Textdynamiken und mittelalterliche Literatur –
Eine Einführung
Was lesen wir, wenn wir einen mittelalterlichen Text lesen? Mit dieser Frage möchte ich diesen Beitrag eröffnen und das Thema der Textdynamiken daran erläutern. Die Frage zielt darauf ab, sich den Status und den Zustand eines Textes, den man liest, vor Augen zu führen. In einem ersten Schritt werde ich einen kurzen Verstext vorstellen, den wir das ‚Schneekind‘ nennen. Dafür wähle ich die Fassung A, das ‚Schneekind A‘, aus.[^1 Das ‚Schneekind‘ wird zitiert nach den Fassungen A und B, die in folgender Anthologie synoptisch abgedruckt und ins Neuhochdeutsche übersetzt sind: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hg., übersetzt und kommentiert von Klaus Grubmüller, Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23 / Bibliothek deutscher Klassiker 138), S. 82–93, ein Kommentar dazu findet sich auf S. 1055–1063. Das ‚Schneekind A‘ ist auch abgedruckt in: Deutsche Versnovellistik des 13. bis 15. Jahrhunderts (DVN). Band 1/1: Nr. 1–38. Hg. von Klaus Ridder und Hans-Joachim Ziegeler, Berlin 2020, S. 49–54 (Nr. 13), das ‚Schneekind B‘ in: Deutsche Versnovellistik des 13. bis 15. Jahrhunderts (DVN), Band 4: Nr. 125–175. Hg. von Klaus Ridder und Hans-Joachim Ziegeler, Berlin 2020, S. 291–294 (Nr. 154).] Nach der Lektüre und Vorstellung stelle ich noch einmal die Frage: „Was lesen wir, wenn wir einen mittelalterlichen Text lesen?“, die wir danach beantworten, indem wir weitere Fragen stellen.
Schauen wir ohne weitere Einleitung auf den Text, und zwar Abschnitt für Abschnitt:[^2 Der Textabdruck folgt dem Text bei Grubmüller, Novellistik; der mittelhochdeutsche Text wird im Anschluss von mir ins Neuhochdeutsche übersetzt, die Übersetzung bei Grubmüller wird an einigen Stellen angepasst und verändert.]
Ez het ein koufman ein wip,
diu was im liep als der lip.
er wær ir liep, des jah ouch sie,
iedoch gewan ir herze nie
5 die warheit darinne:
daz waren valsche minne.
‚Ein Kaufmann hatte eine Frau, die er wie sein eigenes Leben liebte. Sie liebe ihn auch, sagte sie. Doch das war keine Herzenswahrheit. Das war trügerische Liebe.‘
ez geschach bi einen ziten,
niht langer wold er biten,
von sinem hus fuor er
10 mit koufe durch gewinnes ger.
er huop sich uf dez meres fluot,
als noch manic koufman tuot.
do kom er in ein fremedez lant,
da er guoten kouf inne vant.
15 er beleip durh gewinne
driu jar darinne,
daz er nie wider heime quam,
unz daz vierde jar ende nam.
‚Eines Tages geschah es, dass er, der Kaufmann, nicht länger bleiben wollte, er brach mit seinen Waren von zu Hause auf, um Gewinn zu machen. Er begab sich auf das Meer, wie es noch heute viele Kaufleute tun. Da kam er in ein fremdes Land, in dem er gute Geschäfte machte. Er blieb dort wegen des Gewinns drei Jahre und fuhr nicht nach Hause, bis das vierte Jahr zu Ende gegangen war.‘
sin wip in minneclichen enphienc,
20 ein kindelin mit samt ir gienc.
do vragt er der mære,
wes daz kint wære.
si sprach: „mich geluste din
do gie ich in min gertelin.
25 des snewes warf ich in den munt,
do wurden mir din minne kunt,
do gewan ich ditze kindelin.
ze minen triuwen, ez ist din.“
‚Seine Frau empfing ihn freundlich, ein kleines Kind ging an ihrer Hand. Da fragte er, wem das Kind gehöre. Sie sagte: Mich verlangte nach dir, da ging ich in meinen Garten und warf mir ein wenig Schnee in den Mund. So erfuhr ich deine Liebe und ich empfing dieses Kind. Ehrenwort, es ist deins.‘
„ja maht du vil wol war han,
30 wir suln ez ziehen“, sprach der man.
er braht si des niht inne,
daz er valscher minne
an ir was worden gewar
unz dar nah wol über zehen jar.
‚Ja, du hast bestimmt Recht. Wir werden es aufziehen, sprach der Mann. Er ließ sie über zehn Jahre nicht merken, dass er die trügerische Liebe an ihr sehr wohl erkannt hatte.‘
35 er lert daz kint under stunden
mit hæbechen unt mit hunden,
mit schachzabel unt mit vederspil
maniger hant freude vil,
mit zuhte sprechen unt swigen,
40 herpfen, rotten unt gigen
unt allerhande saitenspil
unt ander kurzewile vil.
‚Er unterrichtete das Kind in der Jagd mit Habicht und Hunden, lehrte es das Schachspiel und den Umgang mit dem Falken, weiterhin viele Vergnügungen, auch, wie es mit Anstand sprechen und auch schweigen sollte, er lehrte es, Harfe, Rotte und Geige zu spielen und allerhand Seitenspiel und weitere Unterhaltungen.‘
nu hiez er aber die knehte
diu schef bereiten rehte
45 mit spise nah dem alten site.
des snewes sun fuort er mite.
er huop sich uf daz wilde mer,
die unde sluogen in entwer.
si sluogen in in ein schœne lant,
50 da er einen richen koufman vant.
‚Nun ließ er die Knechte abermals die Schiffe rüsten, mit Speise ausstatten, wie es Sitte war. Den Sohn des Schnees nahm er mit. Er begab sich auf das wilde Meer, die Wellen warfen ihn (und das Schiff) hin und her; sie brachten ihn in ein schönes Land, wo er einen reichen Kaufmann traf.‘
der vragt in sa der mære,
wa sin koufschatz wære.
des snewes sun wart dafür gestalt,
mit drinhundert marken er in galt:
55 daz was ein grozer rihtuom.
ouch het er des vil grozen ruom,
da er daran niht was betrogen,
daz er daz gouchelin het gezogen.
der schatz braht im in sinen gwalt,
60 daz im zwir als vil galt.
‚Der reiche Kaufmann fragte ihn sofort, wo seine Waren wären. Der Sohn des Schnees wurde als die Ware ausgegeben, für dreihundert Mark erwarb dieser (reiche Kaufmann) ihn. Das war viel Geld und ein großer Gewinn. Auch hatte er (der Ehemann) dadurch großes Ansehen erworben, dass er das Kuckuckskind erzogen und sich nicht hatte betrügen lassen. Der Preis brachte ihm so viel ein, dass er zweifach entschädigt wurde.‘
nu beleip er niht langer da,
mit fröuden fuor er heim sa.
sin husvrowe gegen im gienc,
minneclichen si in enphienc.
65 si vragt in: „wa ist daz kint?“
er sprach: „mich sluoc der wint
beidiu hin unt her
uf dem wilden mer entwer.
do wart daz kint naz al da
70 unt wart ze wazzer iesa,
wan ich het von dir vernomen,
daz er von snewe wær bekomen.
‚Nun blieb er nicht länger dort und fuhr mit Freuden umgehend nach Hause. Seine Ehefrau kam ihm entgegen, freundlich nahm sie ihn in Empfang. Sie fragte ihn: Wo ist das Kind? Er sagte: Mich trieb und warf der Wind auf dem wilden Meer hin und her, dabei wurde das Kind nass und wurde sofort zu Wasser. Denn ich hatte ja von dir gehört, dass es aus Schnee entstanden sei.‘
ist aber daz war, daz ich hœre sagen,
sone darft du in nimmer geklagen.
75 dehein wazzer vlieze so sere,
ez habe die widerkere
innerthalbe jares frist
ze dem urspringe dannan ez komen ist.
so solt ouch du gelouben mir,
80 ez fliuzet schiere wider zu dir.“
‚Ist aber wahr, was ich sagen höre, dann brauchst du dies nicht zu beklagen: Kein Wasser fließt so stark, dass es nicht innerhalb der Jahresfrist zurückkehrt zu dem Ursprung, von dem es gekommen ist. So musst du mir glauben, es fließt sicher bald wieder zu dir zurück.‘
sus het er widernullet,
daz er was betrullet.
swelh man sich des bedenket,
ob in sin wip bekrenket,
85 daz er den schranc wider stürzet
unt mit listen liste lürzet:
daz ist ein michel wisheit,
wan diu wip habent mit karcheit
vil manigen man überkomen,
90 als ir e dicke habt vernomen.
‚So hatte er gerächt, dass er betrogen worden war. Wenn ein Mann Verdacht schöpft, dass seine Frau ihn verletzen würde, dann ist es eine große Klugheit, dass er den Betrug zurückgibt und die List mit List beantwortet. Denn Frauen haben mit ihrer Hinterlist schon viele Männer hintergangen, wie ihr oft gehört habt.‘
Soweit der Textdurchgang durch das ‚Schneekind A‘, neunzig Verse umfasst diese kurze Geschichte, die von schauriger Pragmatik und Logik ist.
Texte des Mittelalters sind anders als die Gegenwartsliteratur (der eigenen Nationalsprache) erst einmal sprachlich fremd und fern, das Mittelhochdeutsche (oder die ältere Sprachstufe einer anderen Nationalsprache) muss übertragen werden in eine Gegenwarts-Sprache. Deswegen haben wir uns diesen langsamen Textdurchgang mit anschließender Übersetzung erlaubt, um den Inhalt des Textes klar vor Augen zu haben. Inhaltlich und thematisch müssen wir uns ebenfalls ein wenig eindenken, der Kaufmann beispielsweise ist ein Berufsstand, den wir heute noch immer kennen, als Geschäftsmann, der in der Welt herumreist, heutzutage eher mit dem Flugzeug als mit dem Schiff, auch wenn uns Containerschiffe, die Waren über die Meere bringen, noch recht vertraut sind. Während der Mann geschäftlich unterwegs ist, betrügt ihn seine Ehefrau. Auch das ist eine Möglichkeit, mit der heute noch zu rechnen ist.
Wie agiert und reagiert der Mann in dieser Geschichte? Einleitend wird er als derjenige genannt, der seine Frau inniglich liebe, während ihre Liebe nicht aufrichtig war, sie wurde als valsche minne markiert (V. 6). Der Ehemann nimmt den Betrug wortlos hin, erzieht den Sohn, der angeblich aus Schnee geboren wurde, verantwortungsvoll und aufwendig und nimmt ihn dann beizeiten mit auf Geschäftsreise. Dort verkauft er ihn und macht doppelten Gewinn mit dem Kind, indem er Geld verdient und sich zugleich an seiner Frau rächt. Diese konfrontiert er nach seiner Rückkehr mit ihrer Lüge der Schnee-Empfängnis und sagt, der Junge sei durch den Sturm auf dem Meer von Wasser getroffen und dadurch zu Wasser geworden, er würde aber binnen Jahresfrist sicherlich wieder zu ihr zurückfließen. Mit dieser Aussage knüpft er an ein biblisches Sprichwort an. Kohelet 1,7 sagt: ‚Alle Flüsse fließen ins Meer, das Meer wird nicht voll. Zu dem Ort, wo die Flüsse entspringen, kehren sie zurück, um wieder zu entspringen.‘[^3 Der Text der Bibel wird zitiert nach: Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung. Kommentierung von Eleonore Beck, Stuttgart 1980, hier S. 809.] Es ist die Vorstellung eines Kreislaufes der Natur, die der Kaufmann hier formuliert und die List (und den Betrug der Frau) mit einer zweiten List (seiner eigenen) lürzet (V. 86), wie der Erzähler lobt. Schließlich haben schon viele Frauen ihre Männer betrogen. Hier rächt sich nun ein Ehemann für den Vertrauensverlust und Ehebruch, den sie während seiner Abwesenheit betrieben hat. Die Frau, die den Mann betrogen und ihr Kind verloren hat, kommt nicht mehr zu Wort, ihre Reaktion auf die Rache des Ehemannes ist nicht Teil der Geschichte, auch der Fortgang der Ehe wird nicht erzählt.
Nun müssen wir einige Fragen stellen, die uns zu dem Thema der Textdynamiken zurückbringen:
Was hat das ‚Schneekind‘ mit Textdynamik zu tun?
Von wem stammt der Text? Wer ist der Autor?
Von wann stammt der Text? Was wissen wir hierzu?
Hier beginnen einige Schwierigkeiten. Einen Autor dieses Textes kennen wir nicht. Auch die Datierung des Textes ist nicht eindeutig zu benennen.[^4 Grubmüller datiert die Fassung A „vor 1280“ (Grubmüller, Novellistik, S. 1056).] Liegt uns also ein Text ohne Autor und ohne zeitliche Verankerung vor? Steckt diese Unbestimmtheit hinter meiner Frage danach, was wir überhaupt lesen, wenn wir einen mittelalterlichen Text lesen?
Mittelalterliche Literatur ist vielfach anonym überliefert, wir kennen in den Fällen keinen Autor mit Namen, der wie im vorliegenden Fall mit einem Text vom Schneekind zu verbinden wäre.
Die Geschichte vom Schneekind ist eine weit verbreitete Geschichte, sie liegt nicht nur in dieser Version A vor, die wir uns gerade angesehen haben; das deutete ja bereits meine Einschränkung an. Wenn wir eine Fassung A lesen, dann gibt es mindestens noch eine Fassung B dieses Textes. Aber nicht nur diese zwei deutschsprachigen Vers-Fassungen der Geschichte sind existent, sondern eine ganze Reihe von Texten, gut bezeugt im französischen und deutschen Sprachraum, deren „lateinische und volkssprachige schriftliterarisch überlieferte Fassungen nur Reste eines vor allem im Medium der Mündlichkeit lebenden Narrativs sind.“[^5 Nikolaus Henkel: Reduktion als poetologisches Prinzip. Verdichtung von Erzählungen im lateinischen und deutschen Hochmittelalter, in: Die Kunst der brevitas. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters. Rostocker Kolloquium 2014. In Verbindung mit Ricarda Bauschke-Hartung und Susanne Köbele hg. von Franz-Josef Holznagel und Jan Cölln (Wolfram-Studien XXIV), Berlin 2017, S. 27–55, hier S. 38.] Von einem Schneekind hat man in vielen europäischen Sprachen erzählt, es scheint sich um einen europaweit bekannten Schwank zu handeln.[^6 Dazu vgl. Grubmüller, Novellistik, S. 1057–1059; Volker Schupp: ‚Das Schneekind‘, in: 2 VL 8, 1992, Sp. 774–777 und Henkel, Reduktion.] Das ‚Schneekind‘ bewegt sich im Mittelalter also in verschiedenen Sprachen und geographischen Räumen Europas.
Anhand der Geschichte vom Schneekind hat man jedoch auch im Schulzusammenhang pointiertes Erzählen eingeübt. Galfried von Vinsauf († 1210), der Lehrer des späteren Richard Löwenherz (Richard I., König von England von 1189–1199), hat sie in sein rhetorisch-poetologisches Handbuch aufgenommen (die ‚Poetria nova‘), und zwar im Abschnitt zur Abbreviatio, also im Abschnitt zur Frage, wie man eine Geschichte möglichst knapp unter Beibehaltung aller wichtigen Aspekte erzählen könne. Die Geschichte vom ‚Schneekind‘ kann man rhetorisch versiert in nur zwei Verse bringen, wie die folgende lateinische Kurzfassung zeigt:
De nive conceptum quem mater adultera fingit
Sponsus eum vendens liquefactum sole refingit.
‚Den (Knaben), von dem die ehebrecherische Mutter vortäuscht (fingit), er sei vom Schnee empfangen, verkauft der Gatte, und sagt, im Gegenzuge täuschend (refingit), die Sonne habe ihn schmelzen gemacht.‘[^7 Lateinischer Text und Übersetzung sind zitiert nach Henkel, Reduktion, S. 40.]
In diesen zwei lateinischen Versen steckt die ganze Geschichte; hier wird nicht ausführlich erzählerisch entfaltet, keine Erziehung des Kindes, keine Ausrüstung, keine Reise sind erwähnt, allein die Pointe und die List-Gegenlist-Logik ist hier umgesetzt; das Stichwort Schnee fällt im zweiten Wort (nive), und sofort eröffnet sich der bekannte Kontext der Geschichte. Kurzfassungen setzen offenbar ein Wissen von der Geschichte voraus oder zumindest einen Wissenden, der das andere Publikum informieren kann.
In dieser lateinischen Kurz-Version wird auch eine Änderung in der Erzählung erkennbar: das Schneekind wird hier von der Sonne geschmolzen, das ist im lateinischen Vers die Pointe, es ist nicht durch Wasser zu Wasser geworden. Und das erinnert wiederum an die mittelhochdeutsche Fassung B des ‚Schneekinds‘. Denn dort fährt der Kaufmann mit dem Sohn nach Ägypten und in der Sonne der Wüste schmilzt das Kind, so lautet die Antwort der Ehefrau gegenüber:
do er kam in egipte lant,
da zerflosz er in dem sant
von der sunnen hitz (‚Schneekind B‘, V. 69–71).[^8 Vgl. Grubmüller, Novellistik, S. 90.]
Das sind inhaltliche Veränderungen einer Geschichte (Wasser – Sonne), sprachliche Veränderungen und Sprachwechsel (lateinisch – deutsch), Gattungswechsel, ein Zweizeiler auf Latein, ein Verstext im Deutschen, die wir als Textbewegungen fassen können. Eine Geschichte bewegt sich in verschiedenen Zusammenhängen des Erzählens, ein Text gerät in Bewegung. Am Text, an der Geschichte wird erkennbar gearbeitet, vom Schneekind wird auf unterschiedliche Weise erzählt, es wird geformt und verändert.
Fassung B des ‚Schneekinds‘ ist ebenfalls eine deutschsprachige Versversion dieser Geschichte, aber sie beginnt bereits abweichend, hat eine andere Pointe (nämlich Hitze und Sonne in Ägypten), umfasst zwar ebenfalls 90 Verse, ist also exakt gleich lang, ist jedoch aufgrund ihrer Änderungen als eigenständige Fassung zu bewerten. Auch hier ist kein Autor genannt. Im ‚Schneekind B‘ wird der Geschichte ein Paratext von vier Versen vorangestellt:
Kain laster er gesat,
der untrü wider gat.
Der ist och ain wiser man,
der stat wol gebiten kan. (‚Schneekind B‘, V. 1–4)[^9 Vgl. Grubmüller, ebd., S. 82.]
Hier schaltet der Erzähler eine Vorbemerkung vor die eigentliche Geschichte, die gewisse Wertungen formuliert: ‚Derjenige, der Untreue erwidert, sät kein Laster aus.
Derjenige ist sogar ein kluger Mann, der eine Situation aushalten (und dabei auf eine gute Gelegenheit warten) kann.‘
Ist der Erzähler parteiisch? Ist er mit diesen Worten offen auf der Seite des Mannes, der keine Schandtat begeht, wenn er das Kind verkauft und seiner Frau durch diese Racheaktion die Antwort auf ihre Untreue gibt? Der Ehemann sei sogar klug, dass er den richtigen Zeitpunkt für seine Reaktion abwarte und nicht die Ehefrau verstoße, eventuell sogar verprügele und bestrafe, wie wir es aus anderen literarischen Texten kennen.[^10 Siegfried bestraft Kriemhild durch Schläge, weil sie die Wormser Königin Brünhild im sogenannten Frauenstreit der 14. Aventiure beleidigt hat: ‚Nibelungenlied‘, Str. 894 (Kriemhild erwähnt die Strafe später vor Hagen). Vgl. Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung und Kommentar. Hg. von Joachim Heinzle, Berlin 2015 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 51), hier S. 286f.] Die Untreue der Frau muss von dem betrogenen Mann klug beantwortet werden, so formuliert diese Einleitung; wie es in der Geschichte erfolgt, sei es keine Untat. Ist das eine klare Beeinflussung der Leser und Hörer oder ist dies eine satirische Überhöhung? Wir sehen auf jeden Fall bereits hier am Texteingang Veränderungen am Text, Erweiterungen der Geschichte, Bewegungen im Wortlaut. Diese Veränderungen, Erweiterungen und Bewegungen können wir als Textdynamiken bezeichnen, um die es in unserem Projekt geht.
Das ‚Schneekind A‘ stammt aus dem 13. Jahrhundert, das ‚Schneekind‘ B ist später entstanden.[^11 Schupp (‚Das Schneekind‘, Sp. 775) datiert B nur als „etwas später als A“, Grubmüller hingegen erwägt einen längeren zeitlichen Abstand: Fassung A „vor 1280“, Fassung B „ist deutlich jünger, genauere Anhaltspunkte fehlen (Ende 14. Jahrhundert?)“ (Grubmüller, Novellistik, Sp. 1056).] Der Stoff (die materia) ist jedoch älter und vom 11. bis ins 19. Jahrhundert verbreitet,[^12 Schupp, ‚Das Schneekind‘, Sp. 775.] vorerst in lateinischer Sprache, der Gelehrtensprache, dann auch übertragen in viele europäische Sprachen, in Liedern und Texten wie den vorgestellten.[^13 Die erste literarische Umsetzung liegt in einem lateinischen Schwank, dem ‚Modus Liebinc‘, vor, dazu vgl. Volker Schupp: ‚Modus Liebinc‘, in: 2 VL 6, 1987, Sp. 630–632.] Die Erzählung lebt weit über das Mittelalter hinaus. Dass sie auch im Lateinischen vorliegt, zeigt uns, dass sie nicht nur zur Populärliteratur zu zählen ist, sondern auch in den Kreisen der Intellektuellen oder angehenden Intellektuellen bekannt war und dort sogar Gegenstand des Sprachunterrichts wurde.
Wir haben mit dem ‚Schneekind‘ einen Text gelesen, der eine Version einer weit verbreiteten Geschichte darstellt. Man hat von diesem Schneekind erzählt, lange kursierte die Geschichte vermutlich mündlich, dann wurde sie zum Text, wurde schriftliterarisch fixiert, im und für den lateinischen Unterricht, aber auch in der deutschen Erzähl- und Liedliteratur. Aus einer Geschichte, die in der Mündlichkeit lebte, wurde geschriebene Literatur. Eine Geschichte wurde zum Text, der wiederum nicht als fester Text kursierte, sondern in verschiedenen Fassungen tradiert wurde. Ein variables Erzählen vom Schneekind ist im gesamten Mittelalter und weit darüber hinaus bezeugt. D.h. wir haben nicht nur einen Text erhalten, sondern verschiedene Texte und verschiedene Fassungen überliefert. Das ist die Beweglichkeit der mittelalterlichen Literatur, die ich anfangs angesprochen habe. Wir müssen uns Literatur des Mittelalters mündlich erzählt vorstellen, in ganz verschiedenen Räumen der Mündlichkeit, am Fürsten- oder Bischofshof, bei Festen, beim Ausreiten, aber auch im Schulunterricht. Daneben ist Literatur auch schriftfixiert. Hierbei ist zu bedenken, was für einen langen Zeitraum des Mittelalters galt: Texte wurden per Hand kopiert, denn Vervielfältigungsmöglichkeiten wie der Buchdruck oder das Vervielfältigen durch Holztafeldruck entstehen erst ab den 1420er und den 1450er Jahren. Vorher musste ein Text aufwendig handschriftlich abgeschrieben werden, wenn man ihn vervielfältigen wollte, wenn man eine zweite oder dritte Kopie haben wollte. Wir sprechen von der handschriftlichen Überlieferung der Texte und können für das deutsche ‚Schneekind‘ heute immerhin noch sechs Handschriften nennen, die aus dem 13., dem 14. oder dem 15. Jahrhundert stammen. Es sind Handschriften, die diese Geschichte vom Schneekind überliefern, und die wir in die zwei Fassungen, A und B ordnen können.[^14 Zur handschriftlichen Überlieferung des ‚Schneekinds‘ s. die Angaben im Handschriftencensus unter: https://handschriftencensus.de/werke/2225 (abgerufen am 12. Oktober 2022).]
Wenn wir ‚das Schneekind‘ lesen wollen, müssen wir präziser benennen, was wir meinen.
Welches ‚Schneekind‘ lesen wir? Eine lateinische Version, einen deutschen Verstext, Fassung A oder Fassung B?[^15 Zu den Unterschieden der beiden Fassungen s. Nora Eichelmeyer und Matthias Kirchhoff: List, lüg und snöder reichtum. Zum Wandel der Schuldbewertung im ‚Schneekind‘ A und B, in: ZfdA 145, 2016, S. 343–356.] Hieran ist bereits die Relevanz der eingangs gestellten Frage (Welchen Text lesen wir, wenn wir einen mittelalterlichen Text lesen?) erkennbar.
Mittelalterliche Schreiber haben dem Text vom Schneekind bereits einen Namen gegeben, aber auch hierfür gibt es keine festgefügte Einheitlichkeit: Von einem kaufman heißt der Text in der einen Handschrift (München, Universitätsbibliothek, Cim. 4, f. 85rb), Daz mer von ainem sne pallen oder Daz mer von dem sne pallen heißt der Text in zwei anderen Handschriften (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2885, f. 126va oder Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Hs. FB 32001, f. 8ra), auch titellos ist der Text tradiert (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2705 und Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Donaueschingen 93).[^16 Dazu vgl. Deutsche Versnovellistik des 13. bis 15. Jahrhunderts, Bd. 1/1, S. 49 (Textapparat) und S. 53 (Handschriften).] Die mittelalterlichen Titel nennen also in den deutschen Fassungen A einen Kaufmann oder einen (den) Schneeball als Identifikationspunkt der Geschichte, der Titel Schneekind ist eine spätere Setzung in der Fassung B.[^17 Hierzu vgl. Deutsche Versnovellistik des 13. bis 15. Jahrhunderts, Bd. 4, S. 291 (Textapparat).]
Wir lesen also, wenn wir einen mittelalterlichen Text lesen, einen von einem Schreiber handschriftlich fixierten und kopierten Text. Texte des Mittelalters sind Manufaktur.
In diese Handarbeit fließt vielfach individuelle Variation: Arbeit am Text, Arbeit an der Geschichte, bewusste Veränderung oder Veränderung aus einer gewissen Nachlässigkeit des Schreibers heraus, bewusste Änderung am Wortlaut, Fehlerhaftigkeit durch Übermüdung, viele Möglichkeiten sind hier zu bedenken, die Änderungen, Bewegungen des Textes zur Folge haben können.
Veränderungen sind der mittelalterlichen Literatur also inhärent. Sie können aber verschiedene Gründe haben. Ein zweiter Text kann völlig unabhängig von dem ersten schriftlich fixiert worden sein und eine im Kern vergleichbare, aber in der Ausführung abweichende Geschichte tradieren. Ein Text kann aber auch sehr nah an einer Vorlage bleiben, oder er kann einen lateinischen Text ins Deutsche übertragen.
Neben der Manufaktur eines Textes und der schriftlichen Fixierung muss man jedoch weiterhin mit der mündlichen Tradierung rechnen, vom Schneekind (und vielen anderen Texten) wurde das gesamte Mittelalter über auch mündlich erzählt. Das lesen wir an den verschiedenen Text-Versionen ab, die bis heute existieren und die aus unterschiedlichen Regionen stammen, aber auch an der Tatsache, dass Literatur oftmals in ein Bild-Medium übertragen erzählt wurde. Bilder sind als Kurzformen von Geschichten oder als Begleitmedium zu einer Handschrift oder einer gedruckten Version des Textes zu nennen. Vom ‚Schneekind‘ gibt es keine illustrierte Textfassung des Mittelalters. Aber das Thema ist in ähnlicher Form sehr viel später, nämlich 1904, von dem Berliner Maler Heinrich Zille umgesetzt worden (Abb. 1).

Abbildung 1: Fünf Geschwister, 1904. Bild (Postkarte): Archiv K.D. ©publicon Verlagsgesellschaft mbH, Poststr. 12, 10178 Berlin.
Fünf Kinder verschiedenen Alters halten sich an den Händen, sind von schräg hinten gezeichnet, sie tragen teilweise Mützen, Schals oder festes Schuhwerk. Die Bildunterschrift setzt eine kesse oder vielleicht auch naive Äußerung eines der Kinder um: „Vater wird sich freuen, wenn er aus dem Zuchthaus kommt, dass wir schon so viele sind.“[^18 Zitiert und abgebildet nach einer Postkarte: Heinrich Zille, Fünf Geschwister, 1904. Bild: Archiv K.D. ©publicon Verlagsgesellschaft mbH, Poststr. 12, 10178 Berlin. Der Text auf dem Bild lautet im Original: „Vater wird sich freiʼn, wenn er ausʼt Zuchthaus kommt, det wir schon so ville sind!“] Hier ist ebenfalls eine Vermehrung der Nachkommen zu beobachten, bei der der Ehemann wohl nicht anwesend war. Das Motiv des Ehebruchs bei Abwesenheit des einen Ehepartners ist Anlass für eine Auseinandersetzung in der Kunst und Literatur, auch lange nach der mittelalterlichen Erzählung vom ‚Schneekind‘.
Text- und Bildebene
Kehren wir zur mittelalterlichen Literatur zurück, deren Inhalte und Themen mehrfach in eine zweite Ebene neben dem Text übertragen werden, nämlich in eine Bildebene. Literatur des Mittelalters wird in den sie überliefernden Textzeugen (Handschriften und Drucken) mehrfach von Illustrationen begleitet, Text und Bild gehen hierbei eine synoptische Einheit ein, man liest den Text und man sieht einzelne Szenen im Bild. Dies soll an einem Beispiel aus der ‚Tristan‘-Literatur verdeutlicht werden (Abb. 2), und zwar aus dem ersten deutschsprachigen ‚Tristan‘-Roman des Eilhart von Oberg, dem ‚Tristrant‘ (entstanden in den 1170er Jahren), hier in einer Handschrift, die auf um 1465 datiert wird (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 346, f. 4r).[^19 Zur Handschrift vgl. Handschriftencensus: https://handschriftencensus.de/4921 (abgerufen am 13. Oktober 2022). Die Handschrift steht als Digitalisat zur Verfügung unter: https://doi.org/10.11588/diglit.154#0021 (abgerufen am 26. Februar 2023). Die Abbildungen daraus sind open access verfügbar.]

Abbildung 2: ‚Tristrant‘: Tristan wird zur Erziehung einer Amme übergeben, kolorierte Federzeichnung der Handschrift Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 346, f. 4r.
Der kleine Tristrant wird zur Erziehung einer Amme übergeben. Die Mutter Tristrants ist bei der Geburt des Jungen gestorben, der Vater, König Riwalin übergibt das Neugeborene (im Text: daz vil lîbe kindelîn, V. 122), einer Amme, die es aufzieht.[^20 Der ‚Tristrant‘ wird zitiert nach der Ausgabe: Eilhart von Oberge. Hg. von Franz Lichtenstein, Hildesheim/New York 1973 (Nachdruck der Ausgabe Straßburg und London 1877) (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker XIX).] Ein Maler hat dies in eine Bildszene übertragen (f. 4r), das Baby ist hier nicht als solches dargestellt, das kindelîn kann hier bereits eigenständig stehen und ist sicher schon zwei bis drei Jahre alt. Das Bild setzt den Inhalt anders um als der Text.
Der gesamte Verstext der Handschrift von Eilharts ‚Tristrant‘ wird von 91 kolorierten Federzeichnungen begleitet. Eine zweite Szene aus diesem Roman in dieser Handschrift ziehe ich heran (Abb. 3): die sogenannte Schwalbenhaar-Episode (Cpg 346, f. 27r).

Abbildung 3: Die sogenannte Schwalbenhaarepisode aus dem Eilhartschen ‚Tristrant‘ in der Handschrift Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 346, f. 27r (kolorierte Federzeichnung).
König Marke sitzt in seiner Kemenate und denkt nach; die Barone an seinem Hof wollen, dass er sich verheiratet, damit die Nachfolge der Herrschaft gesichert ist. Marke will jedoch nicht heiraten (V. 1379: wen he enwolde wîbes nît), er ist glücklich in dem Zustand des Augenblicks, sein Neffe Tristrant lebt bei ihm, das ist ihm Freundschaft und Anregung genug. In dieser Situation des Nachdenkens setzt das Bild an, es passiert etwas, ein Zufall bringt Marke auf eine Idee: Zwei Schwalben fliegen nämlich durch das geöffnete Fenster in den Raum hinein und kämpfen miteinander, sie tragen (zufällig) ein langes Haar mit sich (V. 1381–1387). Marke hat daraufhin eine Idee und einen Plan: Diejenige Frau, der dieses Haar gehört, soll seine Ehefrau werden. Diese Frau muss man finden. Wie soll das gehen? Tristrant wird sich darum kümmern, er nimmt sich dieser Aufgabe an, er sagt zu Marke: ich wil ez dorch ûwern willen tûn / und wil sie wîte sûchin (V. 1450f.). Diese Szene des Eilhart-Textes setzt der Maler in eine Illustration um, er zeigt die Kemenate, den König, die beiden Schwalben und das lange Haar und markiert diese Szene durch die bildliche Umsetzung als eine besondere. Mit der Suche Tristrants nach einer Ehefrau für König Marke beginnt zugleich die verhängnisvolle Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen Marke, Tristrant und Isalde.
Von Tristan und Isolde (oder bei Eilhart: Tristrant und Isalde) ist im gesamten Mittelalter und im gesamten europäischen Raum intensiv erzählt worden, davon zeugen die erhaltenen Texte, aber auch die vielfältigen Bildmedien: Kunstgegenstände, Kästchen, Spiegelkapseln, Kämme, Bildteppiche, Wandmalereien, immer wieder hat man hat sich mit dieser Tristanfigur und seiner Geschichte umgeben.[^21 Dazu vgl. Stephanie Cain Van DʼElden: Tristan and Isolde. Medieval Illustrations of the Verse Romances, Turnhout 2016.] Die Liebe zu Isolde war ein großes Thema für die Literaten und Erzähler des Mittelalters, war aber auch Streitthema, schließlich beruhte die Liebe auf einem Minnetrank, auf einer Art Droge.[^22 Explizit als „Droge“ benennt Jan-Dirk Müller den Trank (Die Destruktion des Heros oder wie erzählt Eilhart von passionierter Liebe?, in: Il romanzo di Tristano nella letteratura del Medioevo. Der Tristan in der Literatur des Mittelalters, a cura di Paola Schulze-Belli / Michael Dallapiazza, Triest 1990, S. 19–37, hier S. 24f.).] Tristan liebte nur, so sagten einige (z. B. Heinrich von Veldeke), weil er einen giftigen Trank zu sich genommen hatte, ein poisûn zwang ihn zur Liebe (MF 58,37).[^23 Heinrich von Veldeke: Tristran muose sunder sînen danc / staete sîn der küneginne, / wan in daz poisûn dar zuo twanc / mêre danne diu kraft der minne (Des Minnesangs Frühling, bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, I Texte, 38., erneut revidierte Auflage. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988, S. 108).] Die Liebe war also unecht, sie war gewissermaßen gedopt und vergiftet, sie zählt nicht als wahre, als echte menschliche Liebe. Trotzdem oder gerade deswegen ist die Geschichte von Tristan, Isolde und Marke immer wieder und immer wieder erzählt worden.[^24 Vgl. Monika Schausten: Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1999 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 24).] Große Romane liegen uns zu dieser Liebe vor, Gottfried von Straßburg schafft mit seiner Version von Tristan und Isolde (entstanden um 1210) einen Klassiker. Er entfaltet die Geschichte intensiv, die Geschichte von Liebe und Leid, vom guten Menschen, von der Kunst und der Leistung der Kunst, auf die wir so angewiesen sind. Literatur ist unser Brot, sagt der Prolog: wir lesen ir leben, wir lesen ir tôt / und ist uns daz süeze alse brôt (V. 235f.), ‚Wir hören von ihrem Leben, hören von ihrem Tod, und das ist uns köstlich so wie Brot‘.[^25 Gottfried von Strassburg, Tristan und Isolde. Hg. von Walter Haug † und Manfred Günther Scholz. Mit dem Text des Thomas, hg., übersetzt und kommentiert von Walter Haug †, 2 Bde., Berlin 2012, S. 22f. Im Prolog lautet die Stelle weiter: Ir leben, ir tôt sint unser brôt. / sus lebet ir leben, sus lebet ir tôt. / sus lebent si noch und sint doch tôt. / und ist ir tôt der lebenden brôt (V. 37–240, Bd. 1, S. 22–24). Das Leben von Tristan und Isolde wird als unser Brot benannt, ihr beider Tod ist das Brot für die Lebenden.]
Fazit
Was haben wir nun mit den verschiedenen Beispielen erreicht? Was lesen wir, wenn wir einen mittelalterlichen Text lesen? Wir sind nun für diese Frage sensibilisiert, denn wir haben verschiedene Bedingungen, Veränderungen, Umwandlungen, Medienwechsel beobachtet. Literatur des Mittelalters ist nicht nur als Text (in einer modernen Edition) existent, sondern vor allem als mündliche Erzählung, die wir vermuten, von der wir jedoch (Binsenwahrheit) keine Audioquellen aus dem Mittelalter besitzen. Bisweilen ist Literatur in illustrierten Texten vorhanden, überliefert ist sie in verschiedenen Textzeugen, die voneinander abweichen können. Literatur ist auch übertragen worden in Bildmedien (illustrierte Handschrift, Teppich, Wandmalerei etc.). Hier ist sie in einer Szene oder in einem Motiv (Schwalbenhaar, der junge Tristrant) verkürzt und pointiert gefasst oder auch als Serienerzählen wie in Bildteppichen oder Wandmalereien möglich. Diese angedeuteten Phänomene erweisen sehr eindrücklich die Eigenschaft der Textdynamik mittelalterlicher Literatur.
Wir haben einen Text kennengelernt, der eine Geschichte vom Schneekind bietet, die uns (heute) durchaus irritiert. Sie erzählt davon, wie der eine Ehepartner den Betrug des anderen erst aushält, dann aber adäquat darauf reagiert, eine List muss mit einer anderen List beantwortet und die Tat damit gerächt werden, so die Lehre des Textes. Zwei deutsche Fassungen in gewisser Variation existieren neben mehreren anderen Versionen vom Schneekind in lateinischer oder französischer Sprache.
Wir schauen heute gleichsam in einem distant reading auf die uns erhaltenen schriftlichen Zeugnisse aus dem Mittelalter und erkennen an den mehrfachen Umsetzungen von ‚Schneekind‘ und Tristanerzählung ein lebhaftes Interesse an einem Stoff, an einer Geschichte und einem Motiv. Es ist nicht nur Interesse, sondern diese verschiedenen Umsetzungen bilden ein kulturelles und literarisches Gespräch ab, wie es die Text- und Bildzeugnisse andeuten.[^26 Dazu vgl. die beiden Aufsatzbände: Literatur und Wandmalerei I. Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im Mittelalter. Hg. von Eckart Conrad Lutz u.a. Tübingen 2002; Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Hg. von Eckart Conrad Lutz u. a. Tübingen 2005.] Man wollte die literarischen Helden um sich haben (im privaten oder auch öffentlichen oder halböffentlichen Raum), man sprach über sie, und zwar auf verschiedene Art und Weise, die sich umgesetzt in Kunstwerke bis heute erhalten haben.
Literatur des Mittelalters existiert in vielerlei Form, mündlich erzählt und weitererzählt, schriftlich fixiert und poetisch geformt. Nicht immer kennen wir die Autoren, bisweilen sehen wir bereits mittelalterliche Titel für die Texte, die zwar voneinander abweichen, aber dieselbe Geschichte meinen: Von einem Kaufmann oder Von einem Schneeball (s.o.). Manchmal fügt ein Schreiber eine moralische Wertung ein, stellt sie der Geschichte voran oder beschließt die Erzählung damit. Am Text wird gearbeitet. Die Vorstellung eines festen und unabänderlichen Autortextes ist eine Idee, die im späteren Mittelalter aufkommt, die jedoch in den Jahrhunderten vor dem 15. Jahrhundert sehr flexibel ausgelegt wurde. Der gelehrte Dominikaner Heinrich Seuse (1295/97–1366) stellt seiner Werkausgabe eine Bedingung voran, die sich an die Kopisten richtet, nämlich nichts am Wortlaut zu ändern, jedes Wort, jeder Gedanke habe eine logische Berechtigung;[^27 Dazu vgl. Sabine Griese: Heinrich Seuse in Ulm, Marbach 2017 (Spuren 113), S. 6f.] wir kennen eine Praxis des Abschreibens und Tradierens, die leichtfertig und bisweilen intensiv dagegen verstößt. Texte werden den Autoren aus der Hand genommen und korrigierend bearbeitet, tradiert, kopiert, verändert. Das ist die Arbeit am Text, die wir in den Jahrhunderten des Mittelalters an der Überlieferung ablesen und daran sehen, wie lebendig und beweglich, in gewisser Weise auch unruhig die mittelalterliche Erzählkultur war. Das Thema Textdynamik ist mit der mittelalterlichen Literatur eng verbunden.