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Beitrag 8

Gellerts ‚Gedanken‘ und die ‚Freundschaft­lichen Briefe‘ Gleims[^* Der vorliegende Beitrag stellt die Vorstudie zu der im November 2023 an der Universität Leipzig abgegebenen Masterarbeit mit dem Titel ‚Christian Fürchtegott Gellert und die Briefkultur um 1750‘ dar.]

Sebastian Franke (Universität Leipzig)

Für die bürgerliche Briefkultur erwies sich die Mitte des 18. Jahrhunderts als eine außerordentlich produktive Zeit, in der zudem eine lange historische Entwicklung der Regel-Epistolographie zu ihrem Ende geführt wurde. In beeindruckender Ähnlichkeit ihrer Stoßrichtung erschienen 1751 gleich drei Briefsteller (d. h. Lehrbücher über das Verfassen von Briefen), die zu einer einschneidenden Briefreform beitrugen. Bei den fraglichen Texten handelt es sich um Johann Christoph Stockhausens ‚Grundsätze wohleingerichteter Briefe‘, Christian Fürchtegott Gellerts ‚Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen‘ und Johann Wilhelm Schauberts ‚Anweisung zur Regelmäßigen Abfassung Teutscher Briefe‘ (vgl. Nickisch 1969: 161f.). Die genannten Texte eint, dass sie sich dezidiert vom strengen, förmlichen Briefzeremoniell, samt dem dazugehörigen System rhetorischer Vorschriften und Dispositionsschemata, ihrer barocken Vorgänger distanzierten und entscheidende Impulse zur Entrhetorisierung des Briefes (vgl. Golz 1997: 251; Furger 2010: 21) und der damit verbundenen Emanzipation des modernen Privatbriefes setzten (vgl. Nickisch 1969: 58).

Die grobe Tendenz in der Brieflehre von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. Jahrhundert ließe sich wie folgt charakterisieren: Die Stillehre wandelt sich, ausgehend von einer zeremoniell-formelhaften Ausdrucksweise, über einen galanten Stil um die Jahrhundertwende hin zur Durchsetzung eines stärker dem Ideal der ‚Natürlichkeit‘ verpflichteten gesprächsmimetischen Schreibgebarens um die Mitte des 18. Jahrhunderts (vgl. Furger 2010: 22; Vellusig 2000: 86–92).

Während die barocke Epistolographie also geprägt ist von konventionellen Verhaltensnormen, die in ihrem System der Abstufungen für Titulaturen, Einleitungs-, Bitt-, Gruß- und Schlussformeln etc. die hierarchischen Verhältnisse ihrer Zeit differenziert zum Ausdruck bringen, grenzt sich die aufklärerisch-empfindsame Epistolographie Gellerts, die nicht nur neuen Stilidealen, sondern neuen moralisch-ästhetischen Lebensidealen verpflichtet ist, deutlich davon ab (vgl. Arto-Haumacher 1995: 31).

1742 erschienen bereits Gellerts ‚Gedanken von einem guten deutschen Briefe, an den Herrn F. H. v. W.‘ in der Zeitschrift ‚Belustigungen des Verstandes und des Witzes‘ (vgl. Schönborn 2020: 894), an der Gellert von 1741 bis 1745 mitarbeitete (vgl. John u. a. 1990: 13). Gellert hat für diesen Text die Form des Briefes gewählt; Gegenstand und Form der Darstellung fallen hier also zusammen, daher kann analog zu dem aus der Essayforschung geläufigen Begriff des Meta-Essays hier von einem Meta-Brief gesprochen werden (vgl. Bognár 2017: 169–175). Der Verfasser stellt darin theoretische Forderungen an einen guten Brief auf, gibt aber mit seinem Brief selbst ein praktisches Beispiel davon, wie ein solcher aussehen könne. Zudem merkt er bei der Gelegenheit kritisch an, dass es an tauglichen praktischen Beispielen in deutscher Sprache immer noch fehle, derweil doch bereits in größerer Zahl aus verschiedenen Sprachen Briefsammlungen vorlägen, in denen eine gepflegt-‚natürliche‘ Schreibart anzutreffen sei (vgl. ‚Gedanken‘, S. 181).[^1 Der Text wird im Folgenden zitiert nach Gellert ‚Gedanken‘ 1971.] Als ein sehr prominentes Beispiel wären hier etwa die von Gellert einige Jahre später in seiner ‚Praktische Abhandlung‘ explizit gelobten Briefe der Madame de Sévigné zu nennen, deren Lektüre er seinen Leser:innen anempfiehlt
(vgl.‚Praktische Abhandlung‘, S. 67).[^2 Der Text wird im Folgenden zitiert nach Gellert, ‚Briefe‘ 1971.] Ihre Briefe wurden im 18. Jahrhundert begeistert rezipiert und trugen bahnbrechend dazu bei, den modernen Brief als literarische Gattung zu etablieren (vgl. Becker-Cantarino 2003: 133). Den Briefen der Sévigné ist von Treskow eine ‚Als-ob-Natürlichkeit‘ attestiert worden, sie zeichnen sich durch eine, dem Eindruck nach, spontane und nachlässige Schreibart aus, sie führen ein kunstvolles Verbergen ihres Kunstcharakters vor und genau das wird sicherlich auch für Gellert diese Briefe besonders attraktiv gemacht haben (vgl. Treskow 1996: 587).

Aufsehenerregend sind die Briefe der Sévigné fraglos besonders wegen des dort gebotenen feudalen ‚Flurfunks‘, darüber hinaus tragen sie aber auch deutlich familial-­private Züge und geben Einblicke in die Lebenswelt einer Angehörigen des französischen Hochadels (vgl. Becker-Cantarino 2003: 133; Kittelmann 2020: 826). Auch Gleim verehrte die Briefe der Sévigné sehr, sie galten ihm als den Liedern Anakreons ebenbürtig. Insbesondere Verfasser:innen empfindsamer Freundschaftsbriefe schätzten ihren Stil als für das eigene Schreiben vorbildhaft und 1765 riet sogar Friedrich II. in seiner Instruktion für die Berliner Ritterakademie zur Lektüre der Sévigné-Briefe (vgl. Kittelmann 2020: 829).

Aber zurück zu Gellert. Er zeigt durchaus, dass er um die publizierten deutschsprachigen Briefe, die auch seinen Ansprüchen genügen, weiß, wie sie „in dem Neukirch hin und wieder, in dem Patrioten, dem Biedermanne, den Tadlerinnen, dem Freymäurer und andern solchen klugen Blättern […] anzutreffen sind: Allein dieses sind einzelne Blumen, wobey man lange suchen muß, ehe man einen ganzen Straus winden kann“ (‚Gedanken‘, S. 181).

Nur wenige Jahre nachdem Gellert diese Worte niedergeschrieben hat, hat Johann Wilhelm Ludwig Gleim im Verbund mit einigen Freunden eine Sammlung von sechzig Briefen vorgelegt, die effektiv etwas an dem von Gellert monierten Umstand änderte. Dazu kam es wie folgt: Da Gleims vormaliger Arbeitgeber Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Schwedt, für den er als Sekretär gearbeitet hatte, 1744 bei der Belagerung von Prag fiel, musste Gleim sich nach einer neuen Anstellung umsehen, so verschlug es ihn nach Halberstadt. Gleim war dort räumlich isoliert von den Künstler- und Gelehrtenkreisen der Universitäts- und Residenzstädte. Um den ersehnten Kontakt aber nicht gänzlich zu entbehren, bediente er sich naheliegenderweise des Briefes (vgl. Heinrich 2020: 914).

Um nun nicht nur bei dieser individuell-biographischen Ebene zu verharren, ist grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass das gesteigerte Bedürfnis des deutschen ­Bürgertums sich brieflich mitzuteilen im 18. Jahrhundert durch ökonomische und sozialgeschichtliche Prozesse zu erklären ist, denn schließlich nahm die ökonomische Bedeutung des Bürgertums merklich zu, was sich aber noch nicht in einer entsprechenden politischen Organisations- und Repräsentationsform niederschlug. Ihr wachsender ökonomischer Einfluss bewirkte aber ein gänzlich neues Bewusstsein für den eigenen Wert, es bewirkte, dass das bürgerliche Subjekt seine Empfindungen und Gedanken wichtiger und ernster nahm als je zuvor, es provozierte Selbstreflexion und Introspektion und dieses Bewusstsein suchte und fand im Medium Brief einen Kanal zur Artikulation, der es ­zugleich ermöglichte diesen Gefühlen und Gedanken einen bleibenden Ausdruck zu verleihen (vgl. Balet / Rebling 1979: 165f.; Nickisch 1991: 44). Habermas schreibt dazu:

Das 18. Jahrhundert wird nicht zufällig zu einem des Briefes; Briefe schreibend entfaltet sich das Individuum in seiner Subjektivität. […]. Im Zeitalter der Empfindsamkeit sind Briefe Behälter für die ‚Ergießung der Herzen‘ eher als für ‚kalte Nachrichten‘, die, wenn sie überhaupt erwähnt werden, der Entschuldigung bedürfen. Der Brief gilt, im zeitgenössischen Jargon, der Gellert so viel verdankt, als ‚Abdruck der Seele‘, als ein ‚Seelenbesuch‘; Briefe wollen mit Herzblut geschrieben, wollen geradezu geweint sein (Habermas 1990: 113).

Gleim und seine befreundeten Mitstreiter lieferten dafür ein frühes und bedeutendes Beispiel. Unter anderem aus Teilen seiner umfangreichen Briefkorrespondenzen ging 1746 die Sammlung ‚Freundschaftliche Briefe‘ hervor, die Gleim zusammen mit Samuel Gotthold Lange und Johann Georg Sulzer herausbrachte. Aufnahme in die anonym publizierte Sammlung fanden Teile aus den Korrespondenzen Gleims und Langes mit Sulzer, Ewald von Kleist, Catharina Wilhelmina Keusenhoff und Christian Nicolaus Naumann. Indem sie diese Briefe programmatisch als ‚freundschaftlich‘ ausweisen, unterstreichen sie den persönlich-vertrauten Charakter dieser – eben auch als exemplarisch zu verstehenden – Texte, in denen sich das anakreontische Ideal geselliger Freundschaft(lichkeit) materialisiert, und distanzieren sich damit zugleich von der umständlich-formelhaften Epistolographie der zünftigen Briefsteller. Heinrich erklärt sogar, dass der epistolographische Paradigmenwechsel, der für gewöhnlich auf 1751, als Jahr des Erscheinens von Gellerts ‚Praktischer Abhandlung‘, datiert wird, bedingt durch die konzeptionelle Nähe, die die ‚Freundschaftlichen Briefe‘, zu dieser aufweisen, vorzudatieren ist, denn schon die ‚Freundschaftlichen Briefe‘ wirkten in bahnbrechender Weise ein auf die Entwicklung von Briefstil und Literatursprache (vgl. Heinrich 2020: 915f.).

In ihrem Vorwort, das auch epistolographische Reflexionen enthält, machen Gleim und Lange deutlich, dass sie mit ihrer Sammlung andere zu derartigen Korrespondenzen animieren wollen, die zudem als Teil empfindsamer Lebenspraxis zu verstehen sind:

[…] wenn wir etwas beitragen, die Sprache des Herzens und der Vertraulichkeit, an statt der Sprache des Zwangs und der Schmeichelei, unter den Correspondenten […] einzuführen; wenn wir folglich unsere Absicht zu unserm gemeinschaftlichen Vergnügen erreichen; so wird uns die Gefälligkeit, womit wir unsern Briefwechsel […] bekannt machen, niemals gereuen (‚Freundschaftliche Briefe‘, Vorwort, S. 32f.).

Der in dieser Sammlung anzutreffende Stil zeichnet sich durch ungezwungene, beweglich-aufgeweckte Gesprächsnähe aus und überragt in dieser Hinsicht selbst die avanciertesten Musterstücke der bis zu diesem Zeitpunkt erschienenen deutschen ­Briefsteller. Wie von den Herausgebern intendiert, konnten sich von derlei freundschaftlichen Briefen dann wiederum auch andere Briefverfasser inspirieren lassen und somit ging eine den Stil weiter entkrampfende Wirkung von ihnen aus (vgl. Nickisch 1969: 161).

Ihre Briefe sind also befreit vom ökonomischen oder ständegesellschaftlich bedingten Zweckdenken, das die Musterbriefe der barocken Briefsteller bestimmte, stattdessen feiern sie das Selbstzweckhafte ihrer vertrauten Korrespondenzen und setzen im Kern das praktisch um, was Gellert bereits in seinen ‚Gedanken‘ skizzierte und was er dann einige Jahre darauf in größerer Ausführlichkeit in seiner ‚Praktischen Abhandlung‘ darlegen wird (vgl. Heinrich 2020: 915).

Schon in den ‚Gedanken‘ wendet sich Gellert gegen alle zuvor erschienenen Briefsteller, da sie „mit aller Gewalt gekünstelt schreiben lehren“ (‚Gedanken‘, S. 179). Weil es aus Gellerts Position heraus nötig war, sich gegen eine lange und mächtige epistolographische Tradition abzugrenzen, bestand seine Hauptaufgabe darin, seine Leserschaft dazu anzuleiten, das rhetorisch-steife Schreibgebaren zu verlernen (vgl. Vellusig 2000: 85). Er plädiert klar und nachdrücklich für einen ungezwungeneren, ‚natürlich‘ anmutenden Schreibstil (vgl. Nickisch 1969: 158f.) und richtet er sich gegen das Aufstellen von zu vielen Regeln beim Briefschreiben (vgl. Schönborn 2020: 894): „Nun werde ich Ihnen sagen sollen, welches ich denn für die besten Regeln halte. Ich antworte, die wenigsten. Oder daß ich genauer rede, ich glaube, daß die nöthigen Regeln zum Briefschreiben keine große Anzahl ausmachen“ (‚Gedanken‘, S. 182).

Wenn Gellert an den älteren Briefsteller kritisiert, dass sie lehren, gekünstelt zu schreiben, folgt daraus nicht, dass er für einen rigoros nachlässig-kunstlosen Stil plädieren würde, was sich schon an folgender Äußerung ablesen lässt: „Wodurch wird also ein Schreiben von […] der Rede unterschieden? […] durch gewisse äusserliche Eigenschaften, die wir der Kunst, dem Geschmacke und Gebrauche zu danken haben“ (‚Gedanken‘, S. 178). Schließlich habe man beim Briefschreiben auch schlichtweg „mehr Zeit zum Nachsinnen“ um „sorgfältiger, zierlicher, einnehmender“ zu formulieren und diese Zeit will und soll nach Gellert genutzt sein (‚Gedanken‘, S. 179).

Auch für die notwendige Übung ist Zeit aufzubringen. Gellert skizziert sogleich eine ihm gangbar erscheinende Methode: Statt Paragraphen zu pauken und erlernte Regeln gleichsam mechanisch zu applizieren, erscheint es Gellert als zweckdienlicher, sich an hochkarätigen Vorbildern, wie namentlich etwa Cicero, Plinius und Seneca zu schulen. Nicht zuletzt wird aus seinem methodischen Vorschlag ersichtlich, dass er den Wert lebendiger Erfahrung im Umgang mit Texten erkannt hat (vgl. Schönborn 2020: 894):

Die besten Regeln werden wohl diese seyn. Man lese die Briefe in fremden Sprachen. Man übersetze sie frey in das Deutsche. Man zergliedere die besten Stücke, und sehe, in welcher Ordnung sie ungefehr aufgesetzt sind. Man merke den Hauptinhalt von dem, der uns am besten gefällt, und mache in einigen Tagen einen nach, und sehe, ob man seinem Originale gleich gekommen, oder es wohl gar noch übertroffen hat. […] wer also gute Briefe will schreiben lernen, der braucht sich nicht an die Schulregeln zu binden (‚Gedanken‘, S. 183f.).

Zuvor machte Gellert schon deutlich, dass für ihn die bloße Kenntnis von Regeln noch keinen guten Briefschreiber mache, denn man könne alle möglichen Regeln beachten und anwenden und trotzdem schlechte Briefe produzieren, „wenn man nicht denken kann“ (‚Gedanken‘, S. 183). Daraus folgt im Umkehrschluss: „Wer gute Briefe schreiben will, der muß gut von einer Sache denken können“ (‚Gedanken‘, S. 184.). Nur: „Das Denken lehren uns alle Briefsteller nicht. Eine geübte Vernunft, eine lebhafte Vorstellungskraft, eine Kenntniß der Dinge, wovon man reden will, richten hier das meiste aus“ (‚Gedanken‘, S. 184). An Bemerkungen wie dieser wird evident, wie sich Gellert argumentativ distanziert von „einer Poetik der Regeln, wie sie noch Gottsched vertreten hatte“, demgegenüber etabliert er „eine Reflexionsebene, auf der die personale und darum poesienahe Dimension des Briefwechsels zur Diskussion steht“ (Vellusig 2000: 85).

Ganz im Geiste des anregenden freundschaftlich-lebendigen Austausches und Miteinanders empfiehlt Gellert dem Novizen im Briefschreiben, bei einem erfahreneren „Freund von Geschmacke“ kritische Unterstützung zu suchen, „der […] die besondern Fehler zeiget, die Lücken füllet, die Schreibart verbessert“ (‚Gedanken‘, S. 185), bis er sich schließlich selber zu helfen weiß.

Aus den obigen Zitaten wird ersichtlich, dass es ihm zufolge einer eigenen intellektuellen Leistung bedarf. Die Nachahmung zu Übungszwecken soll nicht starr und eng erfolgen, vielmehr diene das Vorbild als zu verinnerlichendes Grundmuster, aus dem sich, mit und durch die eigene Persönlichkeit, ein persönlich gefärbter Ausdruck formt, so ließe sich, in Anlehnung an Gellerts Definition des Briefes als „freye Nachahmung des guten Gesprächs“ (‚Praktische Abhandlung‘, S. 3), sagen, dass also auch die Nachahmung der Vorbilder eine freie sein soll. Es geht hier also nicht um das Anwenden von Schreibschablonen, sondern um einen intellektuellen Arbeits- bzw. Verarbeitungsprozess des Erwerbens, oder vielmehr des Aneignens, denn zu guter Letzt besteht die Aufgabe der Exempel darin, sich selbst überflüssig machen, sodass man sich nunmehr sicher und frei im eigenen Schreiben von ihnen lösen kann, wie er einige Jahre später auch in seiner ‚Praktischen Abhandlung‘ darlegen wird:

Wenn man endlich selbst Briefe schreiben will, so vergesse man die Exempel, um sie nicht knechtisch nachzuahmen, und folge seinem eignen Naturelle. Ein jeder hat eine gewisse Art zu denken und sich auszudrücken, die ihn von Andern unterscheidet. [. . .] wer seiner eignen Art zu denken nicht folgt, der benimmt sich das sicherste Mittel, dem Andern zu gefallen, und etwas neues zu sagen (‚Praktischen Abhandlung‘, S. 71f.).

Was an Gellerts Bemerkungen deutlich wird ist, dass seine anempfohlene Methode auf literarische Bildung setzt und darauf, auf ernste und genaue Tuchfühlung mit den Briefbeispielen zu gehen, wodurch der eigene Geschmack geschult und somit in seinen Urteilen sicherer wird und woraus dann idealiter eine gute eigene Schreibart erwachsen solle, die dann wiederum auch andere zu einer solchen inspiriert und ermuntert (vgl. Schönborn: 2020, 895):

So werden durch wenig gute Beispiele, die in ihrer Art vortrefflich sind, die richtigen Empfindungen des Natürlichen und Feinen in andern erweckt und unterhalten, und der gute Geschmack geht vom Freunde zum Freunde, vom Vater zum Sohne, von der vernünftigen Mutter zur Tochter fort, und wird der herrschende Geschmack (‚Praktischen Abhandlung‘, S. 119f.).

Primärliteratur

  • Gellert, Christian Fürchtegott. 1971. Gedanken von einem guten deutschen ­Briefe, an den Herrn F. H. v. W. In Gellert, Christian Fürchtegott, Die epistolographischen Schriften: Faksimiledruck nach den Ausgaben von 1742 und 1751, hg. Paul Böckmann / Friedrich Sengle. Stuttgart: Metzler.
  • Gellert, Christian Fürchtegott. 1971. Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In Gellert, Christian Fürchtegott, Die epistolographischen Schriften. Faksimiledruck nach den Ausgaben von 1742 und 1751, hg. Paul Böckmann / Friedrich Sengle. Stuttgart: Metzler.
  • Gleim, Johann Wilhelm Ludwig / Lange, Samuel Gotthold [Anonym]. 1990. Freundschaftliche Briefe: Vorwort 1746. In Ebrecht, Angelika u. a. (Hg.), Brieftheorie des 18. Jahrhunderts: Texte, Kommentare, Essays, S. 32–34. Stuttgart: Metzler.

Sekundärliteratur

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  • Balet, Leo / Rebling, Eberhard. 1979. Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. Dresden: Verlag der Kunst.
  • Becker-Cantarino, Barbara. 2003. Leben als Text: Briefe als Ausdrucks- und ­Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Gnüg, Hiltrud / Möhrmann, Renate (Hg.), Frauen Literatur Geschichte: Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, S. 129–146. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Bognár, Zsuzsa. 2017. ‚als Mischform verrufen‘: Der literarische Essay der Moderne, hg. Attila Bombitz u. Károly Csúri. Wien: Praesens.
  • Furger, Carmen. 2010. Briefsteller: Das Medium ‚Brief‘ im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln / Weimar / Wien: Böhlau.
  • Golz, Jochen. 1997. Art. Brief. In Weimar, Klaus u. a. (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. I, S. 251–255. Berlin / New York: De Gruyter.
  • Habermas, Jürgen. 1990. Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Heinrich, Tobias. 2020. Gleim und sein Kreis. In Matthews-Schlinzig, Marie Isabel u. a. (Hg.), Handbuch Brief: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, S. 914–925. Berlin / Boston: De Gruyter.
  • John, Heidi u. a. 1990. Gellerts Leben. Eine Übersicht. In Witte, Bernd (Hg.), Ein Lehrer der ganzen Nation: Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. S. 11–29. München: Fink.
  • Kittelmann, Jana. 2020. Madame de Sévigné und ihre Erb*innen.
    In Matthews-Schlinzig, Marie Isabel u. a. (Hg.), Handbuch Brief: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, S. 826–833. Berlin / Boston: De Gruyter.
  • Nickisch, Reinhard M. G. 1969. Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts: Mit einer Bibliographie zur Briefschreiblehre (1474–1800). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Nickisch, Reinhard M. G. 1991. Brief. Stuttgart: Metzler.
  • Schönborn, Sibylle. 2020. Gellert, Moritz und die Popularisierung der Brieftheorie. In Matthews-Schlinzig, Marie Isabel u. a. (Hg.), Handbuch Brief: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, S. 893–904. Berlin / Boston: De Gruyter.
  • Treskow, Isabella von. 1996. Der deutsche Briefstil Elisabeth Charlottes von der Pfalz und die ‚art épistolaire‘ Madame de Sévignés. Zeitschrift für Germanistik 6 (3). S. 584–595.
  • Vellusig, Robert. 2000. Schriftliche Gespräche: Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien / Köln / Weimar: Böhlau.

  • Franke, Sebastian. 2024. Gellerts ‚Gedanken‘ und die ‚Freundschaftlichen Briefe‘ Gleims. In Franke, Sebastian; Klemm, Anna Luise; Krabi, Richard; Toth, Raphael; Zajac, Wojciech (Hgg.), Studieren und Promovieren in Krakau und Leipzig: Beiträge der Sommerschule 2023. 7–9. Leipzig (text­dynamiken 3).
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