Die unterschiedlichen Textbestände der Historienbibel IIa Ein stemmatischer Erklärungsversuch[^* Dieser Beitrag stellt einen Einblick in das laufende Promotionsprojekt unter dem Arbeitstitel ‚Schreiben in der Lauberwerkstatt‘ dar.]
Texte aus mehr als 100 der Forschung bekannten Handschriften werden unter dem Begriff ‚Historienbibel‘ zusammengefasst (vgl. Handschriftencensus 2023 [a]), der aufgrund seiner Unschärfe Schwierigkeiten bereitet. Denn gerade diese Unschärfe ist Anzeichen der charakteristisch hohen Varianz dieser Texte. Die noch immer treffendste Definition des Begriffs ‚Historienbibel‘ liefert Vollmer 1912:
Ich verstehe im folgenden unter deutschen Historienbibeln deutsche Prosatexte, die in freier Bearbeitung den biblischen Erzählungsstoff, möglichst vollständig, erweitert durch apokryphe und profangeschichtliche Zutaten und unter Ausschluß oder doch Zurückdrängung der erbaulichen Glosse darbieten, ganz gleichgültig, ob dabei gereimte Quellen oder die Vulgata, Historia scholastica, das Speculum historiale oder sonstige die heilige in Verbindung mit profaner Geschichte behandelnde Texte als Vorlage dienten (Vollmer 1912: 5).
Nach den unterschiedlichen Quellen, auf die die Texte zurückgehen, und nach ihren Schreibsprachen gliedert Vollmer die Historienbibeln in neun Hauptgruppen, wobei bei den Redaktionen I bis III die Untergruppen Ia, b, c; IIa, b, c sowie IIIa und b unterschieden werden (vgl. Vollmer 1912: 8–36). Diese Unterteilungen versuchen, der enormen Varianz dieser Texte gerecht zu werden, doch selbst innerhalb der Untergruppen wird besonders im Textbestand die Uneinheitlichkeit deutlich:
Der Bestand an biblischen und außerbiblischen Büchern in den ‚Hbb.‘ ist unterschiedlich und auch innerhalb der einzelnen Gruppen durchaus unfest; [Nach Vollmer] läßt sich in bezug auf Inhalt und Aufbau einer ‚Hb.‘ jeweils nur für eine Hs. Genaues sagen […] (Gerhardt 1983, Sp. 69f.).
Diesem Problem wird im Folgenden nachgegangen: Ist der Textbestand[^1 Der Begriff des ‚Textbestandes‘ wird hier in Anlehnung an Bumke verwendet, der ihn zur Unterteilung von Fassungen verwendet (vgl. Bumke 1996: 391f.).] innerhalb einer Untergruppe der Historienbibeln tatsächlich für jede Handschrift so einzigartig, dass Gruppierungen scheitern?
Dazu soll eine Gruppe mit möglichst vielen überlieferten Textzeugen zugrunde gelegt werden, bei der die Varianz im Textbestand besonders deutlich wird: Die Redaktion IIa mit 17 vollständigen Handschriften scheint besonders geeignet zu sein (vgl. Handschriftencensus 2023 [b]). Eine wissenschaftlichen Standards genügende Edition liegt nicht vor, einzig die bereits 1912 durch Vollmer scharf kritisierte Edition Merzdorfs, die sich vor allem an den beiden Dresdener Handschriften orientiert (vgl. Vollmer 1912: 8). Auch eine stemmatische Betrachtung der Überlieferungsstränge steht noch aus. Vollmer hielt nur skizzenartig einzelne Verwandtschaften zwischen Handschriften fest (Vollmer 1912: 104–125, besonders 115).
Die Redaktion IIa stellt eine beinahe wörtliche Prosaauflösung der ‚Weltchronik‘ Rudolfs von Ems dar. In seiner kürzeren Version, der Merzdorfs Edition folgt, endet der Text bei Salomon und Atonias (vgl. Merzdorf 1870: 900). Die durch Vollmer sogenannte ‚Fortsetzung‘ (vgl. Vollmer 1912: 8) führt ihn weiter bis Ahab. Zusätzlich kann der Psalter eingefügt sein und eine Prosaauflösung des ‚Marienlebens‘ des Bruders Phillipp. Folgende Verteilung der Textteile liegt in den Handschriften vor:
Signatur |
Weltchronik |
Psalter |
Fortsetzung |
Marienleben |
---|---|---|---|---|
Augsburg, Staats- und Stadtbibl., |
ja |
nein |
ja |
ja |
Berlin, Staatsbibl., Hdschr. 382 |
ja |
nein |
ja |
nein |
Bonn, Universitätsbibl., Cod. S 712 |
ja |
ja |
ja |
ja |
Darmstadt, Universitäts- und |
ja |
nein |
ja |
ja |
Dresden, Landesbibl., Mscr. A 49 |
ja |
nein |
nein |
ja |
Dresden, Landesbibl., Mscr. A 50 |
ja |
nein |
nein |
nein |
Frauenfeld, Kantonsbibl., Cod. |
ja |
nein |
ja |
nein |
Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. |
ja |
nein |
ja |
ja |
Kopenhagen, Königl. Bibl., Cod. |
ja |
ja |
ja |
ja |
London, British Libr., MS Add. |
ja |
nein |
nein |
nein* |
Mainz, Stadtbibl., Hs. II 64 |
ja |
nein |
ja |
ja |
München, Nationalmuseum, Cod. |
ja |
ja |
ja |
ja |
München, Staatsbibl., Cgm 1101 |
ja |
nein |
ja |
ja |
München, Staatsbibl., Cgm 206 |
ja |
ja |
ja |
ja |
Nelahozeves, Lobkowitzsche Bibl., |
ja |
ja |
ja |
ja |
Würzburg, Universitätsbibl., |
ja |
ja |
ja |
ja |
Zürich, Zentralbibl., Ms. C 5 |
ja |
ja |
ja |
ja |
* Die Londoner Handschrift enthält als zweiten Teil nicht das Marienleben, sondern das ‚Buch der Könige‘ (BdK) über Ahab hinaus (zu den Textbeständen der Handschriften vgl. auch Vollmer 1912: 12).
Auf den ersten Blick scheinen sich schon anhand des Textbestandes Gruppierungen innerhalb der Redaktion IIa zu ergeben. Sieben Handschriften beinhalten alle vier Textteile, fünf weiteren fehlt nur der Psalter und die übrigen fünf haben Textbestände in unterschiedlichen Kombinationen. Um zu klären, wie die Auswahl der Textbestandteile getroffen wurde, ist zu prüfen, ob der Textbestand möglicherweise vorlagenabhängig war. Im Folgenden sollen die 17 vollständigen Historienbibeln der Redaktion IIa Überlieferungssträngen zugeordnet werden, deren Textbestand zu bestimmen ist.
Die Überlieferungsstränge der Historienbibel IIa
Zur Unterscheidung der Überlieferungsstränge werden Textvergleiche herangezogen. Da vier Handschriften das ‚Marienleben‘ fehlt und zehn der Psalter, sollen sich die folgenden Betrachtungen auf die in allen Handschriften enthaltene ‚Weltchronik‘ konzentrieren. Es wurden fünf Beispiele ausgewählt, um einen knappen Überblick über die unterschiedlichen Lesarten einzelner Textstellen zu bieten. Da es sich bei diesem Teil des Historienbibeltextes um eine beinahe wörtliche Prosaübertragung der ‚Weltchronik‘ handelt, wird der Rudolf’sche Text nach der Edition von Gustav Ehrismann als Vergleichsgrundlage dienen. Ihm gegenübergestellt werden alle Auflösungsvarianten der Textstelle mit je einem Transkriptionsbeispiel aus einer Handschrift. In der abschließenden Tabelle, die wieder alle Handschriften verzeichnet, wird notiert, welcher Variante die entsprechende Handschrift an dieser Textstelle folgt.
Textstelle 1:
Weltchronik |
Auflösung A |
Auflösung B |
---|---|---|
[V. 5138] do tet Abraham zehant, der edil Gotis wigant, als in Got hiez und im gebot: […] |
(Zürich, 52v) Do nü abraham der edel gotez wigant wolt vollenden also im gotte geheissen vnd gebotten hette […] |
(Frauenfeld, 46v) Do Nü Abraham der Edel gottes wigant als In got geheissen vnd gebotten hette […] |
Textstelle 2:
Weltchronik |
Auflösung A |
Auflösung B |
---|---|---|
[V. 7136] ein wip im do ze wibe nam, der vater was genant Ýram und si was Sue genant. dú gebar im sa zehant zwene súne, Her und Omam. darnah er abir ze wibe nam ein andir wip dú hiez Tamar, dú gebar im al fúr war ze kinden zwene súne îesa, das was Phares und Zara. |
(Zürich, 72v) Vnd was sine tochter Sne[^2 In der Züricher Handschrift könnte auch ‚Sue‘ gelesen werden. In den Historienbibeln IIa bei Lauber scheint dieser Name allerdings vermehrt mit n geschrieben worden zu sein.] genant die gebar jme zwen süne genant her vnd Eman Dar noch nam er aber ein wip hies thamar Die gebar jme zwen súne einer genant Paris der ander Sara |
(München, Cgm 1101, 70v) ¶Vnd waz sin dochter sne genant die gebar yme zwen süne einer genant paris der ander genant sara |
Textstelle 3:
Weltchronik |
Auflösung A |
Auflösung B |
Auflösung C |
Auflösung D |
---|---|---|---|---|
[V. 10405] ‚mir ist des wol ze můte in minem willen, das ich niemer me gesehe dih!‘ ‚das tů‘, sprah der kúnig, ‚odir ih heize bi namen teoden dih!‘ [V.10410] Moýses der reine man von Pharaone kerte dan, do er sin angesiht verswor. hin zů sinim kúnne er fůr und gap in gůtes trostes vil. |
(Zürich, 101r) Do / sprach moyses jch gloub das ich dich niemer me gesehe |
(Frauenfeld, 100r) Da sprach moÿses Jch gloube das ich dich niemer mer gesehen mag |
(München, Cgm 1101, 101v) Do sprach moyses jch gloub das ich dich niemer me gesehe Vnd fùr heim zü syme kùnige vnd gap in güten tröst |
(Dresden, A 50, 121v) Do sprach moises das du mich nit me hie sůchest ich gloube das ich dichnie mer me gesehe |
Textstelle 4:
Weltchronik |
Auflösung A |
Auflösung B |
Auflösung C |
Auflösung D |
---|---|---|---|---|
[V. 13831] Moýses zůzim do nam die eltisten von al der diet, die er im ze rate uz schiet, |
(Zürich, 130r) […] den eltisten von der diet beschiet er jn v̀s zú sime raute Do sprach |
(Frauenfeld, 138r) […] den Eltesten von der beschied er jme vff zü same Raute da sprach […] |
(München, Cgm 1101, 131v) den eiltesten von der diet beschiet er yme vs mit sime Rate |
(München, Cgm 206, 93r) den eltosten von der diet beschied er jm was zü seinem ratt |
Textstelle 5:
Weltchronik |
Auflösung A |
Auflösung B |
Auflösung C |
---|---|---|---|
[V. 16857] die boten vůren dannen sa, wise lúte als er die vant, unde besahen in dú lant eigenliche fur unde wider. |
(Zürich, 155v) Die botten fürnt hindan Vnd befülhent in die lante gar eigentlichen teilen |
(München, Cgm 1101, 155v) die botten füren hin danne ¶Vnd befülhen in die lant gar eigentlich |
(London, 200v) Die botten fürent hin dan hin dan in die lant gar eigentlich […] |
Verteilung der Varianten
Signatur |
Textstelle und Auflösung |
Textbestand |
||||
---|---|---|---|---|---|---|
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
||
London, British Libr., MS Add. 24917* |
C |
W+BdK |
||||
Dresden, Landesbibl., Mscr. A 50** |
B |
A |
D |
n. l. |
B |
W |
Dresden, Landesbibl., Mscr. A 49 |
B |
n. l. |
n. l. |
n. l. |
n. l. |
W+M |
Darmstadt, Universitäts- und Landesbibl., Hs. 1 |
B |
A |
D |
D |
B |
W+F+M |
München, Staatsbibl., Cgm 206 |
B |
A |
D |
D |
A |
W+P+F+M |
Mainz, Stadtbibl., Hs. II 64 |
A |
B |
C |
C |
fehlt |
W+F+M |
München, Staatsbibl., Cgm 1101 |
A |
B |
C |
C |
B |
W+F+M |
Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 7010 (W) 250*** |
B |
A |
B |
fehlt |
A |
W+F+M |
Berlin, Staatsbibl., Hdschr. 382 |
B |
A |
B |
B |
A |
W+F |
Frauenfeld, Kantonsbibl., Cod. Y 19 |
B |
A |
B |
B |
A |
W+F |
Augsburg, Staats- und Stadtbibl., 2° Cod. 50 |
A |
A |
fehlt |
A |
A |
W+F+M |
Bonn, Universitätsbibl., Cod. S 712 |
A |
A |
A |
A |
A |
W+P+F+M |
München, Nationalmuseum, Cod. 2502 |
A |
A |
A |
A |
A |
W+P+F+M |
Würzburg, Universitätsbibl., M. ch. f. 25 |
A |
A |
A |
A |
fehlt |
W+P+F+M |
Zürich, Zentralbibl., Ms. C 5*** |
A |
A |
A |
A |
A |
W+P+F+M |
Kopenhagen, Königl. Bibl., Cod. Thott. 123 2° |
W+P+F+M |
|||||
Nelahozeves, Lobkowitzsche Bibl., Cod. VI Ea 5 |
W+P+F+M |
* leere bzw. gestrichene Zellen verweisen auf nicht ausgewertete Textstellen.
** ‚n. l.‘ steht für nicht lesbare Passagen. In Dresden, A 49 ist dies einem schweren Wasserschaden der Handschrift geschuldet.
*** Durch weitere Textvergleiche deutet sich ein Vorlagenwechsel an, der in diesen knappen Tabellen nicht deutlich gemacht werden kann: Die Kölner Handschrift wechselt auf Blatt 163v von einer Vorlage des Frauenfelder Stranges zu einer des Stranges um München Cgm 1101.
Anhand der Verteilung der Varianten ist es möglich, Überlieferungsstränge zu benennen. Die Redaktion IIa geht auf fünf Überlieferungsstränge zurück. Der Strang der Londoner Handschrift kann nicht untersucht werden, da ein zweiter Überlieferungsträger als Vergleichsbasis fehlt.
Sehr uneinheitlich ist der Textbestand in der Gruppe um die Dresdener Handschriften. Dazu passt, dass in dieser Gruppe für keine zwei Handschriften die Lesarten in der ‚Weltchronik‘-Übertragung genau übereinstimmen. Über den gesamten Verlauf dieses Teils des Textes sind die Lesarten in dieser Gruppe höchst uneinheitlich und Vorlagenwechsel sind nicht auszuschließen. Eine Vorlage, auf die alle dieser Gruppe angehörenden Handschriften zurückgehen, ist nicht zu benennen, sie könnte aber bereits einige der hier mit ‚D‘ markierten Textvarianten enthalten haben, die keiner der anderen Stränge enthält. Dass Dresden, A 50 sowohl die Fortsetzung als auch das ‚Marienleben‘ fehlt, könnte durch das Beenden der Abschrift bei einem scheinbar eigenständig gewählten Kapitel erklärt werden: >Wie Atonias zů hulden kam< (fol. 282r). Wenige Kapitel eher bricht auch Dresden, A 49 die ‚Weltchronik‘ ab: >Wie dauit got sin opfer brahte vnd wie er die werckmeister vs sůchte< (fol. 185v). Darauf folgt in Dresden, A 49 allerdings das ‚Marienleben‘. Möglicherweise wurde dafür auch eine andere Vorlage genutzt. Der Darmstädter Handschrift fehlt nur der Psalter, die Fortsetzung ist vorhanden. Von welcher Vorlage diese abgeschrieben wurde, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht geklärt. München, Cgm 206 stellt die einzige Handschrift mit Psalter dar, die sicher einer anderen Gruppe zugewiesen werden kann als der um die Zürcher Handschrift. Da sie von der Kunstgeschichte nicht der ‚Lauberwerkstatt‘, dem Kontext, aus dem die übrigen Historienbibeln dieses Stranges stammen, zugeordnet wird (vgl. Bodemann. 2023 [a]), könnte es sich um die Abschrift einer eigenständigen Vorlage handeln. Diese Vorlage müsste aber im Bereich der ‚Weltchronik‘ enger mit der Gruppe um die Dresdener Handschriften verwandt sein.
Üblich ist der Psalter in der Gruppe um die Zürcher Handschrift. Die Historienbibeln dieser Gruppe beinhalten alle vier Textbestandteile. Nur bei der Handschrift Augsburg, 2° Cod. 50, wurde der Psalter ausgelassen, obwohl sie sicher diesem Strang angehört. Da diese Handschrift allerdings nicht wie die übrigen Handschriften dieses Überlieferungsstranges in der ‚Lauberwerkstatt‘ (vgl. Bodemann 2022 [a]) gefertigt wurde, könnte es sich auch hier um eine andere Vorlage handeln als die der Werkstatt.
Die mit ‚A‘ markierten Lesarten dieses Stranges bilden für (beinahe) jedes Textbeispiel die Variante, die in den meisten Handschriften aller Stränge vorkommt. Alle Textgruppen enthalten ‚A‘-Varianten.[^3 Nicht genauer untersucht werden konnte die Londoner Handschrift, deren Näheverhältnis zur Zürcher Gruppe noch zu klären ist.] Es deutet sich also an, dass die Überlieferungsstränge um die Dresdener Handschriften, um München, Cgm 1101 und um Frauenfeld in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Zürcher Überlieferungsstrang stehen. Für die Dresdener Gruppe ist diese Beobachtung aufgrund der komplexen Vorlagensituation, die auch den Textbestand betrifft, nicht näher zu schärfen.
Eine Konkretisierung des Verhältnisses des Zürcher Stranges zum Strang von München, Cgm 1101 und dem von Frauenfeld ist allerdings möglich: Diese beiden Stränge teilen entweder die Lesart ‚A‘ oder sie weichen ab. Diese Abweichungen sind nicht selten Kürzungen, Verballhornungen oder Bezugsfehler von ‚A‘ (vgl. Textstellen 1, 2, 4 und 5). Die Abweichungen von ‚A‘ im Strang um München, Cgm 1101 und Frauenfeld sind voneinander unabhängig. Sie treten niemals im jeweils anderen Überlieferungsstrang auf. Es kann also angenommen werden, dass die beiden Vorlagen, auf die die Stränge um München, Cgm 1101 und Frauenfeld zurückgehen, vom Strang um die Zürcher Handschrift abgeschrieben worden sind.
Der Textbestand der Gruppe um München, Cgm 1101 ist fest: Er beinhaltet die ‚Weltchronik‘, ihre Fortsetzung und das ‚Marienleben‘, aber nicht den Psalter. Der Gruppe um Frauenfeld fehlt das ‚Marienleben‘, sie enthält nur die ‚Weltchronik‘ mit ihrer Fortsetzung. Eine Ausnahme bildet hier die Kölner Handschrift, die das ‚Marienleben‘ enthält. Diese Handschrift bietet wieder ein etwas komplexeres Bild: Auf Blatt 163v wird der Vorlagenstrang gewechselt. Zuvor ist der Text dem Strang um Frauenfeld zuzuordnen, danach dem um München, Cgm 1101. Dieser Wechsel erklärt das Auftreten des ‚Marienlebens‘.
In den Gruppen um Zürich, München, Cgm 1101 und Frauenfeld tritt ein Vorlagenwechsel nur in diesem einen Fall auf. Das legt nahe, dass bereits bei der Anlage der Abschrift der Textbestand geplant und die entsprechende Vorlage gewählt wurde: eine Vorlage der Gruppe um Frauenfeld, um nur den alttestamentarischen Teil (die Prosaauflösung der ‚Weltchronik‘ mit der Fortsetzung) zu erhalten, eine Vorlage der Gruppe um München, Cgm 1101 für das Alte (‚Weltchronik‘ und Fortsetzung) und das Neue Testament (‚Marienleben‘) und eine Vorlage des Stranges um Zürich für beide Testamente und den Psalter. Denkbar wäre, dass diese Zusammenstellungen nach Aufträgen gewählt wurden. Wollte man nun spekulieren, könnte der Kölner Befund durch eine Veränderung des Auftrags erklärbar werden: Eine Vorlage mit Marienleben wurde nötig, nachdem ein großer Teil der Abschrift der ‚Weltchronik‘ bereits nach einer Vorlage der Gruppe um Frauenfeld abgeschlossen war. Sicher sind auch andere Szenarien möglich.
Momentan lässt sich nichts Genaueres zu den Handschriften aus Kopenhagen und Nelahozeves sagen, da beide noch nicht eingesehen werden konnten. Einzelabbildungen der Handschriften, beispielsweise bei Saurma-Jeltsch (vgl. Saurma-Jeltsch 2001: Abb. 115, 260, 314, 320 und Taf. 19 / 2) oder im KdiH (vgl. Bodemann 2022 [b] und vgl. Bodemann 2023 [b]) zeigen auch Textbruchstücke, die für beide Handschriften jeweils mit den Varianten der Gruppe um Zürich übereinstimmen, weshalb sie bis auf Weiteres dieser Gruppe zugeordnet werden sollen.
Abschließend ist festzuhalten, dass für zehn Handschriften (die Gruppen um Zürich außer Kopenhagen und Nelahozeves; sowie die Gruppen um München, Cgm 1101 und Frauenfeld) die Vorlagensituation weitgehend bestimmt werden konnte. Von den der ‚Lauberwerkstatt‘ zugeordneten Handschriften folgen alle der durch die Vorlagen vorgegebenen Textzusammenstellung. Ob Augsburg möglicherweise von einer anderen Vorlage abgeschrieben wurde als die Lauber-Handschriften der Zürcher Gruppe, ist nicht zu sagen. Dies weist darauf hin, dass der Vorlage eine gewisse Verbindlichkeit zugedacht wurde und dass ein willkürliches Kürzen einzelner Textpassagen nicht anzunehmen ist. Dass Überlieferungsstränge aber zum Teil nur aus einer einzigen oder zwei Handschriften bestehen und dass zwischen diesen Strängen solch gravierende Unterschiede im Textbestand herrschen, kann erklären, warum Aussagen über die Textbestände nicht generalisierbar sind. Verallgemeinerungen zum Textbestand können nur einzelne Überlieferungsstränge der Untergruppen betreffen und auch dann sind Ausnahmen möglich.