Fragen des Textes auf die Spur zu kommen. Welches Ziel verfolgt Markolf? Ist er ein Widerständler, ein eigennütziger Bauer, ein Störenfried, ein Bajazzo oder ein verkappter Prophet? Kann oder sollte sogar der Text als eine Provokation gegen die mittelalterliche Hierarchie gelesen werden, vielleicht auch im Sinne einer missverstandenen Zweisprachigkeit?

Den Ansatz, die Beweglichkeit in einer häufig als statisch und unveränderlich wahrgenommenen Gesellschaft, die sich in der Literatur widerspiegelt, zu analysieren, würde ich gerne weiter vertiefen. Auch im Komplex ‚Aristoteles und Phyllis‘ oder im kürzeren Format bei den Mären des Strickers glaube ich, dass sich die Beobachtung der Hierarchie als nützlich erweisen kann, dabei vor allem die der zeitlichen Veränderung, der Dynamik.

Primärliteratur

  • Hartmann, Walter (Hg.). 1934. Salomon und Markolf: Das Spruchgedicht. Halle / Saale: Max Niemeyer Verlag.
  • Deutsche Bibelgesellschaft (Hg.). 2016. Die Bibel: Lutherübersetzung. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft.

Sekundärliteratur

  • Griese, Sabine. 1999. Salomon und Markolf: Ein literarischer Komplex im Mittelalter und in der frühen Neuzeit: Studien zu Überlieferung und Interpretation. Tübingen: Max Niemeyer ­Verlag.
  • Griese, Sabine. 2017. Eine Autorität gerät ins Wanken. Markolfs Worte und Taten gegen Salomon in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. in Die Bibel in der Kunst. (Hrsg.) Burnet, Regis. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft.
  • Althoff, Gerd. 2013. Die Macht der Rituale. Darmstadt: Wissenschaftliche Buch­gesellschaft.
  • Althoff, Gerd. 2014. Spielregeln der Politik im Mittelalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

  • Toth, Raphael. 2024. Hierarchiedynamik im ‚Salomon und Markolf‘. In Franke, Sebastian; Klemm, Anna Luise; Krabi, Richard; Toth, Raphael; Zajac, Wojciech (Hgg.), Studieren und Promovieren in Krakau und Leipzig: Beiträge der Sommerschule 2023. 7–9. Leipzig (text­dynamiken 3).
Aktuelles Projekt-Archiv Online-Journal Team