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Vorbemerkung

Vorbemer­kung

Sabine Griese

Die Beiträge des zweiten Online-Journals gehen aus einer Vorlesungsreihe hervor, die am Institut für Germanistik der Universität Leipzig konzipiert und im Wintersemester 2021/22 online durchgeführt wurde.[^1 Das Plakat der Vorlesungsreihe hier zum Download  ] Die Vorlesungsreihe stand unter dem Titel „Textdynamiken in der mittelalterlichen Literatur“ und sie ist ein Baustein der Germanistischen Institutspartnerschaft (GIP) zwischen Leipzig und Krakau, die unter dem übergreifenden Thema „Textdynamiken“ durch den DAAD für insgesamt sechs Jahre gefördert wird (2021 – 2026). Im Rahmen dieser Partnerschaft werden Prozesse der Dynamiken von Texten thematisiert und in Lehr- und Forschungszusammenhängen überprüft, wobei sowohl Sprach- als auch Literaturwissenschaft daran beteiligt sind, zudem Perspektiven der synchronen wie auch der diachronen Betrachtung gemeint sind. Die Vorlesung war ein erster Versuch unsererseits, diese Dynamiken in der mittelalterlichen Literatur zu beobachten und in einzelne Lektüren zu überführen. Diese Lektüren richteten sich primär an Studierende der Krakauer Germanistik, die keine intensiven mediävistischen Vorkenntnisse besaßen, da das Lehrangebot in der Krakauer Germanistik das Mittelalter nicht oder nur am Rande vorsieht. Die Herausforderung bestand für uns also darin, den Gegenstand gut zu portionieren, klar und deutlich zu formulieren und das Grundsätzliche zu fokussieren. Und dabei natürlich nicht zu langweilen!

Die Vorlesung wurde von verschiedenen Personen durchgeführt, die als Mitarbeiter:innen am Institut für Germanistik der Universität Leipzig im Fachbereich der Germanistischen Mediävistik tätig sind oder dem Institut angehören. Dadurch sollte die Dynamik auch in der Umsetzung als Prinzip bewahrt werden: Unterschiedliche Herangehensweisen ermöglichen ein Spektrum an Antworten, verschiedene Methoden und Texte wurden ausgewählt und vorgestellt und in Close Readings überführt. Dabei sollten Eigenheiten der mittelalterlichen Literatur aber auch das Rahmenthema des Projekts im Zentrum stehen.

Das Thema der GIP benennt ein Phänomen, das die Literaturwissenschaft und die Sprachwissenschaft gleichermaßen betrifft, das wir mit dem Label der „Textdynamiken“ benannt haben. Es betrifft Veränderungen von Texten, Bewegungen und Beweglichkeit von Texten, es betrifft einen mehrfachen und regelmäßig mitzudenkenden Medienwechsel und grundsätzlich den mittelalterlichen Textbegriff. Wir werden erkennen, dass es nicht nur um Texte gehen wird, sondern dass wir uns auch mit medialer Übertragung auseinandersetzen und notgedrungen auseinandersetzen müssen, wenn wir über mittelalterliche Literatur nachdenken. Weiterhin werden textinterne Bewegungen und Bezugnahmen mit der Vokabel der Textdynamik gemeint.

An der Vorlesungsreihe waren folgende Kolleg:innen der Universität Leipzig beteiligt: Helmut Beifuss, Sarah Bender, Frank Buschmann, Markus Greulich, Michael Rupp und ich selbst.[^2 Die Vorlesung von Sarah Bender über die „Dynamik der Lesart. Der Protagonist als frommer Sünder, Ritter und Papst in Hartmanns von Aue ‚Gregorius‘“ musste aus Krankheitsgründen entfallen und konnte leider auch nicht in einen Beitrag überführt werden.] Bei der Auswahl der Texte waren wir bemüht, klassische und ‚typische‘ Texte und Phänomene zu berücksichtigen, eindrückliche Geschichten und unerwartete Gedankenspiele vorzustellen. So wählten wir das ‚Schneekind‘, Lieder des Minnesangs, ‚Nibelungenlied‘ und ‚Nibelungenklage‘, Hartmanns von Aue ‚Iwein‘ und Hartmanns ‚Gregorius‘, Wolframs von Eschenbach ‚Willehalm‘ sowie aus der Märenliteratur den anonym überlieferten Text ‚Aristoteles und Phyllis‘ sowie Hans Rosenplüts ‚Fahrenden Schüler‘aus. Natürlich wären hier noch viele weitere Texte und Themen nötig (gewesen), um ‚das Mittelalter‘ vorzustellen, aber die Vorlesung war ein erster Versuch unsererseits, Perspektiven für die Krakauer Studierenden zu entfalten. Die lebhaften Diskussionen nach den Vorträgen zeigten uns, dass es gelungen ist.

Beide Aspekte, der Einführungscharakter und das Close Reading, wurden bei der Umsetzung in die Publikation bewusst bewahrt. Wir möchten dadurch Texte vorstellen, übersetzen und durch diese Lektüren auf Phänomene der mittelalterlichen Literatur aufmerksam machen, die zeigen, wie dynamisch, aber auch wie grundsätzlich die Literatur des Mittelalters ‚denkt‘, formuliert und erzählt. Einiges davon war für die Studierenden der Krakauer Germanistik überraschend und ist für uns beim Wiederlesen noch immer bedenkenswert. Wir hoffen, dass wir mit diesen Einführungen einige Leser und Leserinnen für die mittelalterliche Literatur gewinnen können. Für ihre sorgfältige Durchsicht der Beiträge möchte ich Anna Luise Klemm sehr herzlich danken.

Die einzelnen Beiträge thematisieren folgende Bereiche und Phänomene der Literatur des Mittelalters:

Sabine Griese eröffnet die Vorlesungsreihe mit einigen einführenden Überlegungen: Die deutsche Literatur des Mittelalters aus der Zeit zwischen 800 und 1500 ist erstaunlich vielfältig, nicht nur hinsichtlich ihres Themenspektrums, sondern auch hinsichtlich ihrer Textbewegungen und Textveränderungen. Mit dem Titel „Textdynamiken“ soll dies benannt und die Variabilität und Varianz gefasst werden. Ein Werk ist nicht nur in einer fest gefügten Fassung erhalten, sondern die ‚Überlieferung‘ mittelalterlicher Literatur arbeitet weiter an einem (Autor-)Text. In der ersten Vorlesung wird diese Frage des Textes und seiner medialen Bewegung erläutert und an zwei Beispielen dargelegt, es geht dabei um Schneekinder und um den Tristan.

Michael Rupp thematisiert einen Klassiker des Mittelalters, den Minnesang: Im 12. Jahrhundert kommt an deutschen Höfen eine neue Form gesungener Liebeslyrik auf, die ihre wichtigsten Impulse von provenzalischen und französischen Vorbildern erhält. Sie entwickelt bald eine eigene, sehr breite Tradition und wird zu einer der wichtigsten Repräsentationsformen der höfischen Kultur, was man auch an den prunkvollen Handschriften ablesen kann, in denen Minnesang bis heute überliefert wird. Gerade an ihnen kann man beobachten, welche Dynamik die Texte in ihrer Überlieferung entwickeln. Der Beitrag führt an ausgewählten Beispielen die wichtigsten Formen und Entwicklungsstufen des Minnesangs exemplarisch vor.

Es folgt der Textverbund von ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘, den Sabine Griese aufgreift: Das ‚Nibelungenlied‘ (um 1200 verschriftlicht) ist einer der wuchtigsten und eindringlichsten Texte des Mittelalters, dessen Untergangserzählung verstört und auch fasziniert, da sie so unausweichlich erscheint und bereits am Beginn der Erzählung präsent ist. Kriemhild wird von einer anmutigen und selbstbewussten höfischen Königstochter zu einer der Rache verfallenen, grausamen Mörderin (gemacht). Die Literatur des Mittelalters selbst zeigt eine Irritation darüber und das Nachdenken über das Epos in der Überlieferung des Textes auf, in den meisten Handschriften folgt dem strophischen ‚Nibelungenlied‘ der Verstext der ‚Nibelungenklage‘ nach, der das Geschehen reflektiert, kommentiert und auf das Leben nach dem Untergang, auf das Bewältigen des Geschehens, die Zukunft der Überlebenden und das Fortleben der Geschichte in der Erinnerung setzt. In punktuellen Ausschnitten und Lektüren wird dieser Textverbund interpretiert.

Markus Greulich führt den Artusroman als Themenfeld in die Vorlesungsreihe ein. Hartmanns von Aue zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstandener Roman ist nach dem ‚Erec‘ sein zweiter Artusroman in deutscher Sprache. Er berichtet vom jungen Ritter Iwein, der an einer wunderbaren Quelle den Herrscher des Quellenreichs tötet. Er flieht in seine Burg und heiratet schließlich dessen Witwe. Doch Frau und Herrschaft wird er kurz darauf verlieren und nackt und sinnenlos in einem Wald herumirren, bevor er über mehrere Abenteuer gemeinsam mit einem ihn begleitenden Löwen seine Gattin und sein Ansehen zurückerobern kann. Hartmanns ‚Iwein‘ setzt auf dem nur wenige Jahrzehnte zuvor entstandenen ‚Yvain‘ Chrétiens de Troyes auf. Damit ist er Teil des französisch-deutschen Kulturtransfers im Hochmittelalter. Hartmann übertrug jedoch nicht nur Chrétiens Text, sondern amplifizierte und variierte ihn wiederholt an neuralgischen Stellen. Der Beitrag bietet zuerst eine kurze Einführung zu Hartmann von Aue und seinem ‚Iwein‘ (inklusive ausgewählter bildlicher Darstellungen). Danach widmet er sich insbesondere dem Beginn von Hartmanns Artusroman. Denn hier ist nichts so eindeutig wie es auf den ersten Blick scheinen mag: Wer spricht wann und weshalb zu wem? Welche Effekte ergeben sich aus der Verknüpfung unterschiedlicher Zeitebenen und Sprecher? Warum entschwindet der (primäre) Erzähler für eine lange Passage aus dem Erzählprozess?

Helmut Beifuss zieht einen weiteren Klassiker des Mittelalters heran: Wolfram von Eschenbach gehört zu den drei profiliertesten Epikern um 1200, die gerne als die Vertreter der ‚höfischen Klassik‘ bezeichnet werden. Mit dem ‚Willehalm‘ vollzieht Wolfram die Abkehr von höfischen Stoffen und wendet sich einer Materie zu, die, aus damaliger Sicht jedenfalls, als historisch einzustufen ist. Offensichtlich traf er damit den Nerv der Zeit, denn sein Werk würde heute in Bestsellerlisten ganz oben stehen. Das Werk ist überaus vielschichtig. Aus einer Auseinandersetzung, deren Ursachen privater Natur waren, wurde ein Glaubenskrieg, bei dem es schließlich auch um den Anspruch der Weltherrschaft ging. Willehalm floh mit Arabel, der Ehefrau des heidnischen Königs Tybalt. Sie lässt sich taufen und heißt fortan Gyburg. Inmitten von kriegerischem Geschehen agiert Gyburg als Protagonistin. Gyburg tritt – als getaufte Heidin – für ihren neuen, den christlichen Glauben ein, sie verteidigt ihn gegen die verbalen Angriffe ihres heidnischen Vaters und argumentiert dabei durchaus auf der Höhe der theologischen Diskussion der Zeit. Eine andere Haltung scheint Gyburg später einzunehmen. Während der Ratsversammlung der christlichen Fürsten ergreift Gyburg das Wort, nun bittet sie die christlichen Kämpfer um die Schonung der heidnischen Feinde. Was kann Schonung der Feinde inmitten kriegerischer Auseinandersetzungen bedeuten? Geht es um Toleranz gegenüber den Andersgläubigen?

Markus Greulich thematisiert in seinem zweiten Beitrag die Märenliteratur: Der von einer schönen jungen Frau überlistete Weise ist ein weitverbreitetes Erzählmotiv. Es wurde im europäischen Mittelalter auf einen der wichtigsten Gelehrten der Antike (und des westlichen Denkens überhaupt) appliziert: Aristoteles. Der Beitrag setzt sich mit einer Ausformung dieser Geschichte, mit der vollständig-überlieferten Fassung der mittelhochdeutschen Versnovelle ‚Aristoteles und Phyllis‘, auseinander. Sie berichtet davon, wie Aristoteles Lehrer am Königshof wird. Er unterrichtet dort den jungen (und natürlich begabten) Königssohn Alexander – der später Alexander der Große genannt werden wird. Doch die Liebe funkt dazwischen. Anstatt dem Unterricht zu folgen, sitzt der Schüler brummend wie ein Bär im Unterricht. Er hat sich in eine junge Frau verliebt. Aristoteles gelingt es, die Beziehung zu unterbinden. Doch die schöne Frau weiß sich zu rächen und wird Aristoteles dazu bringen, sich wie ein Pferd satteln und sich durch den Palastgarten reiten zu lassen.

Die Versnovelle ‚Aristoteles und Phyllis‘ zeichnet sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus: So besitzt die Verführerin nur in der deutschsprachigen Tradition auch einen Namen: Phyllis. Dieser ist dem literarisch-gebildeten Publikum vertraut. Doch hier begegnet ihm eine durchaus ungewöhnliche Figur. Darüber hinaus werden an mehreren Textstellen Verse aus Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘ zitiert. Weshalb? Welche Effekte kann dies haben? Und überhaupt: Wenn Aristoteles am Ende enttäuscht auf eine Insel flieht und dort ein Buch schreibt. Was ist das für ein Ende? Was fangen wir mit einem solchen Textschluss an?

Am Ende steht Hans Rosenplüts (*um 1400, †1460) Märe ‚Der fahrende Schüler‘, das Frank Buschmann analysiert. Das Märe ist in zwei Fassungen überliefert; zu je drei handschriftlichen Textzeugen gesellen sich bei einer Fassung noch ein Druck Konrad Kachelofens (Leipzig, um 1495) und einer Matthäus Elchingers (Augsburg, nach 1520). Im Märe entdeckt ein gewitzter reisender Scholar den Ehebruch einer Bäuerin mit einem Pfarrer. Als der betrogene Ehemann unerwartet zurückkehrt, nutzt der Scholar die Situation geschickt, um die ihm von der Ehefrau zunächst versagte Unterkunft für die Nacht doch noch zu erhalten. Dazu führt er sowohl den leichtgläubigen Bauern als auch den um sein Leben bangenden Pfarrer vor, während die Bäuerin als lachende Dritte ungeschoren davonkommt.

In dem Beitrag geht es einerseits darum, inwiefern Eingriffe in und Änderungen am Text als dynamische Prozesse zu begreifen sind, die Rückschlüsse auf die Text- und Tradierungsgeschichte zulassen. Dazu wird ein Überblick zur Überlieferung geboten sowie anhand exemplarischer Stellen vorgeführt, wie sich Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Textzeugen ermitteln und deuten lassen. Andererseits soll das – durchaus unterhaltsame – Märe selbst in den Blick geraten, wobei Fassungsunterschiede in die Analyse und Interpretation einzubeziehen sind.

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