Einleitung
Das Textdynamiken-Projekt
Das Textdynamiken-Projekt ist eine vom DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) geförderte germanistische Institutspartnerschaft zwischen den Instituten für Germanistik der Universität Leipzig und der Jagiellonen-Universität Krakau. Es startete im Januar 2021, die Ursprünge liegen jedoch noch weiter in der Vergangenheit. Bereits seit geraumer Zeit besteht eine Partnerschaft zwischen den beiden Instituten und damit eine intensive Zusammenarbeit zwischen einzelnen Forschenden. Im Jahr 2019 keimte die Idee, daraus ein offizielles Projekt zu machen. Im Sommer 2020 wurde ein Projektantrag gestellt, der erfreulicherweise durch den DAAD bewilligt wurde. Unter der Leitung von Prof. Dr. Sabine Griese (Ältere deutsche Literatur), Dr. Stephanie Bremerich (Neuere deutsche Literatur), Prof. em. Dr. Frank Liedtke (Sprachwissenschaft) und Dr. Robert Mroczynski (Sprachwissenschaft) von Leipziger Seite und Prof. Dr. Zofia Berdychowska (Sprachwissenschaft), Prof. Dr. Katarzyna Jaśtal (Neuere deutsche Literatur), Dr. phil. habil. Magdalena Filar (Sprachwissenschaft) sowie Dr. phil. habil. Pawel Zarychta (Neuere deutsche Literatur) von der Krakauer Universität umfasst die Partnerschaft gemeinsame Lehr- und Forschungsprojekte, darunter Tutorien, Ringvorlesungen, Team-Teachings, Gastvorträge und nicht zuletzt die Sommerschule. Diese fand im Juli in Krakau statt, woraus auch dieses bereits dritte Online-Journal hervorgeht.
Durch die Vielzahl an Kooperationen haben Studierende, Promovierende und Lehrende die Möglichkeit, in direkten Austausch miteinander zu treten. Während der Sommerschule wurden unter anderem Projekte der Älteren deutschen Literatur, der Neueren deutschen Literatur und der germanistischen Sprachwissenschaft vorgestellt.
Der Begriff Textdynamiken wurde als Titel gewählt, weil das Phänomen der Dynamik sowohl in der Literatur- als auch in der Sprachwissenschaft und damit über die germanistischen Teilbereiche hinweg wahrgenommen werden kann. Textdynamiken bedeuten Veränderungen von Texten, aber auch Bewegungen, Fortschritt oder Wechsel innerhalb der Textstruktur. In den vielfältigen Beiträgen dieses Journals sind die verschiedenen Facetten des Begriffs besonders gut zu erkennen. Durch den Begriff Textdynamiken wird ein Raum geschaffen, in dem sich die zwei Bereiche treffen und gegenseitig durch Diskussion und Austausch bereichern können. Verschiedenste Texte von mittelalterlichen Historienbibeln über Briefe bis hin zu Werbetexten werden betrachtet und diskutiert, wobei der Fokus immer auf dynamischen Prozessen liegt. Dazu werden unterschiedliche Dimensionen untersucht, unter anderem die historische, die materielle, wie auch die kommunikative und ästhetische (es gab wohl kaum Teilnehmende, die nicht von den wunderschönen Zeichnungen und der makellosen Handschrift in dem Reisebericht der Herzogin Dorothea von Sagan begeistert waren).
Wie passt das Konzept der Textdynamiken in die Fachbereiche der Germanistik? In der Mediävistik kommen besonders viele textinterne Bewegungen und das Feld der medialen Übertragung vor. Vor der Erfindung des Buchdrucks mussten Texte handschriftlich vervielfältigt werden, wobei die Schreibenden die Texte häufig änderten und somit bei jeder Abschrift Varianten des ursprünglichen Textes entstanden. Gründe dafür sind beispielsweise, dass ein Schreibender die Handschrift des vorherigen Schreibenden nicht mehr gut lesen konnte, da sich über die Jahre auch die Art, bestimmte Buchstaben zu schreiben, wandeln konnte, oder dass schlicht Fehler beim Abschreiben passierten. Bevor die Texte zum ersten Mal niedergeschrieben wurden, waren sie meist nur mündlich überliefert, wobei sie mit jeder Überlieferung weiter verändert wurden. Durch die vielzähligen Veränderungen sind die Texte äußerst dynamisch, da jede Abschrift ein eigenes Werk darstellt.
Weiterhin wurde im Zusammenhang der Textdynamik über Thomas Manns Figurenkonzeption in seinem Frühwerk referiert. Die Protagonisten zeigen innerhalb ihrer Entwicklung im Rahmen der Novellen Bewegungs- sowie Stagnationsmotive auf. Auch in Briefen zeigt sich eine besondere Form der Textdynamik, denn Briefe verbinden Elemente der Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Außerdem erkennt ein geübtes Auge bei Briefen meist auf den ersten Blick, wie die Beziehung zwischen Sender und Empfänger aussah, denn die Art des gewählten Papiers, die Sauberkeit der Schrift sowie das Layout und die Breite des Randes zeigen an, ob Sender und Empfänger sich nahestehen oder eine Beziehung des Respekts zueinander haben.
Wie reiht sich jetzt die Sprachwissenschaft in die Textdynamiken ein? Man könnte denken, dass sich die Sprachwissenschaft nur mit gesprochener Sprache befasst, aber hier läge man falsch. Zum einen können Texte aus linguistischer Perspektive untersucht werden, zum anderen sind in der Gesprächslinguistik Transkripte aus der Arbeit nicht wegzudenken. Transkripte dienen dazu, ein Gespräch in allen Einzelheiten untersuchen zu können, woraus man zum Beispiel Erkenntnisse über die Funktionen bestimmter Partikeln gewinnen kann. Die Untersuchung von geschriebenen Texten hingegen beschäftigt sich unter anderem mit den Mechanismen, die die Lesenden einen Text überhaupt erst verstehen lassen und mit der Frage, was einen Text zu einem Text macht. Dabei stehen die gesprochene und geschriebene Sprache immer wieder miteinander im Wechselspiel, denn, wie bereits bei den Briefen erwähnt, gibt es Fälle, in denen Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufeinandertreffen und nicht klar abzugrenzen sind.
Die Sommerschule
Das Konzept einer Sommerschule mag nicht jeder und jedem geläufig sein, weswegen es für viele Teilnehmende regelrecht aufregend war, die Reise nach Krakau anzutreten. Waren zu Beginn noch nicht alle untereinander bekannt, gab es zum Ende der Woche ein starkes Gemeinschaftsgefühl, schließlich wurden die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen, teilweise das Zimmer, ein Teller oder die Vorliebe für den ein oder anderen Absacker miteinander geteilt. Auf Tagungen bilden sich Menschen vom Fach in ihrem oder einem anderen Fachgebiet durch Vorträge und Diskussionsrunden weiter. So auch in Krakau. Der Auftakt fand in einem wunderschönen Saal des Collegium Maius, dem ältesten Universitätsgebäude Krakaus, statt. Dabei bestand die Möglichkeit in großer Runde die verschiedenen Teilnehmenden kennenzulernen. In den folgenden Tagen bekamen wir dann auch inhaltliche Einblicke in die Arbeit verschiedener Dozierender, Promovierender und Studierender aus allen Fachbereichen der Germanistik. Hierbei wurde der Bogen von mittelalterlicher Handschriftenkunde über die Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zu Textverstehen in der Gegenwart gespannt. Denn die große Gemeinsamkeit aller Fachbereiche der Germanistik ist die Arbeit an und mit Texten.
Wie wichtig die Materialität für die Auseinandersetzung mit Texten ist und welche Faszination von den originalen Handschriften ausgeht, zeigte der Besuch der Jagiellonen-Bibliothek. Fragmente des ‚Nibelungenlieds‘ aus dem 13. Jahrhundert, die sich Gelehrte im 19. Jahrhundert für ihre Sammlung schenkten, begeisterten dabei genauso wie die schon zuvor erwähnten Reiseerinnerungen einer Gräfin. Es wurde intensiv über das Material, den Zustand, den Fundort, das Schriftbild, den Einband und vieles mehr diskutiert. Aber auch die Auseinandersetzung mit Literatur aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive kam nicht zu kurz. Dabei ging es immer wieder um Verstehensprozesse und wie diese in die Dynamik von Texten hineinspielen. Die Kaffeepausen mit Gebäck und Obst boten dann die Möglichkeit, sich mit anderen über das eben Gehörte auszutauschen oder bestimmte Rückfragen zu stellen. Die Vielfältigkeit an Themen, mit denen sich die Teilnehmenden der Sommerschule beschäftigen, zeigte sich dann auch in den Projektvorstellungen der Promovierenden und Studierenden. Besonders spannend wurde es, wenn Verbindungen zwischen verschiedenen Projekten festgestellt und gegenseitig von dem Wissen und den Gedanken profitiert werden konnte. Die Untersuchungen illustrierter Historienbibeln einer Schreiberwerkstatt des 15. Jahrhunderts warfen ebenso wie die Werke Judith Hermanns Fragen der Textdynamik auf. Die Untersuchung, wie junge Erwachsene in ihrer Freizeit Filme, Lieder und Eigenproduktionen synchronisieren (das sogenannte Fandubbing), wodurch eine andere, ungewohnte Textform entsteht, ließ sich ebenso gut diskutieren wie die Untersuchungen von Briefwechseln bekannter Wissenschaftler:innen und Literat:innen. Die letzten beiden Tage der Sommerschule bestanden dann weiterhin aus Vorträgen mit anschließender Diskussion – nun aber zum größten Teil von Studierenden in verschiedenen Phasen ihres Studiums. Mit den Beiträgen dieses Online-Journals erhalten die Studierenden und Promovierenden die Möglichkeit, ihre Forschungsarbeiten vorzustellen. Es lässt sich gut illustrieren, wie so eine Diskussionsrunde mit Vortrag aussieht. Die vortragende Person sitzt vor den in U-Form sitzenden Teilnehmenden und Interessierten aus Leipzig und Krakau. Anschließend folgt eine Frage- und Diskussionsrunde, die von wechselnden Teilnehmenden moderiert wird. Aufgabe der Moderation ist es, die Zeit und die Redebeiträge im Blick zu behalten, damit jede / r Vortragende die Möglichkeit bekommt, auf Rückfragen zu reagieren. Dabei steht der wissenschaftliche Austausch im Vordergrund. Es handelt sich nicht um eine Prüfungssituation, sondern um ein Gespräch, in dem alle Beteiligten von den Gedanken und dem Wissen der anderen profitieren sollen. Der konzentrierte und interessierte Austausch in einem solchen Rahmen ist ein wunderbarer Nährboden für neue Ideen, Methoden, Forschungsthemen oder Wissensbereiche. An die Referate schloss sich eine Gesprächsrunde an, in der die Lehrenden der verschiedenen Universitäten bereit waren, auf Fragen aller Art zu Studium, Promotion, wissenschaftlichem Arbeiten, aber auch Erfahrungen im Fach und dem Umgang mit Zweifeln, Schreibblockaden oder Sorgen einzugehen. Dass ein Austausch über Länder-, Sprach-, Fach-, Berufs- und Altersgrenzen hinweg stattfinden kann, war der Kerngedanke dieser Sommerschule.
Die Stadt Krakau und die Freizeitgestaltung
Krakau - eine Stadt voller Geschichte. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die einstige Hauptstadt des Königreichs Polen zu einem aufblühenden Kultur- und Wissenschaftszentrum. Von großer Bedeutung für die Entwicklung der Stadt war die Gründung der Krakauer Akademie im Jahr 1364, des Vorläufers der heutigen Jagiellonen-Universität, in deren Räumen die Teilnehmenden der Sommerschule beider Städte sich erstmals trafen. Dem Kennenlernen aller an der Sommerschule beteiligten Dozierenden, Promovierenden und Studierenden folgte ein Stadtrundgang. Unser Stadtführer Herr Dr. Michael Sobczak glänzte mit seinem Wissen über die Geschichte Krakaus und steckte uns mit seiner Liebe zu dieser Stadt an. Besonders in Erinnerung ist die Gründungslegende um Stammesfürst Krak geblieben, der die Stadt auf dem Wawelhügel und der darunterliegenden Drachenhöhle gründete, nachdem er den dort lebenden Drachen getötet hatte. Eine feuerspeiende Drachenstatue zeugt eindrucksvoll von diesem Mythos. Weitere Aspekte des Stadtrundgangs betrafen die zahlreichen Kunstepochen, von denen das Stadtbild Krakaus zeugt und die glücklichen Umstände auf Grund derer große Teile des historischen Baubestandes über die beiden Weltkriege hinaus erhalten geblieben sind.
Die Abende verbrachten wir oftmals in kleineren Gruppen, um gemeinsam zu essen, uns zu unterhalten und die Freizeit mit den neu kennengelernten Freunden zu genießen. Schnell haben wir in dieser Woche eine Gruppendynamik entwickelt. Gefördert wurde diese durch eine erste Mahlzeit zusammen mit den polnischen Studierenden in einem tollen Restaurant mit studentischen Preisen sowie durch das Kennenlernessen im Restaurant Kawaleria. Beide Essen waren geprägt von regen Gesprächen über das Leben und Studieren in Krakau und Leipzig. Neben den im Voraus geplanten Programmpunkten haben wir uns in manchmal größeren, manchmal kleineren Gruppen aufgemacht, die Kulturstadt Krakau zu entdecken. Dazu gehörte beispielsweise die Besichtigung der Marienkirche. Diese Basilica minor ist ein beeindruckendes Zeugnis gotischer Architektur und mit ihren zahlreichen Ausschmückungen sowie dem imponierenden Hochaltar besonders erstaunlich. Wir schätzten uns glücklich, pünktlich zur Mittagsstunde die Öffnung des prächtigen Altars miterleben zu dürfen. Zusätzlich zum Besuch anderer Kirchen und des jüdischen Viertels mit der alten Synagoge nutzten wir den letzten Tag der Reise, um die Fabrik des Oskar Schindler zu besuchen und das bedrückende Bild der damaligen Zeit und der Geschehnisse vor Ort wahrzunehmen. Als Abschluss der Woche verbrachten wir den letzten Abend als Leipziger Gruppe in einem Restaurant und anschließend in einer Bar, in der wir begleitet von Kartenspielen und Gesprächen die Woche ausklingen ließen. Zuvor haben wir uns mit unseren polnischen Kolleg:innen bei einem vorerst letzten gemeinsamen Essen über die Erlebnisse der vergangenen Woche ausgetauscht. Nach intensiven und erfahrungsreichen Tagen fuhren wir wieder zurück nach Leipzig. An dieser Stelle möchten wir voller Freude an die verschiedenen Referent:innen der Krakauer Sommerschule 2023 abgeben, die ihre Projekte und Forschungsergebnisse im Folgenden präsentieren werden.