‚Nibelungenlied‘ und ‚Nibelungenklage‘
Mit dem ‚Nibelungenlied‘ steht einer der wuchtigsten und eindringlichsten Texte des Mittelalters auf dem Programm. Erzählt wird von Kriemhild und Siegfried sowie von Gunther und Brünhild, weiterhin von Hagen, der Siegfried ermordet und den Untergang der Nibelungen damit einleitet und eine große Racheerzählung in Gang setzt, in deren Mittelpunkt Kriemhild steht. Kriemhild, die sich von einer wunderschönen jungen Frau in eine rächende Königin verwandelt, die nicht davor zurückschreckt, die eigenen Brüder zu opfern, im Text wird sie am Ende als Teufelin, als vâlandinne (Str. 2371,4), beschimpft.[^1 Das ‚Nibelungenlied‘ und die ‚Klage‘ werden zitiert nach der folgenden Ausgabe: Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung und Kommentar. Hg. von Joachim Heinzle, Berlin 2015 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 51).]
Wie es dazu kommt, erzählt das ‚Nibelungenlied‘. Die Ermordung Siegfrieds ist der zentrale Auslöser für die Veränderung Kriemhilds. Der Tod ihres geliebten Mannes, den sie selbst mit verantworten muss, ist für sie ein nicht zu verwindendes Ereignis. Es ist der Dreh- und Angelpunkt des Epos, das im zweiten Teil zu einer Rachegeschichte wird, denn Kriemhild ist vil lancraeche (Str. 1461,4), sie „rächt mit langem Atem“ (Heinzle 2015, S. 467).
In folgenden drei Schritten möchte ich an dem Textverbund von ‚Nibelungenlied‘ und ‚Nibelungenklage‘ Textdynamiken thematisieren:
Erste Dynamik: mündliches Erzählen und schriftlicher Text
Zweite Dynamik: Fassungen des ‚Nibelungenlieds‘
Dritte Dynamik: Antworten der ‚Nibelungenklage‘
Der zweite im Titel genannte Text, die sogenannte ‚Nibelungenklage‘, ist nicht gleichermaßen prominent wie das ‚Nibelungenlied‘, auf sie werde ich am Ende blicken, denn mit diesem Text, der in der handschriftlichen Überlieferung eng mit dem ‚Nibelungenlied‘ verbunden ist, decken wir mittelalterliche Lektüren der Nibelungengeschichte auf; Lektüren, die uns sowohl eine zeitgenössische Verständnissicherung als auch den Versuch und die Notwendigkeit einer Interpretation und Klärung des Untergangsgeschehens erkennen lassen. Die ‚Klage‘, so nennen wir die ‚Nibelungenklage‘ meist verkürzend, ist Kommentar zum ‚Nibelungenlied‘, ist Reflexion des im Lied erzählten Geschehens, das einen unvorstellbaren und unentrinnbaren tödlichen Ausgang nimmt. Stimmen und Deutungen des Untergangs, Zuweisungen der Schuld, Entschuldigungen werden in der ‚Klage‘ formuliert, ein Blick in die Zukunft wird geworfen, ein Prozess der Memoria eingeleitet. Ein Erzählen nach dem Untergang wird vorgeführt, das die Verschriftlichung fordert und gleichzeitig darstellt.
Wir lernen mit der ‚Klage‘ einen Text kennen, der mit einem anderen Text (dem ‚Nibelungenlied‘) gemeinsam überliefert ist, und der diesen ersten Text erklären möchte, und zwar im Genre der Literatur, im Modus des literarischen Erzählens, das annähernd zeitgleich mit dem ersten Text passiert.
Das ‚Nibelungenlied‘ ist um 1200 zum Text geworden, zu einem Text, der bis heute einen unglaublichen Sog entwickelt. Einen Autor des Textes kennen wir nicht mit Namen.
Der Text ist anonym überliefert.[^2 Anregende Einführungen bieten: Ursula Schulze, Das Nibelungenlied, Stuttgart 1997; Jan-Dirk Müller, Das Nibelungenlied, 4. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2015 (Klassiker-Lektüren 5). Vgl. auch die Aufsätze in dem Band: Fasbender, Christoph (Hg.): Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2005.] Das ‚Nibelungenlied‘ wurde in einer Zeit zum Text gemacht, die wir die „Klassik des Mittelalters“ (Schulze 1997, S. 11) nennen, die von Namen wie Walther von der Vogelweide, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg geprägt ist, Autoren, die die höfische Klassik prägen, die ein Erzählen von Liebe und Minne in der deutschen Literatur ausprägen. Gleichzeitig entsteht das mittelhochdeutsche ‚Nibelungenlied‘, ein Heldenepos, das in Strophen verfasst ist, das eine Geschichte von Liebe, Verrat, Rache und vom Tod der vielen erzählt. Das ‚Nibelungenlied‘ ist ein Text ohne Autornamen, aber mit Spuren von Autorschaften. Am Text wurde im Zeitraum der Überlieferung gearbeitet.
Erste Dynamik: mündliches Erzählen und schriftlicher Text
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das ‚Nibelungenlied‘ mit Homers ‚Ilias‘ verglichen. Eine Auseinandersetzung der Philologen begann. Friedrich August Wolf hatte 1794 das Homerische Epos als „heterogenes Gebilde“, als „sekundäre Verbindung traditioneller, ehedem mündlich tradierter Lieder verschiedener Verfasser“ gesehen.[^3 Zitiert bei Joachim Heinzle, Traditionelles Erzählen. Beiträge zum Verständnis von Nibelungensage und Nibelungenlied, Stuttgart 2014 (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Beihefte 20), S. 125.] Daraus ergaben sich Brüche, Widersprüche, Unebenheiten im Text. Plötzlich stand das Genie Homer in der Kritik. War die ‚Ilias‘ keine autonome Dichtung eines Autors? Kein einheitliches Konzept eines Genies? Diese Diskussion wurde auf das ‚Nibelungenlied‘ übertragen. Karl Lachmann[^4 Zu dem Philologen der klassischen und deutschen Philologie, Karl Lachmann (1793– 1851), vgl. den Band von Anna Kathrin Bleuler und Oliver Primavesi (Hgg.): Lachmanns Erben. Editionsmethoden in klassischer Philologie und germanistischer Mediävistik, Berlin 2022 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 19).] sah 1816 die „ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth“ in einzelnen romanzenartigen Liedern.[^5 Zitiert bei Heinzle 2014, S. 126.] Widersprüche und Motivationsdefizite im Text wurden als Spuren der Zusammenfügung dieser Lieder erklärt. Als Ursprung des ‚Nibelungenliedes‘ galten Lieder zu einzelnen Episoden, die zu einem Text ‚zusammengefügt‘ wurden; die Kohärenz des Textes stand zur Debatte.
Aus diesen Aspekten leite ich eine erste Bewegung ab, die Bewegung des mündlichen Erzählens über die Nibelungen hin zu einem Text, dem um 1200 verschriftlichten ‚Nibelungenlied‘. Mündlich vorgetragene Lieder und Erzählungen werden um 1200 zu einem Text geformt. Ich erinnere dafür an die Entstehungsumstände, wie die Forschung sie skizziert:
Die Nibelungensage ist im frühen Mittelalter entstanden, wohl zwischen dem 5. und 7. Jh. bei den Burgunden und Franken. Über Jahrhunderte hin mündlich tradiert, verbreitete sie sich über die Germania. Bezeugt ist sie spätestens seit dem 10. Jahrhundert in bildlichen Darstellungen aus dem nordwesteuropäischen Raum. Verschriftlicht wurde sie zuerst um 1200 im mhd. ‚Nibelungen-Buch‘ – dem Werkverbund von ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘ -, dann im 13. Jh. in Skandinavien: in der ‚Thidrekssaga‘ und in den Liedern der ‚Edda‘ sowie deren Prosatransformationen in der ‚Völsunga saga‘. (Heinzle 2014, S. 128)
Das mittelhochdeutsche ‚Nibelungenlied‘ um 1200 und die etwas spätere skandinavische Dichtung (‚Edda‘, ‚Thidrekssaga‘ und ‚Völsunga saga‘) verfestigen das Nibelungenerzählen, bilden aber auch das variante Erzählen in ihren Texten ab. Das Erzählen von den Nibelungen ist im mittelhochdeutschen Heldenepos ein anderes als in der altnordischen Lied- oder Prosadichtung. Und das Erzählen ist mit dem Text, der um 1200 entsteht, nicht stillgestellt.
Wir erkennen, dass bis ins 15. Jahrhundert hinein verschiedene Versionen nebeneinander bestanden haben müssen, in denen beispielsweise Kriemhild unterschiedlich gedeutet wurde, eher positiv oder eher negativ besetzt. Dem Dichter und den Bearbeitern des ‚Nibelungenlieds‘und auch dem Publikum waren Geschichten von Siegfried und den Burgunden in verschiedenen Varianten bekannt, darauf verweisen einzelne Textzeugen des ‚Nibelungenlieds‘ sehr deutlich. Zu denken ist an die Kurzform im ‚Nibelungenlied‘ n aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die einen deutlichen Fokus auf den zweiten Teil der Erzählung legt, den ersten dagegen in wenigen Strophen raffend berichtet[^6 Zu der Handschrift n vgl. den Handschriftencensus unter: https://handschriftencensus.de/3520 (abgerufen am 19. November 2022) und die Textausgabe Das Nibelungenlied nach der Handschrift n. Hs. 4257 der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt. Hg. von Jürgen Vorderstemann, Tübingen 2000 (ATB 114); vgl. weiterhin Heinzle 2014, S. 175–196.] und an das sogenannte Darmstädter Aventiurenverzeichnis (‚Nibelungenlied‘ m) aus dem 14. Jahrhundert, das in diesem Relikt eines Inhaltsverzeichnisses (erhalten hat sich nur ein auf Vorder- und Rückseite beschriebenes Pergamentblatt) auf einige Jugendtaten Siegfrieds weist, die in das normale ‚Nibelungenlied‘ nicht eingegangen sind.[^7 Zur Handschrift m (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 3249) vgl. den Handschriftencensus unter: https://handschriftencensus.de/2182 (abgerufen am 19. November 2022) sowie Johannes Janota, Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (1280/90–1380/90), Tübingen 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit III/1), S. 220 und Tafel 9/1 und 9/2.]
Das mittelhochdeutsche ‚Nibelungenlied‘ ist also „Teil einer umfassenden Erzähltradition, aus der es entwickelt und in deren Zusammenhang es rezipiert wurde“ (Heinzle 2014, S. 129). Joachim Heinzle schlägt für diese narrativen Diskurse die Bezeichnung „Traditionelles Erzählen“ vor.[^8 Vgl. dazu Heinzle 2014, S. 125–135.] Diesem Erzählen liegt eine besondere Poetik zugrunde, die auf Summenbildung zielt, divergente Aspekte werden in den Text integriert, Varianten werden nicht ausgeschieden, sondern versammelt und miteinander verbunden, das trifft auch auf die Verschriftlichung zu. Der Verfasser des Buchepos emanzipiert sich um 1200 nicht von der mündlichen Tradition, sondern schreibt sie in einer spezifischen Weise fort. Wir haben im ‚Nibelungenlied‘ also einen Text vor uns, der die Spuren des variablen Erzählens bewahrt. Nicht alle Varianten des Erzählkontinuums können jedoch handlungslogisch in den Text integriert werden. An manchen Stellen gibt es Brüche oder logische Widersprüche. An diesen Widersprüchen oder Bruchstellen scheidet sich auch die Forschung zum ‚Nibelungenlied‘. Auf der einen Seite könnte man Jan-Dirk Müller positionieren, der mit seiner Monographie „Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes“ (Tübingen 1998) für eine Interpretierbarkeit des Textes plädiert, auf der anderen Seite steht Joachim Heinzle, der zuletzt die zweisprachige Textausgabe herausbrachte, die endlich das ‚Nibelungenlied‘wieder mit der ‚Klage‘ verbindet, wie die handschriftliche Überlieferung des Mittelalters dies auch vorgibt. Müller sieht in den widersprüchlichen oder brüchigen Stellen Spuren eines bewusst archaischen Erzählens. Der Text wird in seiner Fremdheit anerkannt, das ‚Nibelungenlied‘ wird als interpretierbarer Text bezeichnet; Heinzle betont die Widersprüche des Textes, argumentiert immer wieder mit Bruchstellen, Leerstellen oder Löchern und der mündlichen Erzähltradition.[^9 Vgl. zu verschiedenen Aspekten Heinzle 2014, zu den Bruchstellen besonders S. 149–164.]
Zweite Dynamik: Fassungen des ‚Nibelungenlieds‘
Das ‚Nibelungenlied‘ ist in 37 Handschriften überliefert,[^10 Zur Überlieferung vgl. die Übersicht im Handschriftencensus unter: https://handschriftencensus.de/werke/271 (abgerufen am 19. November 2022).] die ältesten Textzeugen stammen aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts (C und S), die jüngste Handschrift stammt aus dem 16. Jahrhundert (d). Wir unterscheiden zwei Hauptfassungen des Textes: die *AB- oder not-Fassung und die *C- oder liet-Fassung. Das Sternchen (Asterisk) vor den Siglen AB und C bezeichnet die ‚Fassung‘. Die Handschriften mit der Sigle A und B stehen für die Fassung *AB. Die Handschrift mit der Sigle C steht für die Fassung *C.[^11 Vgl. hierzu Heinzle 2014, S. 97–124.]
Was bedeutet not- oder liet-Fassung? Das ist ein Unterscheidungskriterium und bezieht sich auf den Schlussvers des Liedes, den Wortlaut des letzten Verses:
Dieser lautet in *AB: hie hât das maere ein ende: daz ist der Nibelunge nôt
Dieser lautet in *C: hie hât das maere ein ende: daz ist der Nibelunge liet
[Hervorhebung SG]
Der Titel des Textes hat sich aus diesem letzten Vers ergeben.
*AB: ‚Hier ist die Geschichte zu Ende: das ist die Not, der Untergang der Nibelungen‘.
*C: ‚Hier ist die Geschichte zu Ende: das ist die Dichtung, das Epos von den Nibelungen‘ –
oder kurz: das Nibelungenlied.
Das ‚Nibelungenlied‘ ist strophische Dichtung, wir finden die Langzeilenstrophe wieder, die wir aus dem frühen Minnesang kennen:
hie hât das maere ein ende: daz ist der Nibelunge liet
Strophische Dichtung heißt, der Text ist in Strophen gegliedert und damit sangbare Dichtung, vorgesungen vorgetragen und musikalisch begleitet. Aber auch hier ist es so wie für den Großteil des Minnesangs: eine aufgezeichnete Melodie ist für das ‚Nibelungenlied‘ nicht erhalten.
Der Text ist jedoch nicht nur in Strophen gegliedert (2379 Strophen), sondern zudem in 39 Kapitel geordnet, die als Aventiuren benannt sind. Das Wort âventiure ist ein „Modewort“ (Heinzle 2015, S. 1017), das gegen Ende des 12. Jahrhunderts aufkam und vor allem in den Artusromanen eine Rolle spielt, die Artusritter reiten dort stets auf âventiure. Ursprünglich bedeutet das Wort ‚Zufall‘ oder ‚Ereignis‘, es wird dann im Deutschen als Bericht und Erzählung verwendet (vgl. ebd., S. 1016f.). Das Wort Âventiure wird im Neuhochdeutschen zum ‚Abenteuer‘.[^12 Vgl. das Mittelhochdeutsche Wörterbuch unter: http://www.mhdwb-online.de/wb.php?linkid=10086000#10086000 (abgerufen am 19. November 2022) und das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm unter: https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=A00327 (abgerufen am 19. November 2022).] Der Nibelungendichter greift dieses Modewort auf, er will zeigen, dass sein Text modern und d.h. höfisch ist, dass er einer höfischen Kultur angehört. Und er führt Kapitelbezeichnungen ein, die er mit diesem Wort benennt: Auenture von den Nibelungen, so beispielsweise in der Handschrift C des ‚Nibelungenlieds‘ (Karlsruhe BLB, Cod. Donaueschingen 63, 2. Viertel 13. Jahrhundert) zu lesen. In der Handschrift C steht die Überschrift rot (rubriziert) über dem Textbeginn auf f. 1r (Abb. 1). In dieser Form nicht nur hier, sondern regelmäßig zur Untergliederung vor dem Beginn eines neuen Kapitels notiert. Das ‚Nibelungenlied‘ ist also ein wohleingerichteter Text, durch Initialen und Kapitelüberschriften gegliedert, das weist deutlich auf eine Buchdichtung hin. Die mündlich erzählte Nibelungensage ist im nun verschriftlichten ‚Nibelungenlied‘ Text geworden.

Abbildung 1: Rubrizierte Überschrift zu Beginn des ‚Nibelungenlieds‘ in Handschrift C (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 63), f. 1r: Auenture von den Nibelungen.
Wie beginnt nun dieser Text? Sehen wir auf die erste Strophe der ersten Aventiure, sie lautet (nach der Textausgabe von Joachim Heinzle, S. 10):
Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedîn,
daz in allen landen niht schoeners mohte sîn,
Kriemhilt geheizen. si wart ein schoene wîp.
dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp.
‚Im Burgundenland wuchs ein adeliges Mädchen heran,
es war das schönste auf der Welt. Sein Name war Kriemhild.
Es wurde eine schöne Frau, deswegen verloren viele Männer ihr Leben.‘[^13 Meine Übersetzung weicht in Kleinigkeiten von derjenigen Heinzles ab.]
Das Burgundenland bezeichnet die Gegend um Worms zu beiden Seiten des Rheins; es handelt sich nicht um das heutige Burgund (vgl. Heinzle 2015, S. 1038). Dort wuchs Kriemhild zu einer schönen Frau heran. Die vierte Verszeile der ersten Strophe deutet bereits den Tod an. Die Schönheit der Frau wird dafür verantwortlich gemacht. Viele Männer verloren ihretwegen ihr Leben. Ein Textbeginn, der leicht tönt, jedoch eine Wucht bekommt. Wie kann aus der Schönheit eines Mädchens ein solches Untergangsgeschehen resultieren? Diese Frage wird schon hier aufgeworfen.
Das ‚Nibelungenlied‘ beginnt jedoch nicht in allen Fassungen gleichlautend mit dieser Strophe. In der Fassung *C lesen wir den deutlich bekannteren Beginn:[^14 Zitiert nach Heinzle 2015, S. 1036.]
Uns ist in alten maeren wunders vil geseit
von heleden lobebaeren, von grôzer arebeit,
von freuden und hôchgeziten, von weinen unde klagen,
von küener recken strîten muget ir nû wunder hoeren sagen.
‚Uns ist in alten Erzählungen (in Erzählungen aus früherer Zeit) viel Wunderbares berichtet worden von berühmten Helden, von großer Mühsal,
von Freude und von Festen, von Weinen und von Klagen,
vom Kampf tapferer Männer könnt ihr nun Erstaunliches erfahren.‘
Diese Strophe ist eine besondere. Um wie viele Sätze handelt es sich? Wo würden wir einen Punkt machen, wenn wir innerhalb der Strophen einen zweiten Satz ansetzen würden? Wer ist angesprochen? Wer spricht? Michael Curschmann hat die Strophe präzise seziert und ihre Dimension erschlossen. Diese „Prologstrophe“ ist alles, was uns als „Anweisung zur Lektüre“ des ‚Nibelungenlieds‘ erhalten ist, so Curschmann (Curschmann 1992, S. 55). Sie habe „nicht im ursprünglichen Konzept gestanden“ (ebd., S. 62), sondern sei im Zuge eines späteren „Redaktionsvorgangs“ verfasst und ergänzt worden (ebd.). Am Text des ‚Nibelungenlieds‘ wurde gearbeitet, der Text bewegt sich, wenn er weiter abgeschrieben wird, er zeigt damit eine gewisse Dynamik, die wir an den Überlieferungszeugen nachverfolgen können. Man änderte das Verschriftlichte und ergänzte in der etwas späteren Fassung das eine oder andere; hier ergänzte man den unmittelbaren Textanfang um eine Art Prolog. Aber man änderte nicht im Sinne eines Korrekturtextes eines Autors, der seinen eigenen Wortlaut in seinem Manuskript verbessert, sondern es sind Veränderungen in der Niederschrift mehrerer anderer Handschriften, die von anderen Personen (Redaktoren, Abschreibern, Bearbeitern) als dem Autor selbst stammen. Das ist das Spezifische an der Textüberlieferung des Mittelalters: jeder Textzeuge bietet einen individuellen Text in einem spezifischen Abstand zu einer Autorfassung, die wir meist nicht vorliegen haben. Der Blick auf ein ursprüngliches, ein originales ‚Nibelungenlied‘ ist uns gewissermaßen verstellt. Während der Weitertradierung eines Textes kann er sich im Wortlaut verändern.
Man könnte also sagen: Es gibt nicht nur ein ‚Nibelungenlied‘, sondern es existieren mehrere ‚Nibelungenlieder‘. Sie sind weitgehend identisch, aber in einigen Details doch verschieden, wie in der Betitelung am Schluss oder im Textbeginn. Sehen wir noch einmal auf die erste Strophe in der Handschrift C (Karlsruhe, BLB, Cod. Donaueschingen 63). Die Strophe besteht aus einem einzigen Satz nach dem Prinzip einer constructio apokoinou (Curschmann 1992, S. 63f.). Als gemeinsames Objekt von Vor- und Nachsatz fungiert eine Folge von fünf Präpositionalphrasen, die zum Teil kontrastiv angeordnet sind. Uns ist geseit […] muget ir nu bildet die Klammer des Satzes, wunders vil im ersten Vers steht gegen wunder im vierten Vers. In alten maeren hat man schon viel wunders erzählt, nun/jetzt/heute und hier könnt ihr wunder erzählen hören. Es ist das Wunderbare und Herausragende von Geschichten der Vergangenheit, das hier angesprochen ist, jetzt aber, mit der folgenden Geschichte, der Erzählung von den Nibelungen und deren Untergang werdet ihr etwas wirklich Spektakuläres hören.
Wo setzen wir das muget ir nu an? Worauf soll es sich beziehen? Nur auf den Kampf tapferer Männer oder auch auf die anderen Phrasen? Hier merken wir, wie wichtig Orthographie, Kommasetzung, markierte Satzenden für unser Verständnis von Texten sind. Die Herausgeber wissenschaftlicher Texte nehmen hierbei Entscheidungen vor und geben uns damit eine Hilfestellung für unsere Interpretation an die Hand. Aber eine solche Markierung ist für handschriftliche Texte des Mittelalters nicht in gleicher Weise gegeben. Vergewissern wir uns in der Karlsruher Handschrift (vgl. Abb. 1).[^15 Der Textbeginn ist zitiert nach dem Digitalisat in Karlsruhe, unter: https://digital.blb-karlsruhe.de/blbhs/content/pageview/738115 (abgerufen am 20. November 2022). Die Abkürzungen (Nasalstriche, -er) werden aufgelöst.] Wie sieht hier der Beginn aus? Eine große Schmuckinitiale U eröffnet den Text. Dann erkennt man einige Majuskelbuchstaben in grüner und roter Farbe, durch Punkte voneinander abgesetzt:
(U) N S. I S T. Jn alten mæren.
wunders vil geseit. von heleden lobebæren. von
grozer arebeit. von frevde vnd hochgeciten
von weinen vnd klagen. von kvner rec
ken striten. mvget ir nv wunder horen sa
gen. […]
Was erkennen wir noch? Halbverse werden durch Punkte abgetrennt. Es existieren also bereits in dieser Handschrift aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts Textgliederungszeichen. Aber das beantwortet nicht die Struktur des Satzes, die Präpositionalphrasen können sich trotz der Gliederungszeichen auf die alten mæren, aber auch auf das folgende wunder beziehen.
Wir haben in dieser Strophe einen Erzähler vor uns, der das Publikum anspricht und sich selbst mit einbezieht in die Menge derer, denen in alten Geschichten bisher viel Wunderbares erzählt worden ist. Er beginnt mit einem inkludierenden ‚uns‘: Uns ist schon viel erzählt worden, aber jetzt, nu, könnt ihr etwas Neues hören. Er trennt sich hier ab, und zwar als Erzähler von Neuem, er nennt sich aber nicht mit Namen. Wir haben alle schon wunders vil gehört, das eine und das andere von Freude und von Leid, ich bin Mitglied dieser Erzählgemeinschaft, deutet er an, nun aber hört ihr (von mir) wunder – nun hört ihr von mir ein wahrhaftes Wunder. Der Bezug gilt der gesamten folgenden Erzählung von den Nibelungen.
Das ‚Nibelungenlied‘ will mündliche Tradition und mündlichen Stil einheimischer Provenienz ins Literarische verlängern. Es will berichten, wie es die Gattung seit eh und je tut, aber jetzt mit literarischem Anspruch. (Curschmann 1992, S. 64)
Die Nibelungensage ist lange Zeit mündlich erzählt worden, nun aber hört ihr sie neu, jetzt hört ihr das ‚Nibelungenlied‘ als literarischen, schriftlich fixierten Text. So die Introduktion des Heldenepos in der Fassung *C (zitiert in der Handschrift C), die erst danach die Strophe von dem Mädchen Kriemhild folgen lässt (Str. 2). Diese schöne und junge Kriemhild wächst am Königshof in Worms auf, sie wird die Frau des jungen Königssohns Siegfried, der aus Xanten nach Worms kam, weil er von ihrer Schönheit gehört hatte. Siegfried bekommt Kriemhild zur Frau, dafür muss er aber Gunther, dem König und Bruder Kriemhilds behilflich sein. Gunther will ebenfalls heiraten, er hat von einer schönen Frau gehört, die Brünhild heißt. Diese ist stark und wählt ihren zukünftigen Ehemann durch einen Wettkampf aus, nur denjenigen, der sie im Weitsprung, im Speerwurf und im Steinwurf übertrumpft, wird sie heiraten, den Verlierer töten. Gunther ist nicht stark genug für diesen Wettbewerb, das weiß Siegfried; Gunther benötigt die Kraft und Macht des Siegfried, der übermenschliche Kräfte und weitere Möglichkeiten besitzt: Siegfried ist durch das Bad im Drachenblut unverwundbar (bis auf eine Stelle zwischen den Schulterblättern), zudem besitzt er einen Tarnmantel, mit dem er unsichtbar wird. Mit diesen Hilfestellungen gelingt Gunther die Werbung um Brünhild: Siegfried wird ihn unsichtbar begleiten in den einzelnen Wettkämpfen und er wird Brünhild besiegen; es sieht für die Öffentlichkeit so aus, als ob Gunther den Sieg errungen habe, doch eigentlich war Siegfried derjenige, der Brünhild eroberte.
Dieser Betrug hat Folgen. Es wird einige Jahre später zu einem Streit der beiden Königinnen kommen (erzählt in der 14. Aventiure des ‚Nibelungenlieds‘), in dem Kriemhild ihrer Schwägerin vorwirft, dass Siegfried der eigentliche Bezwinger, vor allem in der Brautnacht gewesen sei, denn hier benötigte Gunther noch einmal die Hilfe Siegfrieds. Kriemhild beschimpft Brünhild, ihr Mann Siegfried habe sie, Brünhild, im Bett bezwungen, sie legt Beweise vor, den Gürtel Brünhilds und einen Ring, beides hatte Siegfried ihr abgenommen; die Königin Brünhild weint (Str. 843,1; 852,1), weinend findet sie auch Hagen an (Str. 864,1). Siegfried muss getötet werden: daz Brünhilde weinen sol im wesen leit, so sagt Hagen (Str. 873,3). Warum hat Siegfried seiner Frau diesen Gürtel gegeben und warum hat er sie eingeweiht in diese Männergeheimnisse? Hinterrücks wird Siegfried ermordet (Str. 981), und zwar von Hagen, die unverwundbare Stelle zwischen den Schulterblättern hatte Kriemhild selbst dem treuen Vasallen Hagen genannt und mit einem gestickten Kreuzzeichen auf dem Gewand markiert (Str. 904). Sie hat selbst ihren Mann verraten, so sagt der Text (Str. 905,3). Dieses Leid wird Kriemhild ihr weiteres Leben begleiten. Sie trauert dreizehn Jahre (Str. 1142,2), zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück, ihre Liebe ist ihr genommen, auch das Gold, das sie besaß, hat Hagen geraubt und im Rhein versenkt (Str. 1137). Doch dann hört erneut ein Mann von ihrer Schönheit, der König der Hunnen, Etzel (Str. 1143f.), dessen Frau Helche verstorben war; er sendet einen Brautwerber, den treuen Markgrafen Rüdeger aus Bechelaren nach Worms. Dort ist Kriemhild geblieben, zurückgezogen, neben dem Münster, in der Nähe des Grabes ihres Mannes wohnend (Str. 1101f.). Sie lässt sich schließlich auf die Hochzeit mit Etzel ein, denn Rüdeger sagt etwas, was in ihr Rachegedanken entzündet: er werde ihr helfen, ihr erlittenes Leid zu ergetzen (Str. 1255,3), wiedergutzumachen, vergessen zu machen. Rüdeger bittet sie, nicht länger zu weinen (Str. 1256,1), seine Verwandten, seine Vasallen und er selbst würden im Hunnenland dafür sorgen, dass jeder, der ihr etwas angetan hätte, dies schwer büßen müsse (Str. 1256,2–4). Kriemhild lässt ihn darauf einen Eid schwören, dass er derjenige sei, der ihr Leid vergelte. Damit wird sie zur Rächerin gemacht. Sie heiratet Etzel, beide leben an einem kulturell vielfältigen und prächtigen Hof in Ungarn. Kriemhild ist erneut eine mächtige Königin (vgl. Str. 1383 und 1386). Sie lädt nach dreizehn Jahren ihre Brüder aus Worms dorthin ein, sie habe sie so lange nicht gesehen (22. Aventiure). Die Einladung endet im großen Blutbad, das nur wenige überleben. Kriemhild will sich an Hagen rächen, den alle als Mörder Siegfrieds kennen, es kommt zu einer Schlacht, einem Gemetzel, das kaum jemand überlebt. Dietrich von Bern greift endlich ein in das Geschehen und nimmt Hagen und Gunther gefangen (Str. 2352, 2353, 2361, 2362); Dietrich von Bern übergibt nach intensiven Kämpfen, in denen bereits sehr viele Helden getötet worden sind, die beiden Männer, den König Gunther, den Bruder Kriemhilds und dessen Ratgeber und Gefolgsmann Hagen an die Königin Kriemhild. Hagen und Gunther sind gefesselt; schont sie, sagt Dietrich und geht weinend davon (Str. 2364, 2365). Im Fortgang gestaltet diese letzte, die 39. Aventiure des ‚Nibelungenlieds‘ ein grausames Schlusstableau. Was ist aus dem schönen Mädchen Kriemhild geworden?
sît rach sich grimmeclîchen daz Etzelen wîp.
den ûz erwelten degenen nam sie beiden den lîp. (Str. 2365, 1f.)
‚Dann rächte sich die Frau Etzels fürchterlich. Sie nahm den beiden auserwählten Helden das Leben.‘
Wie macht sie das? Schließlich ist sie eine Frau. Sie trennt die beiden Männer voneinander und geht zu Hagen. Voller Hass spricht sie zu ihm:
welt ir mir geben widere, daz ir mir habt genomen,
sô muget ir wol lebende heim zen Burgonden komen. (Str. 2367,3f.)
‚Wenn ihr mir zurückgebt, was ihr mir genommen habt,
dann könnt ihr lebend nach Hause ins Burgundenland kommen.‘
Was kann Hagen ihr jetzt noch zurückgeben, was er ihr genommen hat? Wofür sie ihn nach dieser intensiven Rachezeit nun am Leben lassen und nach Hause ziehen lassen würde?
Kriemhilds Worte sind rätselhaft. Hagen bezieht die Aussage auf den Hort, auf den Nibelungenschatz. Vergeblich fordere sie diesen, sagt der grimme Hagen. Er habe geschworen, dessen Versteck nicht zu verraten, solange einer seiner Herren (gemeint sind die Könige in Worms) lebe.
In der unmittelbar folgenden Strophe heißt es pragmatisch und grausam zugleich:
‚Ich bring ez an ein ende‘, sô sprach daz edel wîp.
dô hiez si ir bruoder nemen sînen lîp.
man sluoc im ab daz houbet. bî dem hâre si ez truoc
vür den helt von Tronege. dô wart im leide genuoc. (Str. 2369)
‚Ich bringe es zu Ende, sagte die Königin.
Da ließ sie ihren Bruder töten.
Man schlug ihm den Kopf ab. Sie trug das abgeschlagene Haupt an den Haaren
vor den Helden von Tronje (=Hagen). Das war für ihn ein großer Schmerz.‘
Was ist passiert? Kriemhild geht zu dem gefesselten Hagen. Sie bietet ihm an, dass er lebendig nach Worms zurückkomme, wenn er ihr zurückgebe, was er ihr genommen hat. Was meint sie? Meint sie es ernst? Sie will ausgerechnet ihren Erzfeind Hagen lebendig zurückschicken, wo sie doch schon so viele Verwandte und Gefolgsleute verloren hat? Ihm galt ihre gesamte Racheintention. Ihm ein Angebot machen? Ist es ein falsches, ein hinterhältiges Angebot? Siegfried ist tot, Hagen hat ihn ihr genommen, ihn kann er ihr nicht zurückgeben. Ein ergetzen des leides wird nie möglich sein. Auf den Schatz bezogen, wie Hagen denkt? Gebt mir den Schatz zurück, dann lasse ich euch am Leben? Wozu bräuchte sie das Gold? Sie hat genug Macht und Reichtümer, Etzel ist unermesslich reich.
Das Angebot ist ein grausamer Todesstoß, denn Hagen weiß, dass niemand lebendig nach Worms zurückkehren wird (Str. 1540–1542, 1580). Das Angebot ist ein Scheinangebot. Kriemhild formuliert dies, wohlwissend, dass eine Rückgabe ihres Besitzes unmöglich ist. Ob sie auch die Konsequenzen berücksichtigt?
Hagen bezieht ihre Forderung auf den Hort – solange noch einer der Könige lebt, werde er, Hagen, das Versteck nicht verraten; da lässt sie ihren eigenen Bruder enthaupten und trägt den blutigen Kopf eigenhändig zu Hagen. Die Geste ist deutlich: Hier, der letzte Zeuge ist tot. Der Weg ist frei, um das Versteck des Horts zu verraten. Doch das tut Hagen nicht. Die Inszenierung geht weiter. Hagen spricht zu ihr: Du hast es nach deinem Willen zu Ende gebracht. Es ist ausgegangen, wie ich es mir gedacht habe. Deine Brüder, Gunther, Giselher und Gernot sind tot:
den schatz den weiz nû niemen wan got âne mîn.
der sol dich vâlandinne, immer verborgen sîn. (Str. 2371,3f.)
‚Nur Gott und ich wissen nun, wo der Schatz ist.
Dir, Teufelin, soll er für immer verborgen sein.‘
Hier nennt Hagen Kriemhild eine Teufelin. Was tut Kriemhild? Sie zieht aus der Scheide des vor ihr gefesselten Hagen das Schwert Balmung, das ihrem Mann Siegfried gehört hat, hebt den Kopf Hagens an und schlägt ihm den Kopf ab. Das schöne Mädchen Kriemhild ist hier zur Henkerin und Teufelin geworden, sie hat unermessliche Kraft aufgebracht, ihr gesamtes ertragenes Leid liegt in diesem Schlag gegen Hagen. Ihr Mann Etzel steht dabei, sieht es und klagt:
Wâfen, sprach der vürste, wie ist nû tôt gelegen
von eines wîbes handen der aller beste degen,
der ie kom ze sturme oder ie schilt getruoc (Str. 2374, 1-3).
Etzel klagt, aber er handelt nicht. Der beste aller Helden ist von der Hand einer Frau getötet worden. Hagen wurde von Kriemhild enthauptet. Ein Skandalon. Hildebrand stürzt voller Zorn herbei, ein Held auch er, der treue Gefolgsmann von Dietrich von Bern, er handelt:
er sluoc der küneginne einen swaeren swertswanc (Str. 2376,2)
‚Er schlug mächtig mit dem Schwert auf die Königin ein.‘
Was sagt der Nibelungenerzähler?
Dô was gelegen aller dâ der veigen lîp.
ze stücken was gehouwen dô daz edel wîp.
Dieterîch und Etzel weinen dô began.
si klagten inneclîche beide mâge und man. (Str. 2377)
‚Da waren alle tot, die zum Tode bestimmt waren.
Die Königin war in Stücke gehauen.
Dietrich und Etzel brachen in Tränen aus.
Sie beklagten von Herzen Verwandte und Gefolgsleute.‘
Das schöne Mädchen Kriemhild vom Anfang der Geschichte liegt am Ende zerstückelt vor uns. Kriemhild, das schoene wîp (Str. 2,3), sie hatte tatsächlich vielen Männern den Tod gebracht, aber sie hatte sich am Ende eigenhändig an dem Mörder ihres Mannes gerächt.
Ine kan iu niht bescheiden, waz sider dâ geschach,
wan ritter unde vrouwen weinen man dâ sach,
dar zuo die edeln knehte ir lieben vriunde tôt.
dâ hât daz maere ein ende. diz ist der Nibelunge nôt. (Str. 2379)
Der Erzähler, der am Anfang Unerhörtes, wunder versprochen hat, hat Unerhörtes geboten, aber er weiß am Ende nicht, wie es weitergeht:
‚Ich kann euch nicht sagen, was später dort geschah. Nur, dass Ritter und Damen und hochgeborne Knechte ihre lieben Freunde beweinten.
Da endet die Geschichte. Das ist der Untergang der Nibelungen.‘
Diese sogenannte Hortforderung der 39. Aventiure des ‚Nibelungenlieds‘ hat die Forschung beschäftigt. Es gibt Lösungsangebote.[^16 Zu den Deutungen der Forschung, s. Heinzle 2015, S. 1506–1508 (Stellenkommentar); dann besonders auch: Heinzle 2014, S. 149–164. Jan-Dirk Müller dagegen versucht eine Deutung der Stelle, ihm folge ich in meiner Lektüre: Müller 1998, S. 147–151.] Für Joachim Heinzle ist diese Stelle wie manch andere Beweis für die Brüchigkeit des Textes, für Widersprüche, Traditionslinien aus älteren Erzählungen, aus den mündlichen Traditionen, die hier Eingang gefunden hätten in die Verschriftlichung des Textes: „Die Interpretationen unterstellen einen Sinn, der im Text in keiner Weise angelegt ist“ (Heinzle 2015, S. 1507). Er sieht einen „erzähltechnischen Defekt“ (Heinzle 2014, S. 157) und wertet: der „Nibelungendichter war kein Originalgenie“ (ebd.). Dieser Dichter hatte mit einer vielgestaltigen mündlichen Tradition zu tun, die er in seine literarische Fassung einbinden musste:
Die Aufgabe, die er sich (oder die man ihm) gestellt hatte, bestand darin, diese Erzähltradition in Literatur umzusetzen, sie mittels der Erzähltechniken, Erzählmodelle, Deutungsmuster, die in der literarischen Tradition ausgebildet waren, in diese einzubinden. (Heinzle 2014, S. 157)
Wie auch immer die Logik oder Unlogik der Hortforderungsszene zu deuten ist, das Mittelalter selbst hat sich in seiner Literatur um Deutungen des Nibelungengeschehens bemüht. Hier kommt nun der zweite Text zur Sprache, die sogenannte ‚Nibelungenklage‘, die sich beinahe bruchlos in der Überlieferung des ‚Nibelungenlieds‘ anschließt. Damit möchte ich eine dritte Dynamik andeuten, die Dynamik der Antwort, die der zweite Text bietet oder zumindest versucht und damit einen Dialog herstellt zwischen zwei literarischen Texten der Zeit um 1200.
Dritte Dynamik: Antworten der ‚Nibelungenklage‘
In der Handschrift C (Karlsruhe, BLB, Cod. Donaueschingen 63) wird unmittelbar nach dem letzten Vers des ‚Nibelungenlieds‘ gleichsam als neues Kapitel die ‚Klage‘ aufgeschlagen, und zwar unter der Überschrift: Auenture von der Klage. (Abb. 2)

Abbildung 2: Rubrizierte Überschrift und Textanfang der ‚Nibelungenklage‘ in der Handschrift C (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 63), f. 89r: Auenture von Der Klage.
Wir haben die Handschrift C als Buchdichtung identifiziert, wohl eingerichtet und gegliedert. ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘ stehen hier unmittelbar hintereinander, die ‚Klage‘ wird als nächstes Kapitel dieser einen, großen Nibelungengeschichte bezeichnet. Unmittelbar nach dem letzten Wort des zum Text gewordenen ‚Nibelungenlieds‘ fängt doch noch etwas an, obwohl dessen Erzähler behauptet hatte, von einem Fortgang nichts zu wissen. In der Buchdichtung, in der Literatur geht es weiter und kann es weitergehen:[^17 Nicht nur in der einen Handschrift in Karlsruhe folgt die ‚Klage‘ dem ‚Nibelungenlied‘, sondern in den neun vollständigen Handschriften, die den Text der ‚Klage‘ überliefern, ist der Textverbund von ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘ erhalten; zur Überlieferung s. den Handschriftencensus unter: https://handschriftencensus.de/werke/195 (abgerufen am 27. November 2022).]
Hie hebt sich ein maere,
daz waere vil redebaere
und waere vil guot ze sagene,
niuwan daz ez ze klagene
den liuten allen gezimt (V. 1–5).[^18 Auch die ‚Klage‘ wird nach der Textausgabe von Heinzle zitiert.]
‚Hier beginnt eine Geschichte, die sehr erzählenswert und durchaus auch gut zu erzählen wäre, wenn sie nicht zugleich alle (die sie hören) zum Klagen und Trauern zwingen würde‘; so lautet der Beginn der ‚Klage‘.
Der Text, der hier einsetzt, ist ein Reimpaartext; genauso notiert wie die Strophen des ‚Nibelungenlieds‘, durch Verspunkte die einzelnen Verse voneinander abtrennend. Eine etwas größere Initiale markiert einen Kapitelanfang auf der Textseite. Darüber hinaus ist kein Trennungsindiz zu erkennen. Der Reimpaarvers ist Trennungs- und Abstandszeichen genug, das ist der Hiatus, der sich ergeben muss zur voraufgehenden Untergangsgeschichte. Ob es eine zeitliche Trennung zwischen den Texten, zwischen der Verschriftlichung der Geschichten gibt, kaschiert der beinahe nahtlose Übergang der Handschriften, die zwei Texte auch in eine zeitliche Nachbarschaft stellen und sie dadurch synchron halten, sie in eine Synchronität bringen. Hier, in Handschrift C, muss man nicht einmal umblättern, nur weiterlesen. Die Überlieferung der Handschriften stellt zwei Texte nebeneinander, die nun auf einer gemeinsamen zeitlichen Ebene existieren; die Überlieferung schaltet sie unmittelbar hintereinander und bringt sie in einen Dialog oder genauer: bildet dadurch einen Dialog ab. Im Unterschied zur Strophenform wählt der Klageerzähler, der sich ebenfalls nicht mit Namen nennt, den für den Roman der Zeit üblichen Reimpaarvers und wendet sich damit vom älteren Modell der Strophe ab, wendet sich damit auch von der Form, dem Duktus und Ton des ‚Nibelungenlieds‘ ab. Die ‚Klage‘ wählt einen neuen Ansatz, sie versucht einen Anschluss an das Untergangsgeschehen, formt aber neu.[^19 Zu den vier Fassungen der ‚Klage‘ vgl. Joachim Bumke (Hg.): Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, Berlin/New York 1999.]
Die ‚Klage‘ formuliert sehr bald eine Entschuldigung für Kriemhild. Niemand konnte von Kriemhild etwas Schlechtes sagen; wer die Geschichte kennt, der spricht sie von Schuld frei, denn diese Frau, diz vil edel werde wîp (V. 156) handelte aus Treue (triuwe, V. 157), sie rächte sich aus großem Schmerz (V. 151–158). Kriemhild, die wir gerade noch mit dem blutigen Haupt ihres Bruders vor uns gesehen haben, wird hier von dem unbekannten Verfasser der ‚Klage‘ entschuldigt. Die Lesart der sich mit langem Atem rächenden liebenden Frau wird hier unterstützt.
Der gesamte Text der ‚Klage‘ ist in großen Partien Klagerede; Klage über die Toten, die wir vor uns liegen sehen. Wir gehen lesend und schauend an den Ort des Geschehens, wir stehen in der Burg Etzels und sehen die ganzen Toten, wir schreiten mit dem Erzähler die Fundorte ab und hören die Klagen der Überlebenden, es sind vor allem Dietrich, Hildebrand und Etzel. Der Text vollzieht einen Gang der Erinnerung, indem der Tatort besichtigt und abgeschritten wird; der Text vollzieht das Geschehen nach im Gestus des Zeigens und Erinnerns. Diesen Gestus kennt man aus der geistlichen Literatur, indem man den Gang der Passion Christi nachempfindet, indem man die einzelnen Stationen seines Leidens in Gedanken und in der memorierenden Andacht aufsucht. Der Text der ‚Klage‘ macht überdeutlich, was ein Schlachtfeld ist, man bahnt sich lesend einen Weg durch die blutigen, blutüberströmten Toten und Körperteile. Und dann beugt man sich über einzelne Tote, nicht aus Neugier, sondern, um sie in ihrer Individualität und Würde, in ihrer Lebensleistung aufzurufen und anzuerkennen, für die Nachwelt, für die Leser zu erinnern und um sie zu betrauern.
Der Text der ‚Klage‘ setzt damit am Ende der nibelungischen Katastrophe an und beschaut das Ergebnis, man beklagt und versucht zu verarbeiten, man erinnert sich an die Leistungen der einzelnen Personen, die nun tot vor uns liegen. Lesend und nachvollziehend, ein Akt, der gewissermaßen das Pronomen uns der ersten Nibelungenstrophe aufgreift und uns, alle Leser dieses Textes, miteinbezieht in den Erinnerungs- und Erkenntnisakt. Mit den Figuren sehen wir auf die Toten, auf die Geschichte der Nibelungen zurück und wir erkennen die Zusammenhänge, formen uns eine Meinung aus.
Dietrich von Bern kommt beispielsweise zur Leiche Kriemhilds (V. 759–761). ‚Nie hörte ich von einer schöneren Frau erzählen‘, sagt er (V. 774f.), indem er sich an die Tote wendet, und zwar mit einem muote klegelich (V. 760), im Gestus der Trauer. Dietrich erinnert an die Königin und erweist ihr einen letzten Dienst. Er lässt ihren Leichnam aufbahren und trägt das abgeschlagene Haupt Kriemhilds herbei (V. 786f.). Was für eine Szene, was für eine Tat! Dietrich setzt den Körper Kriemhilds wieder zusammen, den Hildebrand getrennt hatte, mit seinen eigenen Händen hebt er das Haupt aus dem Blut und trägt es herbei. Die Tötung Kriemhilds durch Hildebrand wird hier als Enthauptung identifiziert. Dietrich von Bern erinnert an die Person und Königin, die durch ihre Schönheit einzigartig war in der Welt. Kriemhild hielt am Ende das Haupt ihres Bruders Gunther ihrem Todfeind Hagen entgegen, hier trägt Dietrich nun ihr Haupt zu ihrem Körper und komplettiert die Figur im Nachgang wieder zum Ganzen.
Auch König Etzel kommt hinzu, er ist der jâmers rîche, / dem jâmer wol gelîche (V. 801f.), Etzel ist voller Schmerz, ist ganz Schmerz, er ruft in diesem Zustand seine Frau positiv in Erinnerung: getriuwer wîp wart nie geborn / von deheiner muoter mêre (V. 834f.).
‚Nie wurde von einer Mutter eine treuere Frau geboren‘ als Kriemhild, so seine Deutung der triuwe der Königin.
Von den Figuren der Geschichte wird Trauer- und Erinnerungsarbeit geleistet. Die Taten der einzelnen werden vor den Toten stehend artikuliert, memoriert und dadurch in Erinnerung gehalten, ins kulturelle Gedächtnis überführt. Damit wird ihnen Ehre erwiesen, die Ehre im Kulturraum der Literatur. Die Erinnerung wird damit weitergegeben an die Rezipienten, an jeden Leser des Textes.
Aber es werden auch Urteile gesprochen und ausgesprochen, Hildebrand ruft beispielsweise aus: nû seht, wâ der vâlant / lît, der ez allez riet! (V. 1250f.).
‚Seht dorthin, wo der Teufel liegt, der alles angestiftet hat.‘ Gemeint ist Hagen, den Hildebrand hier zum Schuldigen des Untergangs macht und zum Teufel; er ist der Teufel, nicht Kriemhild. Es ist Hagens Schuld, dass es keine friedliche Lösung gab (V. 1252f.), wird an dieser Stelle formuliert. Hildebrand fällt ein weiteres Urteil. Wer konnte erwarten, dass aufgrund von Siegfrieds Tod so viele tapfere Männer sterben mussten (V. 1264–1267). Die großen Helden haben den schrecklichen Zorn Gottes schon lange verdient (V. 1271–1273), denn: dô muosen si den gotes slac / lîden durch ir übermuot (V. 1276f.). Der Schlag Gottes traf sie aufgrund ihres Hochmuts, daz hânt si in selbe erworben (V. 1282). Sie haben ihn selbst provoziert. Gemeint sind die burgundischen Kämpfer, die Wormser Könige, gemeint sind aber eventuell alle Helden, die nun verdientermaßen tot sind. Alle Helden hat der gotes slac getroffen. Gott hat das Ende der Heldenzeit angemahnt und aufgerufen.
Indem die einzelnen Toten aufgefunden und benannt werden, erhalten sie einen Platz im literarischen Gedächtnis, die ‚Klage‘ gibt ihnen gleichsam einen Gedenk- und Erinnerungsort.
Jan-Dirk Müller spricht hierbei von „buchhalterischer Genauigkeit“ (Müller 1998, S. 117), mit der alle Personen aufnotiert werden. Mehr als 800 Tote hatte man aus dem Saal herausgetragen (V. 1648). Das Unglück wird gemessen und vermessen, es wird in Zahlen übersetzt, dadurch sichtbar und spürbar, benennbar und er-zählbar gemacht. Das Leid wird in eine Zahl und in eine Erzählung überführt, dadurch wird es fassbar und erfassbar gemacht. Die Toten werden benannt und in das Buch der Literatur-Geschichte eingetragen. Die Knappen, die Brüder, einzelne Kämpfer, Trauergesten, krachende Knochen werden genannt. Reaktionen auf den Tod werden vor Augen geführt, berühmte Männer weinen oder werden ohnmächtig angesichts des Leids, das sie vor sich haben.
Die ‚Klage‘ thematisiert die Zeit unmittelbar nach den schrecklichen Kämpfen, zeigt die Folgen, zeigt das Leid auf, sie erzählt das ‚Nibelungenlied‘ in gewisser Weise weiter.
Doch die Toten, die hier nun bestattet sind, haben Verwandte, in Worms oder in Bechelaren. Wie soll man die Botschaft dorthin tragen? Wer soll der Bote sein? Man denkt an die Hinterbliebenen, sie müssen erfahren, was passiert ist. Der Spielmann Swemmel soll der Bote sein. Dem sind die Wege gut bekannt, heißt es (V. 2594), schließlich hatte er schon einmal die Einladung nach Worms übermittelt, als Kriemhild ihre Brüder einlud. Man knüpft also unmittelbar an die vorausgehende Geschichte an, es sind dieselben Figuren, dieselben Kontexte. Swemmel ist Etzels Spielmann, im ‚Nibelungenlied‘ wie in der ‚Klage‘.
Brünhild, die Ehefrau Gunthers muss vom Tod erfahren, auch die Mutter Kriemhilds, Ute, weiterhin Rüdegers Angehörige. Man denkt an die Verwandten in der Ferne, will die Botschaft zu ihnen bringen, die ja noch nicht wissen, was passiert ist. Der Bote muss die Ereignisse und Nachrichten vom Tod der vielen überbringen, in Worte fassen und er muss mit diesen Informationen die Reise antreten vom Hunnenland über Bechelaren, Passau nach Worms.
Der Text zeigt einen Denkprozess auf, er mahnt daran, dass die Familien der Angehörigen gar nichts von dem Untergangsgeschehen wissen. Ein Bote wird sie informieren. Und auch hier werden wir mit Reaktionen konfrontiert, die drastisch sind, die aufzeigen, was der Tod von nahen und geliebten Verwandten für die Angehörigen bedeutet.
Die Boten kommen nach Passau, wo der Bischof Pilgrim residiert (V. 3294–3299); die Könige aus Worms waren die Söhne seiner Schwester. Auf der Hinreise zu Etzel machten sie in Passau Station. Noch wusste der Bischof nicht, dass alle tot sind. Dann berichtet der Spielmann, der ein Augenzeuge des Geschehens im Hunnenland war. Der Bischof will weitere Informationen einholen, will recherchieren, er sendet eigene Leute zu Etzel, ins Hunnenland, um Informationen zusammenzutragen, er will alles aufschreiben lassen, wie es dazu kommen konnte (V. 3464f.). Bischof Pilgrim wird gegen Ende der ‚Nibelungenklage‘ als der Veranlasser der Aufzeichnung genannt. Es wäre schlimm, sagt der Text eigens, wenn diese Ereignisse nicht festgehalten würden. Denn ez ist diu groezeste geschiht, /diu zer werlde ie geschach (V. 3480f.). Der Untergang der Nibelungen und die Ereignisse, die dazu führten, werden als die größte Geschichte genannt, die je auf der Welt geschah. Sie muss festgehalten werden, sie muss Literatur werden.
Swemmel wiederum reist von Passau weiter nach Worms zu Brünhild. Brünhild war im gesamten zweiten Teil des ‚Nibelungenlieds‘ in Vergessenheit geraten. Die berühmte Königin vom Beginn des Liedes, hier wird sie noch einmal erwähnt. Swemmel berichtet dort die Geschichte, wir lesen also eine Nacherzählung und Deutung, die dem Spielmann in den Mund gelegt ist, er erzählt einmal in aller Kürze vor der Königin Brühnhild (V. 3626–3659), dann erzählt er ausführlich vor der Versammlung in Anwesenheit des jungen Königs davon (V. 3776–3947). Danach reist er wieder zurück zu Etzel und Dietrich.
Die ‚Klage‘ ist ein Vor-Augen-Führen des Leides, ein Versuch der Deutung, verschiedene Stimmen im Text werden gehört, durchaus verschiedene Deutungen formuliert. Die Erzählung des Leids schafft neues Leid, denn Trauer und auch Tod sind die Folge.[^20 Ute, die Mutter von Gunther, Gernot, Giselher und Kriemhild stirbt nach sieben Tagen, nachdem sie durch Swemmel von den Geschehnissen gehört hatte, vgl. ‚Klage‘, V. 3952–3959.] Ein Blick in die Zukunft wird geworfen, ein Berichten der Ereignisse an die Hinterbliebenen, ein Versuch des Weiterlebens gezeigt. Der Text schmiegt sich beinahe bruchlos an das ‚Nibelungenlied‘ an, wechselt nur den Modus, vom heldenepischen Ton hin zum höfischen Erzählen in Reimpaaren. Zeigt, dass dieses grausame Geschehen nicht einfach so enden kann. Dass in einem Neuanfang der Versuch einer Deutung liegt.
Das ist ein Textverbund von ‚Nibelungenklage‘ und vorausgehendem ‚Nibelungenlied‘, den wir nicht allzu häufig vorfinden in der Überlieferung mittelalterlicher Literatur. Ein Text ändert das Genre, wechselt den Ton, ist nun Reimpaartext (nicht mehr strophisches Lied) und verfolgt die Handlungsfäden, ent- oder belastet einige Figuren, erzählt weiter. Eine Textbewegung, die eine mittelalterliche Rezeption des ‚Nibelungenlieds‘ darstellt und zugleich aufzeigt, wie Memorierung funktionieren kann. Das ‚Nibelungenlied‘ wird um 1200 zum Text und sogleich Anlass zur Stellungnahme. Die ‚Klage‘ zeigt auf, wie mündliches Erzählen zum Text wird, wie Geschehnisse geklärt, formuliert, besichtigt und verschriftlicht werden müssen. Denn – das haben wir schließlich von Gottfried von Straßburg gelernt – wenn man nicht erinnert an ein Geschehen, dann ist es so gut wie nicht passiert. Diese Erinnerung an das Gute, aber auch an das Schreckliche, ist Aufgabe der Literatur:
Gedenket man ir ze guote niht,
von den der werlde guot geschiht,
sô wære ez allez alse niht,
swaz guotes in der werlde geschiht. (Haug / Scholz 2011, Bd. 1, S. 10f.)