E-Mail schreiben Zum Profil auf Instagram gehen
Beitrag 11

Dualistische Identität Figurenkon­zep­tionen in den frühen Novellen Thomas Manns[^* Der vorliegende Beitrag bietet einen Einblick in den Inhalt und anthropologischen Ansatz der 2023 unter dem gleichen Titel abgegebenen Bachelorarbeit.]

Anna Luise Klemm (Universität Leipzig)

Der vorliegende Beitrag soll möglichst präzise den Inhalt meiner 2023 fertiggestellten Bachelorarbeit darstellen und den Gehalt des Themas skizzieren. Dabei wird die übergeordnete Frage nach der Vermittlung anthropologischen Wissens durch Literatur, genauer durch die Konzeptionen von literarischen Figuren, aufgeworfen und am Beispiel zweier Protagonisten aus Thomas Manns Frühwerk verhandelt. Was sagen Selbstverständnis, Lebensweg, Erzählerbeschreibung und Lebensende über die Figuren im literarischen Werk aus und inwiefern bereichert Literatur den anthropologischen Diskurs? Kann der Versuch Nietzsches einer Welt- und Lebenskonzeption in Form einer ästhetischen Metaphysik für das Individuum gelten? Den Gegenstand bilden die von Thomas Mann verfassten und im Jahr 1897 veröffentlichten Novellen ‚Der kleine Herr Friedemann‘[^1 Die Novelle wird im Folgenden zitiert nach Mann, Thomas. 2002. Der kleine Herr Friedemann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Band 2.1. Frühe Erzählungen 1893–1912. S. 87–119, hg. und textkritisch durchgesehen von Terrence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. 2. Auflage. Frankfurt a. M.: S. Fischer.] und ‚Der Bajazzo‘.[^2 Die Novelle wird im Folgenden zitiert nach Mann, Thomas. 2002. Der Bajazzo. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Band 2.1. Frühe Erzählungen 1893–1912. S. 120–159, hg. und textkritisch durchgesehen von Terrence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. 2. Auflage. Frankfurt a. M.: S. Fischer.] Nach einem kurzen geistesgeschichtlichen Abriss und der Inhaltsbeschreibung der Novellen wird anhand von Textbeispielen die Verknüpfung von Friedrich Nietzsches und Thomas Manns anthropologischen Ausführungen aufgezeigt.

Die Frage nach dem Ich

Ein Blick in die Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte lässt das ausgehende 19. Jahrhundert und die Jahrhundertwende als eine Zeit inniger Beschäftigung mit dem Subjekt in Erscheinung treten. Die vorausgehende Entwicklung von der Antike über das Mittelalter zeigt, dass mit dem Angehen anthropologischer Fragen und die Verhandlung des Individuums mit und in seinen „Individualitätskriterien“ (Gerok-Reiter: 2) bereits das anthropologische Potential der Literatur aufgedeckt wurde. Diese Entwicklungen stellen die Funkenschläge dar, mit denen das Feuer entfacht wurde, das als Individualität auf den Begriff gebracht, die Bewusstheit des Individuums in seiner Individualität (vgl. Gerok-Reiter: 1) und die Selbstbestimmung des Individuums meint, die wiederum einen weiteren Entwicklungsstand in der Literaturanthropologie einnehmen. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts erhielt diese Perspektive der Literatur eine zentrale Stellung. Gesellschaftliche und politische Institutionen wurden zusehends in Frage gestellt und der statische Zustand der Tradition und Konvention wich dem dynamischen einer individuellen Mobilität. Das Ich ist seither ein fluides Konstrukt, es ist entwicklungsfähig und nicht mehr an die transzendentale Übermacht eines Gottesplanes gebunden. Im Zuge des Befreiungsschlags des Subjekts und der einhergehenden Abwendung von tradierten Normen wurde jedoch spätestens mit der Französischen Revolution (1789–1795) die Gefahr der Entwurzelung als eine Entfremdungserfahrung offenbar, die die Individualisierung mit sich brachte (vgl. Willems 2015: 331). Die Loslösung von der Umwelt bedeutet die Gefährdung einer äußeren Bindung und eines inneren Halts (vgl. ebd. 331). Daraus entwickelte sich die entscheidende Erkenntnis einer engen Verbindung von Innenwelt und Außenwelt, indem das Selbst seine Festigkeit aus der Gewohnheit bezieht, weil es sich mit den äußeren Umständen tradierter und konventionalisierter Werte auseinandersetzt, sich in die einhergehenden Systeme integriert und sich in ihren Kategorien denkt. ­Diese Wechselbeziehung aus Selbstentfaltung des Inneren und Anpassung an eine Außenwelt wird zum literarischen Grundthema (vgl. ebd.: 332f.), das bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat. Figuren werden zu Versuchen einer individuellen Entwicklung und Selbstfindung. Ausgehend von Goethes ‚Wilhelm Meister‘ treten die Werke der Klassischen Moderne von Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Robert Musil und vielen weiteren als Experiment, Studie oder Skizze des menschlichen Seins und Lebens hervor. Dadurch beweist die Literatur den Stellenwert als ein eigenständiger Wissensspeicher und Medium der Wissensvermittlung anthropologischer Inhalte zu sein. Ihr gilt es, das aus Naturwissenschaft, Philosophie, später Psychologie und Soziologie synthetisierte Wissen nicht nur zu veranschaulichen und wortwörtlich mit Leben zu füllen, sondern auch die Erprobung der Theorie am geschriebenen Menschen. Der anthropologische Gehalt in der Literatur wird spätestens damit offenkundig. Sie nimmt sich der Frage nach der Aushandlung von Selbstentfaltung und Anpassung an, spekuliert auf das richtige Verhältnis von Integration und Entfaltung, erprobt, inwiefern eine Anpassung des Ich überhaupt noch mit der zeitgenössischen Gesellschaft kompatibel ist und wann Entfremdung eintritt bzw. wie es sie zu verhindern gilt (vgl. ebd.: 333). Literatur wird damit ebenfalls zunehmend Ausdruck und Reflexion des Individuums. Das geistesgeschichtliche Klima, in welchem Thomas Mann seine Novellen schreibt, ist geprägt von der Suche nach dem Selbst. Entscheidend für sein Schreiben wird die von Arthur Schopenhauer eingeläutete Anthropologische Wende. Nach Einschätzung Georg Simmels sei sie die „Achsendrehung im Begriff des Menschen“ (Simmel 1990: 84), da nun der Mensch von der vernunftabgeneigten Seite, sprich der des Unter- und Unbewusstseins betrachtet wurde. Schopenhauer proklamiert das menschliche Leben als den Willen zum Leben, allein der Trieb zur Selbsterhaltung mache den Menschen aus – „nicht ich denke und handle, sondern es denkt und handelt durch mich“ (Willems 2015: 334). Damit wird nicht nur die vernunftgeleitete Konstruktion eines Selbst, sondern auch die Möglichkeit der Selbstentfaltung destabilisiert. Wie autonom kann das Ich sein, wenn Freud feststellt, „daß das Ich nicht Herr sei im eigenen Haus“ (Freud 2017: 4). Mensch sein, das heißt laut der Philosophie nun gespaltet sein, in der „Vorstellung von einem mehrdimensionalen, aus bewußten und unbewußten Anteilen zusammengesetzten Ich“ (Willems 2015: 335).

Thomas Mann und das Individuum

Die Faszination Thomas Manns für das Thema Menschsein und Selbstverwirklichung bzw. der Konflikt zwischen Individuum und Umwelt wird im gesamten, besonders aber im Frühwerk in der Auseinandersetzung eines Künstlertypus mit dem Milieu des Bürgertums deutlich. Manns Faszination mag einerseits mit dem generellen Zeitgeist, wie oben geschildert, zu tun haben, war aber sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass er selbst bei Veröffentlichung der Novellen erst 22 Jahre alt, also genau in dem Lebensalter der Selbstverwirklichung war, wo dem ideellen Selbstbild eine realistische Lebensweise folgen sollte. Zudem ging den Novellen eine intensive Lektüre Schopenhauers und Nietzsches voraus, die den Autor bannten und die Schicksale seiner Figuren inspirierten. Die Novellen, beide Ergebnisse längerer Arbeitszeit und einer grundlegenden Überarbeitung, erschienen 1897 im Novellenband ‚Der kleine Herr Friedemann‘, bezeichnenderweise gleichnamig der Novelle, die für Thomas Mann den Durchbruch seines literarischen Schaffens bedeutete. In ihnen wird die Gedankenwelt, Inspiration und Konfliktlage des jugendlichen Schriftstellers offenbar und sie künden von der Bürde der Identitätsentfaltung und Selbstbehauptung. In den Novellen können auf mehreren Ebenen Parallelitäten nachgewiesen werden, was den Vergleich umso erstrebenswerter macht. Im Mittelpunkt beider Erzählgeschehen steht ein männlicher Protagonist, der als lebenssinnsuchendes Individuum sein Leben gestaltet. Beide Protagonisten entstammen einer alten Kaufmannsfamilie, sind also im bürgerlichen Milieu geboren und behütet aufgewachsen. Die Mutterfiguren spielen in der Erziehung beider eine zentrale Rolle, indem sie ihre Söhne an die Musik und Kunst als eine Art illusionistische Idealwelt heranführen und ihre künstlerische Begabung geschichtenerzählend und klavierspielend entfachen und fördern. Das geht beim Bajazzo so weit, dass er sich die künstlerische, aber weltfremde Lebensweise seiner Mutter aneignet. Zentral ist ebenfalls der Umstand, dass sich sowohl Johannes Friedemann als auch Bajazzo bereits im Kindesalter als eine Art Abweichung der sozialen Norm einordnen lassen, dieser Abweichungsgrad wird ihr Leben weitgehend bestimmen. Die körperliche Behinderung, die Friedemann im Zuge eines Sturzes vom Wickeltisch erlitt und ihn augenscheinlich mit seiner „spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladenden Rükken und den viel zu langen Armen“ (‚Der kleine Herr Friedemann‘, S. 89) vom „vitalistischen Ideal“ abgrenzt, ist genauso lebenszeichnend wie die künstlerische Begabung des Bajazzos. Diese „Bajazzobegabung“ (‚Der Bajazzo‘, S. 127) erscheint weder mit den Werten des altväterlichen Bürgertums (Konvention) noch mit den tradierten Erwartungen der Familiendynastie (Tradition) kompatibel. Bereits auf den ersten Seiten der Erzählungen wird ein Konflikt zwischen Innen und Außen als dem Körperlichen und dem Geistigen, dem Individuum und der Umwelt, auf identitärer Ebene dem Idealistischen und dem Realistischen offenbart. Im weiteren Geschehen begründen die Protagonisten genau auf diesem Umstand ihre Individual- und Lebensentfaltung, die sich als Rückzug ins Innere, bei Friedemann in einer kontemplativen Flucht in die Kunst unter Ausschluss des Sexualtriebes und bei Bajazzo als ein narzisstisch-hochmütiger Akt der Selbsterhöhung unter Abgrenzung von der Gesellschaft, verwirklicht wird. In der Eindimensionalität ihrer Lebensweisen bemerken die Protagonisten nicht, dass ihre Art zu leben ein einziger Selbstbetrug ist. Erst mit dem Auftreten zweier Frauenfiguren, die als Sehnsuchtsobjekt und Lebensallegorie den Protagonisten als Korrektiv dienen, wird ihnen bewusst, dass ihre Individualitätsentfaltung nur der fragile idealistische Schein einer Idee vom Selbst war, der in Konflikt mit ihrer Natur (Sexualtrieb) und Umwelt (Gesellschaftskonvention) steht. Schlussendlich, vom eigenen Körper bezwungen, zieht Friedemann den einzig in der Übermacht seines Geistes logischen Schluss des Suizids, er ertränkt sich im Park der Frau, die die Kontrolle über seine körperlichen Triebe delegitimiert hat. Auch Bajazzo denkt über Suizid nach, entscheidet sich allerdings dagegen und vegetiert desillusioniert in Auflösung seines Inneren (vgl. ebd., S. 20) als inhaltslose Form weiter.

Struktur
der ­Novellen

‚Der kleine Herr Friedemann‘

‚Der Bajazzo‘

I

Exposition, Einführung ins Geschehen

S. 87f.

Exposition, Einführung ins Geschehen

S. 120

II

Kindheit und Jugend

S. 88f.

Kindheit und Jugend

S. 121–131

III

Konfrontation mit dem Leben I

S. 90f.

Konfrontation mit dem Leben I

S. 131f.

IV

Konstruiertes Lebenskonzept

S. 91–99

Konstruiertes Lebenskonzept

S. 133–143

V

Konfrontation mit dem Leben II

S. 99–103

Konfrontation mit dem Leben II

S. 143–152

VI

Krise

S. 103–115

Krise

S. 152–158

VII

Tod

S. 115–119

„Tod“

S. 158f.

Abbildung 1: Tabellarische Veranschaulichung der Novelleninhalte.

Der strukturelle Aufbau der Novellen kann somit in inhaltliche Abschnitte gegliedert werden, die in beiden Novellen bis auf den tödlichen Ausgang identisch sind. An den von Goethe geprägten Bildungsroman erinnernd, wird der gesamte Lebensweg vom Kleinkindalter bis zum Erwachsenendasein verfolgt und beschrieben, was wiederum die Darstellung der Entwicklung beider Protagonisten zulässt. Vermittelt werden diese im ‚Friedemann‘ durch eine heterodiegetische, im Bajazzo durch eine autodiegetische Erzählinstanz, in Form eines tagebuchähnlichen Gedächtnisabrisses, der als „meine ‚Geschichte‘“ (ebd., S. 120) benannt wird. Der Novellencharakter wird durch die „Unerhörte Begebenheit“ (Verweis auf den Novellenbegriff von J. W. v. Goethe) als eine Wendung im Erzählgeschehen beibehalten, die im Erweckungsmoment der Protagonisten als Konfrontation des idealistischen Selbstbildes mit der Lebensrealität die Lebenskrise beider Protagonisten einläutet. Für die Figurenkonzeptionen von besonderem Wert sind allerdings die dichotomen Motivkonstellationen in den Figurenbeschreibungen. So lassen sich über die gesamten Novellen zweiteilige, zumeist antithetische Positionen rund um die Figuren feststellen, allen voran der bereits genannte und übergreifende Gegensatz eines Inneren und Äußeren:

Sehr möglich immerhin, […] daß ich noch ein Viertel- oder Halbjahr fortfahre, zu essen, zu schlafen und mich zu beschäftigen – in der selben mechanischen, wohlgeregelten und ruhigen Art, in der mein äußeres Leben während des Winters verlief und die mit dem wüsten Auflösungsprozeß meines Innern in entsetzlichem Widerstreite stand (‚Der Bajazzo‘, S. 120).

Konkreter wird es, wenn Friedemann, gekränkt durch die Abfuhr eines heimlich verehrten Mädchens, seine körperlich spürbaren Affekte mittels des Verstandes zu unterdrücken sucht und damit den Konflikt zwischen Körper und Geist antizipiert. „[E]in scharfer, drängender Schmerz stieg ihm aus der Brust in den Hals hinauf. Aber er würgte ihn hinunter und richtete sich entschlossen auf“ (‚Der kleine Herr Friedemann‘, S. 90). Der aus der Herzgegend kommende Liebesschmerz erreicht nicht den Kopf als Zentrale des Menschenverstandes und wird symbolisch abgewürgt. Oder wenn sich Bajazzo zwischen den konträren Lebensweisen seiner Eltern entscheidet und keinen Mittelweg findet:

Ich saß in einem Winkel und betrachtete meinen Vater und meine Mutter, wie als ob ich wählte zwischen den beiden. […] Und mein Blick verweilte am Ende auf dem stillen Gesicht meiner Mutter (‚Der Bajazzo‘, S. 123).

Solcherlei Aussagen geben Hinweise auf das mehrdimensionale Ich und die vielseitigen Einflussfaktoren, die auf die Identität einwirken und Aushandlung sowie Verarbeitung in uns bedürften. Beide Figuren sind allerdings dazu nicht in der Lage und positionieren sich zu einer der beiden konfligierenden Seiten.

Identität und Anthropologie in der Literatur

Die Produktion und Rezeption von Literatur sind spezifisch menschliche Tätigkeiten, die immer mit einer Reflexion des Menschendaseins einhergehen. In dieser reflexiven Arbeit wird Menschsein in eine Art narrative „Zwischenwelt“ (Riedel 2014: VIII) zwischen Welt und Individuum rekonstruiert, hinterfragt und weitergedacht (vgl. Urbich 2011: 218f.). Damit kommt Literatur auch die Kompetenz zu, Wissen über den Menschen zu generieren. Die methodische Bedeutung literaturanthropologischen Wissens liegt in der literarischen Darstellung und Bewertung eines vermittelten Welt-, Lebens- und damit auch Menschenkonzepts. Literarisches Wissen manifestiert sich dabei in der Figurenkonstruktion Thomas Manns.

In der Konstitution eines literarischen Identitätsbegriffs geben

Literatur und literarische Anthropologie dem modernen Selbstbewusstsein Raum […], weil sie die objektivierten ‚Anthropologien der dritten Person‘, die die empirischen und theoretischen Disziplinen bereitstellen, unter der Perspektive von Erfahren, Erleben und Fühlen in individualisierte, subjektive, expressive usw. ‚Anthropologien der ersten Person‘ verwandeln. Im literarischen ‚Ich‘, es spreche Vers oder Prosa, ist das ‚Man‘ der Wissenschaften vom Menschen immer schon unterlaufen (Riedel 2014: 380).

Damit kann sowohl von einem literarisch vermittelten anthropologischen Wissensgehalt in den Figurenkonzeptionen als auch von einem den Novellen inhärenten Identitätsbegriff ausgegangen werden. Nicht die schematische Rekonstruktion und der Abgleich vorgefertigter Ideen der Philosophie im literarischen Text, sondern der Diskurs um den Menschen, der sich in der Form der Figurenidentität abbilden lässt, wird somit Fokus der Analyse und literarischer Wert.

Dualistische Identität

Der Leitdiskurs, mit dem sich die Figurenkonzeptionen verbinden lassen, ist die Lebensphilosophie Nietzsches. Im ersten seiner Werke ‚Die Geburt der Tragödie‘ stellt er ein ästhetisches Weltmodell vor, die „Artisten-Metaphysik“ (Nietzsche 1980: 17), aus dem die attische Tragödie als Kunstwerk des Lebens aus der gelegentlichen Symbiose zweier Ur-Kräfte entsprungen ist. So sei die

Fortentwicklung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden […]: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt (ebd., 25).

In diesem ästhetischen und biologischen Gleichnis der Geburt der Tragödie aus dem Zusammenspiel zweier ästhetischer Triebkräfte und der Geburt des Menschen aus der Vereinigung eines Paares ist das Potential des ästhetischen Weltbildes als ein auf Symbiose mehrerer Einflussfaktoren basierendes Menschenbild zu erkennen. So ist auch der Mensch (die Figur) bei Thomas Mann eine abhängige Symbiose zweier Kräfte, die sich nicht auf das biologische Geschlecht bezieht, sondern jenen Kunsttrieben Nietzsches ausgesetzt ist. Dabei bildet das Apollinische die Kraft der Selbsterkenntnis ab, indem es das Individuum zwingt, sich und seine Umwelt zu ordnen und zu formen. In Reflexion stellt sich das Individuum immer die Frage, wer es ist und was es ausmacht. Dieses beispielsweise aus persönlichen Interessen, Neigungen, Charaktereigenschaften, aber auch sozialen Umständen bestehende Selbstbild ist eine statische und begrenzte Form des Ich. Diese Form ist existenziell notwendig, um Individuum zu sein. Allerdings hat nicht nur die geistige Ideenkonstruktion, wer Ich ist, Einfluss auf das, was Ich tatsächlich ist, sondern auch Umweltfaktoren, die bei Nietzsche als inhärenter Sinn von allem im Dionysischen auftreten. Wird das Apollinische als das ordnende Prinzip benannt, ist das Dionysische eine chaotische und zerstörende Kraft, die das Individuum immer von Neuem zwingt, sich als solches unter neuen Umständen zu erkennen und zu begrenzen – sich selbst also Form zu geben. Die Protagonisten Manns sind damit ab der ­ersten Seite konfrontiert, wenn Johannes Friedemann körperlich beeinträchtigt nicht die gleichen Lebenschancen wie ein körperlich gesundes Individuum hat und Bajazzo nicht der Konvention und Tradition eines bürgerlichen Kaufmanns, sondern eines Künstlers zu entsprechen scheint. Nietzsches Lösungsvorschlag zielt nun auf die Aushandlung beider Seiten, indem sich das Apollinische unter den Umständen des Dionysischen neuformiert:

[B]eide so verschiedene Triebe gehen nebeneinander her, zumeist im offnen Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um im Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuieren […] bis sie […] mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk, der attischen Tragödie zeugen (ebd., 25).

Diese Paarung des Inneren als die Idee des Selbst und dem Äußeren der Lebensrealität wäre als eine identitäre Weiterentwicklung zu benennen: äußere Einflussfaktoren, wie beispielsweise Abweisung, der Tod einer geliebten Person, aber natürlich auch freudige Ereignisse lassen uns ein anderer Mensch sein als zuvor. Die dahinterstehende Dynamik nennt sich Dialektik. Vereinfacht gesagt gibt es eine Position I und eine Gegenposition II, die in Aushandlung eine weitere Position (III) generieren. Die Idee vom Ich (P I) wird durch Einflussfaktoren (P II) verändert und das Ich entwickelt sich weiter (P III). Dieses weiterentwickelte Ich kann wiederum zur Position I werden und es ergibt sich somit eine fortschreitende Dynamik in der Individualentwicklung. In den Novellen hingegen gilt eine Unvereinbarkeit zwischen der konstruierten Form des Selbst und den äußeren Einflussfaktoren, die eine identitäre Weiterentwicklung bedingen würden. Am Text ließe sich die Diskrepanz und Positionierung zum Inneren an folgenden Beispielen belegen: Unmittelbar nach der schmerzhaften Abfuhr eines Mädchens entscheidet sich Johannes Friedemann, sexuelle Begierde und körperliche Nähe aus seinem Leben zu verbannen, diese Seite vollends zu unterdrücken und sich den „geistigen Freuden“ zuzuwenden: „Den anderen gewährt es Glück und Freude, mir aber vermag es immer nur Gram und Leid zu bringen. Ich bin fertig damit. Es ist abgethan. Nie wieder“ (‚Der kleine Herr Friedemann‘, S. 91). Auch Bajazzo grenzt sich als Außenseiterfigur in einer sozialen Sonderstellung von der Gesellschaft erhaben ab, wenn er „ohne die Leute“ (‚Der Bajazzo‘, S. 142) sein Glück zu finden versucht.

Das Prinzip des Dualismus besagt, dass zwei Seiten als unvereinbar gelten und nicht auf denselben Ursprung zurückgehen, die also voneinander getrennt existieren. Daraus resultiert nicht nur eine Stagnation in der Weiterentwicklung des Ich, sondern auch eine wachsende Diskrepanz der nicht auszuhandelnden Seiten. Das führt bei den Protagonisten dazu, dass sie sich in ein künstliches Identitätsideal flüchten und sich von ihrer Umwelt abgrenzen.

Abbildung 2: Lebenskurven der Protagonisten.

In den skizzierten Lebenskurven ist das als horizontal-geradliniger Verlauf erkennbar – ein vermeintlicher Status quo. Das ist ebenfalls auf Erzählerebene nachzuweisen, indem das Erzähltempo entschleunigt wird. Auf den ersten zehn Seiten beider Novellen wird die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen beschrieben, die mit allerlei unterschiedlichen Tätigkeiten im jeweiligen Lebensalter hochdynamisch ist und mit dem 30. Lebensjahr, eben dem Alter, in dem sie sich in die Innerlichkeit zurückziehen, abrupt endet. Thomas Mann benennt diesen Zustand in seinem Essay ‚Form‘ als „Überform“ (‚Form‘, S. 982),[^3 Der Essay wird im Folgenden zitiert nach Mann, Thomas. 2002. Form. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Band 15.1. Essays II. 1914–1926. S. 730, hg. und textkritisch durchgesehen von Terrence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. 2. Auflage. Frankfurt a. M.: S. Fischer.] der die Gefahr in sich birgt, in einer idealistischen Traumwelt die Lebenswelt nicht mehr korrekt wahrzunehmen, ihre Veränderungen und Einflüsse auf das Selbst nicht zu akzeptieren, was ein Leben unmöglich macht. Das Äquivalent zur „Überform“ ist die „Unform“ (ebd.). Beherrscht sie den Menschen, würde das Individuum seine Form und Begrenzung eines Ichs und die Selbstreflexion aufgeben und somit ohne Selbstverständnis vegetieren müssen. Weder dem einen noch dem anderen Extrem zu erliegen, wird zur Gratwanderung für die Figuren in Manns Novellen. Wie an den Lebenskurven deutlich zu erkennen, währt der sichere Status nicht lang, denn mit der Konfrontation der Frauenfiguren Gerda von Rinnlingen und Anna Rainer erwachen die Protagonisten aus ihrer Scheinwelt – „Ich aber, meinesteils? […] Ausgeschlossen, unbeachtet, unberechtigt, fremd, hors ligne, deklassiert[.]“ (‚Der Bajazzo‘, S. 151); Glück? – „das war Lüge und Einbildung“ (‚Der kleine Herr Friedemann‘, S. 117). Die unerhörte Begebenheit, die Heimsuchung des Dionysischen als Eros in dieser Frau bricht die Dämme sexueller ­Enthaltsamkeit. Die körperlichen Triebe siegen über Friedemanns asketische Lebensweise. Aus Selbstekel, Resultat der Abweisung durch Gerda, findet Friedemann nur im Tod den Triumph über seine Triebwelt. Die Wendung, die Bajazzos innere Auflösung zur Folge hat, ist hingegen ein komplexer, im Text immanent erkennbarer Prozess einer zerfallenden Idee von sich. Diese Identitätskonstruktion basiert einzig auf der Übernahme anderer Künstlerpersönlichkeiten sowie der Auslebung eigener Neigungen, die jedoch im Konflikt mit den gesellschaftlichen Lebensformen steht. Bajazzo vermag nicht zu sagen, was er ist, ob Bürger oder Künstler, und bleibt damit eine inhaltslose „Überform“. Er kann sich nicht in seine Umwelt integrieren, die er im Umgang mit der gutbürgerlichen, glücklichen und sorgenlosen Anna Rainer so ersehnt.

Schlussbetrachtung

„[M]an weiß, was man ist, weiß aber nicht, ob man es werden wird“ (Banuls 2001: 7).

Die dialektische Aushandlung von Apollinischem (dem Geistigen, dem Inneren, der Individualexistenz) und dem Dionysischen (dem Körperlichen, der Erfahrung, den Trieben und Instinkten) stellt sich in den frühen Novellen als unüberwindbare Aufgabe heraus. Ist die Friedemann-Novelle noch nahe an der vitalistischen, schon durch Schopenhauer proklamierten Aussage, dass Urinstinkt, Trieb und Affekt, aber nicht die Vernunft das Leben bedingen, wird die Problematik von Selbstverständnis und Umwelt im Bajazzo auf die soziale Ebene abstrahiert, wo das Individuum sich nicht unbegrenzt selbstentfalten kann, sondern Individualität in strenger Verbundenheit mit normierten Werten des Menschseins steht. Weder in der Unterdrückung der Naturtriebe noch in der Loslösung von Konvention und Tradition ist Individualexistenz möglich. Thomas Mann wählt in seinen Novellen keinen lösungsorientierten, sondern einen problemorientieren Zugang zum anthropologischen Diskurs der Lebensphilosophie: Was geschieht, wenn das Selbstverständnis nicht mit der Umwelt auszuhandeln ist? Diese Skepsis, mit der Thomas Mann die Lebensphilosophie Nietzsches mittels seiner Figurenkonzeption betrachtet, äußert sich darin, dass er seine Figuren auf dem literarischen Experimentierfeld scheitern lässt. Der anthropologische Wert der Novellen resultiert aus der literarischen Betrachtung des Entfaltungsprozesses der Selbsterkenntnis und -auslebung eines Individuums, den ­Thomas Mann als den Fixpunkt eines gelungenen oder gescheiterten Lebens bestimmt.

Ebenso geht aus den Novellen hervor, dass sich Individuen den Einflüssen der Menschennatur oder ihrer Umwelt niemals gänzlich entziehen können und somit gezwungenermaßen immer in einem Aushandlungsprozess und einer Erprobung der eigenen Stellung in der Welt konfrontiert sind.

Primärliteratur

  • Freud, Sigmund. 2017. Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. 1917. In: Imago 5 (1917 / 19), Online-Ausg. Heidelberg: Universitätsbibliothek Heidelberg. S. 1–7. DOI.10.11588/diglit.25679.1. (14.10.2023).
  • Mann, Thomas. 2002. Der kleine Herr Friedemann. Große kommentierte Frankfurter ­Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Band 2.1. Frühe Erzählungen 1893–1912. S. 87–119, hg. und textkritisch durchgesehen von Terrence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. 2. Auflage. Frankfurt a. M.: S. Fischer.
  • Mann, Thomas. 2002. Der Bajazzo. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. ­Werke – Briefe – Tagebücher. Band 2.1. Frühe Erzählungen 1893–1912. S. 120–159, hg. und textkritisch durchgesehen von Terrence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. 2. Auflage. ­Frankfurt a. M.: S. Fischer.
  • Mann, Thomas. 2002. Form. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – ­Briefe – Tagebücher. Band 15.1. Essays II. 1914–1926. S. 730, hg. und textkritisch durchgesehen von Terrence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. 2. Auflage. Frankfurt a. M.: S. Fischer.
  • Nietzsche, Friedrich. 1980. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der ­Musik: ­Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. Giorgio Colli und Mazzino ­Montinari. München / New York: dtv / De Gruyter.
  • Simmel, Georg. 1990. Schopenhauer und Nietzsche. Tendenzen im deutschen Leben und Denken seit 1870. Hamburg: Junius.

Sekundärliteratur

  • Banuls, André. 2001. Leben und Persönlichkeit. In Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3., aktualisierte Aufl., S. 1–17. Stuttgart: Kröner.
  • Gerok-Reiter, Annette. 2006. Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik. Basel / Tübingen: Francke.
  • Riedel, Wolfgang. 2014. Nach der Achsendrehung. Literarische Anthropologie im 20. Jahrhundert. Würzburg: Könighausen & Neumann.
  • Urbich, Jan. 2011. Literarische Ästhetik. Köln: Böhlau. DOI.10.36198/9783838535432. (13.10.2023).
  • Willems, Gottfried. 2015. Geschichte der deutschen Literatur. Band 5: Moderne. Wien / Köln / Weimar: Böhlau.

  • Klemm, Anna Luise. 2024. Dualistische Identität: Figurenkonzeptionen in den frühen Novellen Thomas Manns. In Franke, Sebastian; Klemm, Anna Luise; Krabi, Richard; Toth, Raphael; Zajac, Wojciech (Hgg.), Studieren und Promovieren in Krakau und Leipzig: Beiträge der Sommerschule 2023. 7–9. Leipzig (text­dynamiken 3).
Aktuelles Projekt-Archiv Online-Journal Team