Minnesang im Spannungsfeld der Kulturen. Das dynamische Bild der Entstehung einer Gattung
Unter ‚Minnesang‘ versteht man mittelhochdeutsche Liebeslyrik, wie es sich bereits im ersten Bestandteil des Begriffs andeutet:[^1 Der diesem Beitrag zugrunde liegende Vortrag sollte aus dem Blickwinkel des Ober themas exemplarisch in die Gattung Minnesang einführen. Diese Zielrichtung wird auch in der Schriftfassung beibehalten. Dementsprechend beschränke ich mich in den Fußnoten auch auf wenige grundlegende Literaturhinweise und Lektüreempfehlungen.] Das mittelhochdeutsche Wort minne ist in der Neuzeit nicht mehr gebräuchlich und verrät bereits so den Bezug zu der Zeit um 1200, darüber hinaus birgt es semantisch ein anderes Verständnis von Liebe, als wir es in moderner Lyrik vorfinden. Der zweite Bestandteil ist ebenso wichtig und bezeichnet etwas, was in aller Regel weniger präsent ist: ‚Sang‘ meint gesungene Lieder über Liebe. Das ist so wichtig zu betonen, da die Melodien in den allermeisten Fällen verloren gegangen und heute nur noch die Texte zugänglich sind, so dass man den Eindruck gewinnen könnte, es handle sich um Leselyrik. In manchen Fällen ist bekannt, dass ein Lied auf dieselbe Melodie gesungen wurde wie ein altfranzösisches oder provenzalisches, die noch bekannt ist. Aber alles in allem sind es wenige Einzelfälle.
Die Texte haben wir dank einer Reihe von Handschriften zur Verfügung, die uns ein paar Dinge über Minnesang verraten. Die wichtigsten drei, zugleich die ältesten, sind um 1300 herum im südwestdeutschen Sprachraum entstanden und auch heute dort aufbewahrt. Sie enthalten Lieder von den Anfängen des Minnesangs um 1150 bis zur Entstehungszeit der Handschriften selbst, überliefern damit eine Tradition, deren Anfänge bereits damals in der historischen Vergangenheit lagen und deren prominente Vertreter wie Heinrich von Morungen, Friedrich von Hausen oder Walther von der Vogelweide – um nur drei Namen zu nennen – schon lange nicht mehr leben. Die erste dieser drei ist die nach ihrem Aufbewahrungsort so genannte ‚Kleine Heidelberger Liederhandschrift‘, die in der Forschung mit der Sigle A bezeichnet wird. Sie stammt aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts und wird in der Universitätsbibliothek Heidelberg unter der Signatur Cpg 357 aufbewahrt.[^2 Die Handschrift ist im Volldigitalisat zu lesen und zu durchsuchen unter https://doi.org/10.11588/diglit.164 (12.11.2022); nähere Informationen unter https://handschriftencensus.de/4927 (12.11.2022).] Die zweite mit der Sigle B ist zwischen 1300 und 1320 entstanden und heute in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart unter der Signatur HB XIII zu finden.[^3 Volldigitalisat: https://digital.wlb-stuttgart.de/index.php?id=6&tx_dlf%5Bid%5D=12064&tx_dlf%5Bpage%5D=1 (12.11.2022), weitere Informationen unter https://handschriftencensus.de/5914 (12.11.2022).] Ursprünglich war sie in der Bibliothek des Klosters Weingarten, weshalb sie auch Weingartener Liederhandschrift genannt wird. Die dritte, die bekannteste von allen, trägt die Sigle C und wird, da sie auch in Heidelberg aufbewahrt wird (mit der Signatur Cpg 848) und wesentlich umfangreicher als A ist ‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ oder, nach dem mutmaßlichen Mäzen und Financier, auch Manessische Liederhandschrift genannt.[^4 Volldigitalisat unter: https://doi.org/10.11588/diglit.2222 (12.11.2022). Eine Einführung in Entstehung und Geschichte bei Voetz, Lothar (2020); weitere Literatur unter obigem Link, auch unter https://handschriftencensus.de/4957 (12.11.2011).]
Alle drei Handschriften sind so genannte Sammelhandschriften; sie wurden also angelegt, um eine (insbesondere im Falle von C möglichst vollständige) Sammlung mittelhochdeutscher Liebeslyrik zu haben. Sie macht den Kern aller drei aus, auch wenn sich z. B. auch Spruchdichtung darin findet. Alle drei sind nach Autoren gegliedert, indem jede Abteilung mit einem stilisierten Portrait beginnt, das den jeweiligen Sänger mit Attributen darstellt, die sich aus seinen Liedern ergeben. Dazu kommt stets ein Wappen, das auch erfunden sein kann, wo es nicht mehr bekannt war, oder wenn die Familie des Sängers nicht adlig war und keines hatte (wie etwa im Fall Walthers von der Vogelweide). Hinter dem Bild des Sängers folgen dann dessen Lieder; freigelassene Blätter nach dem letzten und vor dem Portrait des folgenden zeigen an, dass man noch damit rechnete, weitere Lieder zu finden und diese dann einzutragen. In C sind einige solche Fälle sichtbar.
Die Textgattung Minnesang, die in diesen und weiteren Handschriften überliefert wird, verdankt die erste große Entwicklung vor allem einer Dynamik aus der Begegnung mit dem altfranzösischen und dem altprovenzalischen Minnesang und der Aufnahme und Verarbeitung neuer Motive und Formen daraus. Um diese Dynamik soll es hier gehen. Dazu möchte ich die Gattungsgeschichte über die klassischen drei ersten Phasen zwischen 1150 und 1200 nachzeichnen und dabei deutlich machen, wie die Entwicklung über diese drei Phasen hin verlief.[^5 Zum Minnesang und den aktuellen Fragen der Forschung Kellner, Beate (2018).]
Donauländischer Minnesang
Fast alles, was wir über diese Entwicklung wissen, müssen wir aus der Überlieferung der Handschriften heraus rekonstruieren. Es beginnt mit dem so genannten donauländischen Minnesang, dem man die ältesten, ab 1150 entstehenden Lieder zurechnet. Die Sänger, die hier mit Namen genannt werden, kann man an Höfen lokalisieren, welche an der Donau liegen, deshalb wird diese erste Phase so genannt. Beispiele sind die Burggrafen von Regensburg und von Rietenburg, oder möglicherweise Dietmar von Aist, benannt nach dem Fluss Aist, der bei Linz in die Donau mündet. Auch der Kürenberger könnte an der Donau lokalisiert werden.[^6 Diskussion der möglichen Herkunft des Kürenberges bei Schweikle, Günther (1985).] Generell muss hier festgehalten werden, dass oft die Zuschreibungen der Lieder in den Handschriften variieren und die die Autorschaft eines Sängers für einzelne Lieder aus dem unter seinem Namen überlieferten Corpus in der Forschung oft in Frage gestellt wurde.
Diese Lieder sind Zeugnisse der sich im deutschen Sprachraum derzeit etablierenden Höfischen Kultur, die ihren Ursprung in Frankreich hat, wo Minnesang als Form der Repräsentation dieser Kultur bereits bekannt war. Auf welche Traditionen der Lieddichtung die deutschen Sänger an der Donau sich stützten, ist schwer zu sagen; man findet Anklänge von mündlich überlieferten Volksliedern wie auch von der gebildeten lateinischen Lyrik, die in deutschen Klöstern schon immer überliefert und gepflegt wurde. Vieles lässt sich einfach nicht mehr erschließen. Was die frühen Zeugnisse verbindet, ist vor allem die metrische Form der Langzeilenstrophe und der fehlende Einfluss von Konzepten und Motiven aus dem romanischen Minnesang, insbesondere des so genannten Frauendienstes, auf den ich noch kommen werde.[^7 Hierzu Benz, Maximilian (2014).] Das erste Beispiel dieser frühen Phase sollen Strophen sein, die unter dem Namen des bereits genannten Kürenbergers überliefert sind.
Der ‚Kürenberger‘
In der Handschrift C finden sich nach seinem Portrait zunächst zwei Strophen metrisch gleicher Bauform, gefolgt von 13 Strophen, die diese Bauform leicht variieren:[^8 Zum Kürenberger informiert aktuell der Artikel von Benz, Maximilian (2021).] Hier werden vier Zeilen durch Paarreim zu einer Strophe verbunden. Sie bestehen aus zwei Teilen, einem An- und einem Abvers. Ersterer hat in der Regel vier und letzterer drei Hebungen; sie sind durch eine Zäsur in der Mitte getrennt. Diese so genannten Langzeilenstrophen sind die charakteristische Form der Lieder dieser frühesten Phase. Ihre Form entspricht jener, mit denen das Nibelungenlied erzählt wird, das wohl in Passau und damit im selben geographischen Raum entstanden ist.
Inhaltlich bilden diese Strophen allerdings keinen durchgehenden (Erzähl-)Zusammenhang wie das ‚Nibelungenlied‘. Mal beziehen sich zwei deutlich aufeinander; die meisten stehen allerdings einzeln für sich und lassen sich allenfalls thematisch mit der folgenden verbinden. Der Redaktor der Handschrift hat offenbar alle Strophen zusammengestellt, die unter dem Namen des Kürenbergers bekannt waren und sie in eine gewisse Ordnung gebracht. Ein erstes Beispiel soll die vierte in C enthaltene sein:[^9 Ich verwende die Texte des Projekts Lyrik des deutschen Mittelalters, dabei wähle ich unter ‚Einstellungen‘ den Text in normalisiertem Mittelhochdeutsch in den Grundeinstellungen aus. Geboten werden jeweils Transkription, Edition, Kommentierung und Digitalisat. Die Strophen des Kürenbergers finden sich mit Edition und Kommentar von Simone Leidinger unter https://www.ldm-digital.de/show.php?au=K%FCrn&hs=B2&lid=1626 (12.11.2022).]
›Swenne ich stân aleine in mînem hemede,
unde ich gedenke an dich, ritter edele,
sô erblüet sich mîn varwe, als der rôse an dem dorne tuot,
unde gewinnet daz herze vil manegen trûrigen muot.‹
‚Immer, wenn ich in meinem Hemd alleine stehe,
und ich, edler Ritter an dich denke,
dann erblüht meine Farbe, wie die der dornigen Rose
und mein Herz füllt sich mit großer Trauer.‘
Sie erzählt von der Sehnsucht nach einem edlen Ritter, der Sehnsucht – so lässt sich schließen – einer Dame, die hier mit dem Sänger-Ich identisch ist. In direkter Ansprache erzählt sie diesem Ritter von der Erinnerung an ihn und kleidet dies in Bilder, die vergangene erotische Erfüllung andeuten: sie ist alleine, sie erwähnt ihr Hemd und dass sie beim Gedanken an ihn rot wird, eher aus Erregung denn vor Scham. Der Vergleich mit der rôse an dem dorne greift ein Bild aus der Marienlyrik auf. Das mag erstaunlich wirken, war aber im Mittelalter nicht selten. Offenbar konnte man mit solchen Anspielungen einer Schönheitsbeschreibung noch mehr Intensität verliehen.
Der letzte Vers kontrastiert dies dann mit der großen Trauer, die ihr Herz im Moment erleidet, offenbar, weil das Paar nun voneinander getrennt ist. Was die beiden trennt, bleibt offen; in den Versen geht es lediglich um die Schilderung der schmerzlich-sehnsuchtsvollen Erinnerung, die nicht narrativ begründet werden muss.
Die folgende Strophe bleibt bei einem ähnlichen Thema; möglicherweise wurde sie deshalb im Anschluss aufgeschrieben. Sie lautet:
ez hât mir an dem herzen vil dicke wê getân
daz mich des geluste des ich niht mohte hân
noch niemer mac gewinnen. Daz ist schedelîch.
jône mein ich gold noch silber: ez ist den liuten gelîch.
‚Es hat mir im Herzen sehr oft weh getan,
dass ich mich nach dem sehnte, was ich nicht haben konnte
noch jemals erlangen kann. Das ist nicht gut.
Doch meine ich weder Gold noch Silber: Das ist den Menschen ähnlich.‘
Auch hier handeln die ersten drei Zeilen vom Schmerz einer unerfüllten Sehnsucht, die offenbar auch nicht zu erfüllen war. Wir erfahren weder genau, was oder wer ersehnt wurde, noch, ob der Sänger hier in der Rolle einer Dame singt oder eines Ritters, ob das Sänger-Ich also männlich oder weiblich zu denken ist.[^10 Da man davon ausgeht, dass der Vortrag dieser Strophen in der Regel von Männern erfolgte, die auch die Frauenstrophen sangen, belasse ich den Begriff ‚Sänger-Ich‘ bewusst in der maskulinen Form. Zeugnisse von Sängerinnen sind bislang nur aus dem provenzalischen Minnesang bekannt; als prominenteste wäre die Gräfin Beatriz von Die, die ‚Comtessa de Dia‘ zu nennen.] Erst die letzte Zeile verdeutlicht mit dem Hinweis, das Sehnen richte sich nicht auf Edelmetall, dass es um Immaterielles geht, nämlich, wie der Kontext nahelegt, um Liebe. Die Sehnsucht nach materiellen Werten sei dem gemeinen Volk, den liuten gleich und damit etwas Minderwertiges, von dem das Sänger-Ich sich abheben möchte.
An diesen beiden Strophen zeigt sich bereits mehreres: Die Liebe wird häufig aus dem Zustand der Sehnsucht nach einem nicht oder nicht mehr zu erreichenden Menschen heraus beschrieben. Häufig klingen dabei Reflexionen an, welche diese Liebe als besonderen Affekt und somit als Zeichen eines besonderen Charakters exponieren. Für diese frühe Phase des Minnesangs speziell typisch ist der sehr lose Zusammenhang der Strophen, wie auch der Befund der zweiten hier vorgeführten Strophe, dass das Sänger-Ich nicht eindeutig einer männlichen oder weiblichen Stimme zugeordnet werden kann. Zugleich wird hier oft wesentlich eindeutiger vom vergangenen Liebesglück erzählt; oftmals werden Neider und Intriganten gescholten, die offenbar für die Trennung verantwortlich sind. Im Œuvre des Kürenbergers bleibt es bei solch punktuellen Andeutungen.
Ein Autor, der bereits am Übergang zwischen der frühesten und der nächsten Phase des Minnesangs steht, ist Dietmar von Aist.[^11 Zu ihm Tervooren, Helmut (1980).] Unter seinem Namen ist auch eine Reihe von Langzeilenstrophen überliefert; in den Handschriften B und C finden sich fünf in der gleichen Reihenfolge, die auf ähnliche Weise wie die des Kürenbergers in eher losem Zusammenhang miteinander stehen.[^12 Text und Kommentar von Simone Leidinger unter https://www.ldm-digital.de/show.php?au=Dietm&hs=C&lid=571 (12.11.2022).] Die letzten beiden dagegen beziehen sich deutlich aufeinander und sollen uns als nächstes beschäftigen; die erste beginnt mit einem Bild aus der Natur:
Ûf der linden obene, dâ sanc ein kleinez vogellîn.
vor dem walde wart ez lût. dô huop sich aber daz herze mîn
an eine stat, dâ ez ê dâ was. ich sach dâ rôsebluomen stân,
die manent mich der gedanke vil, die ich hin zeiner frouwen hân
‚Oben auf der Linde sang ein kleines Vögelchen.
Am Waldrand erklang seine Stimme. Da erhob sich mein Herz hin
an einen Ort, an dem es vorher schon gewesen war. Ich sah dort Rosen blühen,
die erinnern mich an viele Gedanken an eine Dame, die ich in mir habe.‘
Das Sänger-Ich erzählt von einer Situation am Waldrand, in der die Stimme eines Vogels von einer Linde herab zu hören war; dies nimmt sein herze gefangen, also den Sitz der Gefühle, und führt es an eine Stelle, an die es (das Herz) sich erinnert. Über die dort zu sehenden Rosen gelangt die Erinnerung schließlich zu einer Dame, an die das Herz viele Gedanken bewahrt. Dass es die geliebte Dame ist, bleibt auf diese Weise nur angedeutet.
Der Beginn ruft das Motiv einer aufblühenden Natur im Frühjahr auf, die den vom Sänger-Ich erinnerten locus amoenus und damit den Ort der Liebe vorwegnimmt. Ein solches Motiv zu Beginn ist im Minnesang als Natureingang bekannt; die erste Strophe dieser Reihe von Dietmars Langzeilenstrophen wird im Übrigen davon ganz eingenommen.[^13 Vgl. den Artikel von Lieb, Ludger (2021).]
Das Sänger-Ich zeigt sich anhand des vierten Verses (hin zeiner vrouwen) als eindeutig männlich markiert. Gleich der erste Vers der folgenden Strophe aber zeigt einen Wechsel der Sprechinstanz an und präsentiert die Strophe somit als so genannte Frauenstrophe:[^14 Die einfachen Anführungszeichen zu Beginn und Ende einer Strophe werden in einer Edition üblicherweise gesetzt, um anzuzeigen, dass es sich um eine Frauenstrophe handelt. In der handschriftlichen Überlieferung taucht dies nicht auf.]
›Ez dunket mich wol tûsent jâr, daz ich an liebes arme lac.
sunder âne mîne schulde fremdet er mich manigen tac.
sît ich bluomen niht ensach noch hôrte kleiner vogel sanc,
sît was al mîn fröide kurz unde ouch der jâmer al zelanc.‹
‚Es scheint mir wie tausend Jahre, dass ich im Arm meines Liebsten lag.
Ohne meine Schuld bleibt er seit vielen Tagen fern von mir.
Seit ich keine Blumen sah noch den Gesang der Vögel hörte,
Seitdem hatte ich wenig Freude und allzu viel Kummer.‘
Auch die Dame berichtet aus der Erinnerung über die Liebe, die ihr fast tausend Jahre lang vergangen scheint. Der erste Vers allerdings (das ich an liebes arme lac) fasst die Erinnerung sehr konkret. Als Zusatzinformation aus dieser Strophe erfährt man, dass der Ritter die Dame zu ihrem Kummer und aus unerklärlichen Gründen seit einiger Zeit meidet. Die Verbindung der Erinnerung beider an das Zusammensein mit dem Gesang der Vögel und der Blumen macht wieder deutlich, dass beide Strophen über dieselbe Liebe handeln.
Beide Sprechende (man müsste eigentlich sagen: Singende) erzählen wechselweise jeweils dem Publikum vom anderen; sie reden übereinander und nicht, wie in einem Dialog, zueinander. Eine solche Abfolge nennt man im Kontext des Minnesangs ‚Wechsel‘. Wie die zitierten Strophen des Kürenbergers konzentriert sich auch dieser Wechsel Dietmars auf die Innensicht von Liebenden, deren Liebe gestört oder getrennt ist; angesichts dessen tritt die Nennung genauerer Gründe oder Begleitumstände zurück.[^15 Die weitere Entwicklung der Gattung Wechsel und deren Poetologie beschreibt Eikelmann, Manfred (1999).]
Die zweite Phase: der rheinische Minnesang
Einige Zeit später als der donauländische – grob gesagt zwischen 1170 und 1190 – entsteht der so genannte Rheinische Minnesang, und zwar an den Kaiserpfalzen entlang des Rheins im flandrisch-deutschen Grenzgebiet. Dort herrschte ein reger Austausch von Handelswaren und Kultur. Insbesondere der kulturelle Austausch erhielt wichtige Impulse durch die Gesellschaften am Hof des Kaisers Barbarossa, der seit 1156 mit Beatrix von Burgund, der Tochter des Herzogs Rainald III. von Burgund verheiratet war. Hier trafen deutsche Minnesänger, provenzalische Trobadors und französische Trouvères aufeinander. Die so entstehenden mittelhochdeutschen Lieder beeinflussten zumindest in der Rezeption die bereits vorhandenen des donauländischen Minnesangs und verdrängten offenbar dessen Formen.
Der Kulturtransfer zeigt sich auf deutschsprachiger Seite in der Übernahme von Formen und Motiven der französischen oder provenzalischen Tradition, häufig auch in der mittelhochdeutschen Nach- oder Neudichtung romanischer Lieder. Oftmals wurden dabei die Melodien übernommen, was man an den identischen metrischen Formen von Vorlage und Nachdichtung ablesen kann. Die Strophen dieser Lieder weisen eine gemeinsame Form auf, nämlich die der ursprünglich in der romanischen Lyrik beheimateten Stollen- oder Kanzonenstrophe, die ein bekanntes melodisches Schema abbildet: der erste Abschnitt einer Melodie wird einmal mit einem anderen Text wiederholt (im Schema wird dies mit zwei identischen Abschnitten A und A‘ abgebildet), bevor ein zweiter, melodisch neuer Abschnitt die Strophe beendet (Abschnitt B). Dieses Schema AA’B besteht dann aus zwei Teilen, den beiden Stollen A und A‘, die zusammen den Aufgesang bilden, und dem Abgesang B. Mit dieser Strophenform verbindet sich ein neues Konzept von Minne, das ebenfalls aus der romanischen Lyrik übernommen wurde. Die metrische Füllung dieser Form bildet letztlich die Melodie ab, die nun für jedes Lied individuell ist, so dass man an der metrischen Form einer Strophe auch ohne Kenntnis der Melodie die Zusammengehörigkeit mehrerer Strophen zu einem Lied erkennen kann.
Friedrich von Hausen, ein Sänger im Gefolge des Kaisers, der 1190 auf demselben Kreuzzug zu Tode kam wie Barbarossa selbst, gilt als Hauptvertreter dieser neuen Phase des Minnesangs, die nach ihm in früherer Forschung auch Hausen-Schule genannt wurde.[^16 Zu Friedrich von Hausen: Schweikle, Günther (1981); zu seiner engen Verbindung zum romanischen Minnesang Touber, Anthonius (2005). Zur Rezeption romanischer Lieder im deutschen Minnesang Zotz, Nicola (2005); vgl. ferner Millet, Victor (2019).] Ein kurzes Lied mit zwei Strophen von ihm soll den rheinischen Minnesang vorstellen.[^17 Das Lied ist so in der Handschrift C überliefert; Edition und Kommentar von Simone Leidinger unter: https://www.ldm-digital.de/show.php?au=Hausen&hs=C&lid=2554 (12.11.2022). Die Handschrift bietet an späterer Stelle zwei weitere metrisch nahezu gleiche Strophen, die auch in B enthalten sind. Sie werden meistens mit den hier vorliegenden zu einem vierstrophigen Lied zusammengezogen, wobei die Strophen 3 und 4 dann in mancher Hinsicht Differenzen aufweisen; z. B. fehlt der einleitende Ausruf Wafenâ! An dieser Stelle gehe ich auf das Lied in zwei Strophen ein, wie sie es in C überliefert wird. Edition in dieser Form mit eingehender Untersuchung bei Hassel, Veronika (2018), S. 107–121.] Die erste lautet wie folgt:
I.
Wâfenâ! wie hât mich minne gelâzen,
diu mich betwanc, daz ich lie mîn gemüete
an solchen wân, der mich wol mac verwâzen,
ez ensî, daz ich genieze ir güete,
5 von der ich bin alsô dicke âne sin.
mich dûhte ein gewin, unde wolte diu guote
wizzen die nôt, diu wont in mînem muote.
‚Hilfe, wie hat die Liebe mich im Stich gelassen,
Die mich überwältigt hat, so dass ich mein Herz
solcher Hoffnung überließ, die mich wohl verderben kann;
es sei denn, ihre gute Art hilft mir,
von der ich vollkommen verzaubert bin.
Es schiene mir ein Gewinn zu sein, wenn die Gute
um die Qual wüsste, die in meinem Herzen wohnt.‘
Zunächst zum Formalen: Die ersten vier Verse bilden den Aufgesang, der durch Kreuzreim zusammengehalten wird; jeweils zwei Verse bilden dabei einen Stollen. Die letzten drei bilden den Abgesang; würde man den ersten Vers nach dem Binnenreim umbrechen (dann ergäbe sich der Reim ich bin … âne sin), könnte man von vier Versen mit Paarreimen im Abgesang sprechen; dies gilt analog für beide Strophen. Anhand der – leider verlorenen – Melodie könnte man näher überlegen, ob die Reimsilben auch musikalisch akzentuiert wurden. Auf jeden Fall scheint man im Abgesang in der Versmitte eine Zäsur ansetzen zu können, denn die Silben davor passen stets zu einem Reimschema. Ist es in Strophe I, Vers 6[^18 Im Folgenden zitiere ich die Strophen mit ihrer römischen Zahl und die Verse mit der arabi schen, in diesem Falle also: I, 6.] die Reimsilbe gewin, die den Binnenreim von 1,5 aufgreift, ergibt sich an der entsprechenden Stelle in der zweiten Strophe ein Reim der Silben vor der Zäsur von II,6 und II,7 (triuwen – bliuwen). Der Binnenreim in II,5 (wân – hân) ist davon unabhängig.
Inhaltlich klagt ein Sänger-Ich darüber, dass die Minne ihn verraten habe. Im Aufgesang, eingeleitet mit dem militärischen Alarmruf wâfenâ, wird es beschrieben: Die Minne hat ihn dazu gebracht, dass er sich ganz und gar auf eine Hoffnung gestützt hat, Hoffnung auf Liebe, die für ihn geradezu bedrohlich werden und ihn zugrunde richten könnte. Rettung kann einzig und allein von der Dame kommen, wie man im Abgesang erfährt, indem sie ihn nämlich ihre güete erfahren lässt. Das Wort güete steht dabei für die Tugenden, das Gutsein der Dame oder ihre gute Art. Daher hält das Sänger-Ich es für richtig, wenn diese von seiner Herzensnot erfährt.
Die Situation ist wesentlich prekärer als jene in den bereits oben besprochenen Strophen: Die Minne hat den Sänger nicht nur affiziert, sie hat ihn überwältigt; der Schmerz über die fehlende Erfüllung der Hoffnung ist so tiefgehend, dass die Existenz des Sängers von der Gnade der Dame abhängig zu sein scheint. Im Gegensatz zu den beiden angesprochenen Beispielen aus dem donauländischen Minnesang ist hier gar keine Rede von irgendeinem Liebesglück in der Vergangenheit; die letzten beiden Verse unterrichten das Publikum vielmehr darüber, dass die Dame vom wân, der Hoffnung des Sängers, noch gar nichts weiß.
Die zweite Strophe führt das fort:
II.
Wâfenâ! waz habe ich getân sô ze unêren,
daz mir diu guote ir gruozes niht engunde?
sus kan si mir wol daz herze verkêren.
daz ich in der werlte bezzer wîp iender funde,
5 seht, dest mîn wân. dâ für sô wil ich’z hân
unde wil dienen mit triuwen der guoten,
diu mich dâ bliuwet vil sêre âne ruoten.
‚Hilfe, was habe ich so Unrechtes getan,
dass mir die Gute ihren Gruß nicht gegönnt hat?
So kann sie mir wohl das Herz brechen.
Dass ich nirgendwo auf der Welt eine bessere Frau fände,
seht, das ist mein fester Glaube. Daran will ich festhalten
und will der Guten in Treue dienen,
die mich ohne Ruten so heftig schlägt.‘
Mit den ersten beiden Versen beklagt der Sänger, dass die Dame ihm noch nie ein Zeichen geben wollte, dass sie ihn überhaupt freundlich wahrnimmt, so ist der gruoz (II,2) zu erklären. Wieder wird im folgenden Vers die drohende Gefahr des gebrochenen Herzens durch diese Nichtachtung erwähnt, bevor der letzte Vers des Aufgesangs (II,4) zu einer anderen Lösung überleitet, die dann im Abgesang entwickelt wird: Das Sänger-Ich will an seiner festen Vorstellung (wân, II,5) festhalten, er finde auf der ganzen Welt keine bessere Dame. Und so will er seinen Dienst an ihr fortsetzen, auch wenn sie ihn bliuwet âne ruoten (II,6), also ihn (bzw. seine Seele) quält, indem sie ihn nicht erhört.
In dem Begriff dienst wird das oben angesprochene neue Konzept von Minne sichtbar, das der rheinische Minnesang zusammen mit der Form der Kanzonenstrophe in die deutsche Liebeslyrik hineinbringt: der so genannte Frauendienst bildet das System lehensrechtlicher Herrschaft des Adels auf das Verhältnis zwischen Sänger-Ich und verehrter Dame ab: Letztere wird zur Herrin, zur vrouwe, stilisiert, der Sänger dagegen zu ihrem Vasallen, einem man oder dienstman, der sich in die Abhängigkeit von ihrer Gnade überantwortet und zum Dienst an ihr verpflichtet. Dies wird begründet im Gutsein, in der güete der Dame, mit der sie ihren Teil des Verhältnisses erfüllt. Dazu gehört auch ein gewisser lon des Dienstes, für den am häufigsten der gruoz, also ein mit Gestik und/oder Mimik erwiesener Gunstbeweis, genannt wird. In Verkehrung der gesellschaftlichen Realitäten wird also die Geliebte zur Herrin und zur idealen Dame überhöht, die höfische Tugenden und außerordentliche Schönheit auszeichnen, wohingegen der Sänger lediglich mit seinem Dienst durch Gesang um sie werben kann. In den Liedern wird dann die unsichere Situation der Werbung thematisiert, in der noch nicht absehbar ist, ob der Dienst jemals Erfolg haben wird. Dies gibt dem Sänger die Gelegenheit, seinerseits ritterliche Tugenden zu zeigen wie Beständigkeit (staete) und unverbrüchliches Beharren im Dienst (triuwe).
Im Minnesang dieser neuen Form geht es also um den Preis weiblicher Schönheit und höfischer Tugenden als Dienst an ihr, aber auch um den Schmerz durch vermeintliche Zurückweisung und um nicht gelingende oder unmögliche Kommunikation. Dabei tritt die Welt des Hofs deutlicher zutage als im donauländischen Minnesang; zugleich werden die Lieder in Form und Darstellung der Innensicht der Liebenden spürbar artistischer.
Der Hohe Minnesang
Kann man in der eben behandelten Phase noch eine große Nähe der Lieder zu romanischen Vorlagen – altfranzösischen oder altprovenzalischen – beobachten, tritt doch bald, etwa ab 1190, eine weitere Entwicklung ein. Die deutschsprachigen Minnesänger lösen sich mehr und mehr von den Vorlagen und entwickeln auf der Grundlage der Motive und Formen des rheinischen Minnesangs eine eigenständige Tradition. Hier rückt die Überhöhung der besungenen Dame in ihrer Schönheit und ihren Tugenden noch mehr in den Vordergrund; die unüberbrückbare Distanz, die Unmöglichkeit, mit ihr überhaupt zu kommunizieren, wird zum reizvollen Gegenstand der lyrischen Darstellung. Die Sänger, die hierfür am häufigsten genannt werden, sind Heinrich von Morungen, Reinmar der Alte oder Walther von der Vogelweide. Ist Reinmar dafür bekannt, den Kummer über die Vergeblichkeit der Werbung künstlerisch von allen Seiten zu durchdringen und so seine Lieder zur Beschreibung und Reflektion des trûrens zu machen (Ingrid Kasten hat aus seinen Liedern eine „Poetologie des trûrens“ herausgearbeitet),[^19 Kasten, Ingrid (1986), S. 310–319.] so überhöht Morungen seine Dame bis in eine Unerreichbarkeit hinein, in der sie nur noch mit Bildern für Übernatürliches, Transzendentes oder auch Überirdisches beschrieben werden kann. Sein Lied wê, wie lange sol ich ringen, das lediglich in der Handschrift C überliefert ist, soll hier als Beispiel für Hohen Minnesang dienen.[^20 Zu Heinrich von Morungen aktuell Kellner, Beate (2021a).] Die erste von drei Strophen lautet wie folgt:[^21 Dieses Lied ist bei LDM noch (12. 11. 2022) nicht verfügbar. Ich zitiere es nach der Ausgabe von Kasten, Ingrid (1995); hier ist es das Lied 112 auf der S. 264. Die Übersetzung ist von mir.]
I
Wê, wie lange sol ich ringen
umbe ein wîp, der ich noch nie wort zuo gesprach?
wie sol mir an ir gelingen?
seht, des wundert mich, wan es ê niht geschach,
5 daz ein man alsô tobt, als ich tuon zaller zît,
daz ich sî sô herzeclîche minne,
und es ê nie gewuoc und ir dient iemer sît.
‚Ach, wie lange soll ich mich noch bemühen
um eine Frau, zu der ich noch nie ein Wort gesprochen habe?
Wie soll ich bei ihr Erfolg haben?
Seht, das wundert mich, denn es geschah bisher noch nie,
das ein Mann so von Sinnen ist, wie ich es immerzu bin,
dass ich sie so von Herzen liebe,
und ich es bisher noch nie gesagt habe und ihr doch immer gedient habe.‘
Das Sänger-Ich beklagt vor dem Publikum und allem Anschein nach in Abwesenheit der Geliebten die Situation, in die es geraten ist: Es hat sich in eine Dame verliebt, zu der es noch nie gesprochen hat. Seinen inneren Zustand beschreibt es als toben, von Sinnen sein, und die Spannung zwischen seiner Sehnsucht und der ausbleibenden Kommunikation oder mehr noch, der Erwiderung der Liebe scheint sich eher zu steigern als zu beruhigen. Darauf deutet auch der letzte Vers hin: Nie hat die Dame ein Wort des Sängers gehört, aber er hat ihr stets gedient, das heißt: er hat durchaus für sie gesungen. Diese Diskrepanz reflektiert die Tatsache, dass die Minnedame in den Liedern vom Publikum zunächst als eine fiktionale Figur verstanden wird, über die der Sänger dem Publikum berichtet. Offenbar hat er seine Lieder an eine reale Dame gerichtet, die dies nicht wahrnimmt. So wird angedeutet, dass auch die aktuelle Aufführungssituation einen solchen Hintergrund haben könnte. In der letzten Strophe wird das noch wichtig. Es dient dies aber auch zur Darstellung der schwierigen oder nicht gegebenen Möglichkeiten einer Kommunikation mit der Dame. Die Intensivierung der so entstehenden Spannung beschreibt die folgende Strophe:
II
Ich weiz vil wol, daz sî lachet,
swenne ich vor ir stân und enweiz, wer ich bin.
sâ zehant bin ich geswachet,
swenne ir schœne nimt mir sô gar mînen sin.
5 got weiz wol, daz si noch mîniu wort nie vernam,
wan daz ich ir diende mit gesange,
sô ich beste kunde, und als ir wol gezam.
‚Ich weiß sehr gut, dass sie lacht,
jedes Mal, wenn ich vor ihr stehe, und nicht mehr weiß, wer ich bin.
Sogleich bin ich ohne jede Kraft,
immer wenn ihre Schönheit mir vollkommen den Verstand raubt.
Gott weiß, dass sie noch nie meine Worte gehört hat,
außer dass ich ihr mit meinen Liedern gedient habe,
So gut ich es konnte und wie es ihr angemessen war.‘
Der erste Satz ist nicht leicht in seiner tieferen Bedeutung zu verstehen: Wenn das Sänger-Ich vor der Dame steht, weiß es nicht mehr, wer es ist – und die Dame lacht darüber. Dieses etwas unhöfische Verhalten ließe sich entschärfen, wenn man lachet der Situation angemessener als ‘lächelt’ auffasst.[^22 Den Hinweis auf diese Möglichkeit verdanke ich einem Beitrag von Markus Greulich zur Diskussion des Vortrags – herzlichen Dank an dieser Stelle.] Dies macht die Situation zugleich vieldeutiger: ein Lächeln könnte auch eine persönliche Affizierung der Dame signalisieren, nicht nur Spott über die Absenz des Sängers – und zugleich bewirkt es eine Steigerung seiner Gefühle, ist also so etwas wie eine wortlose Kommunikation. Aber in der persönlichen Begegnung, so lässt sich festhalten, ist der Sänger nicht in der Lage, der Dame seine Liebe konkret zu erklären. Dass der Sänger angesichts ihrer Schönheit Sprache und Sinne verliert, entspricht einem gängigen Topos in der lateinischen Elegie wie auch in der provenzalischen Lyrik.[^23 Vgl. Tervooren, Helmut (1996), S. 167.]
Was ihm in dieser Situation bleibt, beschreibt der zweite Teil, der Abgesang, in dem noch einmal betont wird, dass die Dame außer dem Dienst mit Gesang noch nie ein Wort zu hören bekommen hat – dieser Dienst besteht allerdings aus Worten und Gesang nach dem besten Vermögen des Sängers. Wieder klingt an, dass die Dame zwischen der fiktionalen Minnedame und sich selbst fälschlicherweise unterscheidet, also die künstlerische (und wohl an ein breiteres Publikum gerichtete) Darbietung nicht als an sie adressierte Botschaft versteht. Im Rahmen seines Dienstes gelingt die Kommunikation also auch nicht.
Die dritte Strophe versucht folgerichtig, diese Kluft zwischen künstlerischer Performanz und persönlicher Kommunikation zu schließen:
III
Owê des was rede ich tumbe?
daz ich niht enrette als ein sæliger man!
sô swîge ich rehte als ein stumme,
der von sîner nôt nicht gesprechen enkan,
5 wan daz er mit der hant siniu wort tiuten muoz.
als erzeige ich ir mîn wundez herze
unde valle für si unde nîge ûf ir vuoz.
‚O weh darüber, was rede ich so töricht,
dass ich nicht redete wie ein Glückseliger!
So schweige ich, ganz wie ein Stummer,
der nicht über seinen Kummer sprechen kann,
sondern seine Worte mit Gesten andeuten muss.
So zeige ich ihr mein verwundetes Herz,
falle vor ihr nieder und verneige mich bis auf ihre Füße‘
Der Sänger bricht in Wehklagen aus über seine Sprachlosigkeit, das ihn zu den in der zweiten Strophe angedeuteten nonverbalen Mitteln der Kommunikation führt, die er nun explizit nutzen möchte: Er zeigt der Dame durch eine Geste der Unterwerfung an, dass sie die besungene Minnedame ist.[^24 Kasten, Ingrid (1995), S. 781 zufolge ist das Vorbild für diese Geste „der lehnsrechtliche Akt des ‚Handgangs‘ (immixtio manuum), der bei den Trobadors gelegentlich als Geste der Huldigung erscheint.“] Die Wirkung davon zeigt sich potentiell auf zwei Ebenen: Auf der des Textes erhält das Sänger-Ich durch diesen Ausgriff ins Nonverbale seine Sprache zurück, deren Verlust es eben noch beklagt hatte. Zugleich kann der Sänger auf der performativen Ebene diese Geste vor einer Dame aus dem Publikum vollziehen – und damit wieder den fiktionalen Charakter seines Gesangs verdeutlichen, da alle Anwesenden dies als Spiel verstehen werden.[^25 Die Dimension der Theatralität in den Liedern Morungens beschreibt eindrucksvoll Toepfer, Regina (2013).]
Diese kommunikativ kaum zu überbrückende Kluft zwischen Sänger und Dame ist eines der wichtigsten Themen, an denen sich Morungens Lyrik abarbeitet. Oft wird diese Kluft als existentieller Bruch inszeniert, indem er die Dame metaphorisch als liehter morgensterne oder als Sonne beschreibt, die am hellsten strahlt, wenn sie mittags am weitesten von ihm entfernt ist.[^26 Kasten, Ingrid (1995), Lied 111 (S. 262), hier Strophe 3.] Hier wird die Distanz in astronomische Verhältnisse überhöht. Die Darstellung der Dame als vênus hêre, die ihn nur durch ein Fenster kurz anschaut reht als der sunnen shîne, um sich gleich wieder zuo andern vrouwen, zurückzuziehen, versetzt die Angebetete in die Sphäre der Göttinnen und macht sie damit kaum erreichbarer.[^27 Kasten, Ingrid (1995), Lied 116 (S. 270 bis 74), hier Strophe 3. Zur Überhöhung der Dame als antike Göttinnen vgl. meinen Beitrag: Rupp, Michael (2009).] Die dabei eingesetzte Lichtmetaphorik wie auch die Beschreibung einer geradezu meditativen Versenkung in den Anblick der Dame führte dazu, dass aus seinen Liedern eine Poetik des schouwens herausgelesen wurde.[^28 Kasten, Ingrid (1986), S. 319–329; zur Poetologie Morungens eingehend Leuchter, Christoph (2003).]
Reinmar der Alte dagegen beschreibt in zahlreichen Liedern den Kummer, mit dem diese Kluft und Sprachlosigkeit den Sänger zurücklässt, und demonstriert die Tugenden, mit denen ein Höfischer Ritter seinen Dienst für die Dame dennoch nicht niederlegt. Natürlich wird damit auch so etwas wie Durchhaltevermögen dargestellt, hinter dem letztlich immer noch die Hoffnung auf Erhörung steht. Im Gegensatz zu Morungen sieht man bei Reinmar wie schon erwähnt eine Poetik des trûrens am Werk.
Im Hohen Minnesang sieht man also eine Fortentwicklung der Formen und Motive des rheinischen Minnesangs. Die Form der Kanzonenstrophe wird immer raffinierter gefüllt; die Sprache wird ebenfalls artistischer wie auch die Motive und Bilder, mit denen die Liebe und ihre Folgen beschrieben werden. Gleichzeitig sieht man die Zusammengehörigkeit mehrerer Strophen zu einem Lied nicht nur an deren übereinstimmender Metrik, sondern zunehmend auch an inhaltlicher Stringenz, die immer wieder – wie das Beispiel Morungens hier zeigt – auch die Komposition einer sinnvollen Abfolge der Strophen einschließt. Gerade die allerdings kann, wie auch der Strophenbestand eines Lieds, im Zuge der Überlieferung variieren, so dass nicht selten mehrere sinnvolle Versionen – so genannte Fassungen – eines Lieds überliefert sind, ohne dass man zwingend eine ursprüngliche Fassung herausarbeiten könnte. Zum einen mag es eine solche auch nicht gegeben haben, zum anderen aber hat sich die Philologie von der Suche nach einer solchen verabschiedet und beschränkt sich sinnvollerweise auf das, was die Überlieferung bietet.
Die weitere Entwicklung — ein Ausblick
Die Dynamik, mit der die Distanz zwischen Sänger und Dame immer unüberbrückbarer wird, bringt Walther von der Vogelweide in manchen seiner Lieder zum Stillstand. In ihnen reflektiert er über die richtige Minne, oder, wie er sie hin und wieder nennt, die herzeliebe. Sehr bekannt ist hier eines, das in verschiedenen Fassungen überliefert ist. Neben C überliefern es noch die oben nicht erwähnten Handschriften E (die Würzburger Liederhandschrift),[^29 Aufbewahrt in der Universitätsbibliothek München mit der Signatur 2° Cod. ms. 731 (Cim. 4); Digitalisat als PDF-Datei zugänglich unter https://epub.ub.uni-muenchen.de/10638/ (12.11.2022).] F (die Weimarer Liederhandschrift)[^30 Heute in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Signatur Cod. Quart 564; digitalisiert unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:32-1-10013478588 (12.11.2022).] und O, eine ehemals in der Berliner Preußischen Staatsbibliothek aufbewahrte Handschrift, von der nur noch ein paar wenige Blätter übrig sind.[^31 In Berlin mit der Signatur mgo 682 aufbewahrt; heute in der Bibl. Jagiellońska in Krakau, Berol. Ms. germ. oct. 682. Digitalisat unter: https://www.mr1314.de/2083, der Beginn des Lieds auf Bl. 2v (12.11.2022).] Es soll hier nur kurz und anhand einiger für den vorliegenden Zusammenhang exemplarischen Stellen angesprochen werden.[^32 Zur Überlieferungssituation Kasten, Ingrid (1995), S. 955. In ihrer Ausgabe ist es als Lied 176 in der Reihenfolge nach E und F (mit dem Text von C) abgedruckt und wird von mir so zitiert.]
In E und F beginnt dieses Lied geradezu programmatisch mit der dringlichen Bitte des Sängers an das Publikum: Saget mir ieman, waz ist minne. Animiert schon dies zumindest zum Mitdenken, wird zu Beginn der folgenden Strophe zum aktiven Mitmachen aufgefordert: Ob ich rehte râten künne, / waz diu minne sî, sô sprechent denne jâ. Dann lässt der Sänger einen Vorschlag folgen: minne ist zweier herzen wünne, / teilent sie gelîche, sô ist diu minne dâ. Allein die Reimsilbe dâ suggeriert schon die erwünschte Antwort des Publikums darauf. Natürlich konnte Walther auch mit Zustimmung rechnen, wenn er – wie in allen weiteren Strophen des Lieds – argumentiert, die von seinen Kollegen als einseitig dargestellte Liebe, die nur Kummer und Schmerz bedeute, wäre doch eigentlich keine Liebe. So heißt es in der ersten Strophe provokant: tuot si wê, so heizet si niht minne. Walther wirbt damit für ein anderes Konzept von Minne (das den anderen Sängern womöglich weniger fernsteht, als er es suggeriert) und erteilt damit dem unverbrüchlichen Dienst, der über alle Distanz und Unsicherheit hin aufrecht erhalten wird, eine klare Absage. In Strophe 3 wendet er sich direkt an die Dame: sî aber ich dir gâr unmaere, / daz sprich endelîche, sô lâze ich den strît – um in der letzten Strophe, wieder Zustimmung zu seiner Position heischend, das Publikum mit der rhetorischen Frage zu konfrontieren: waenet si daz ich ir liep gebe umbe leid?
Diese kurzen Eindrücke sollen hier nur den öfters gemachten Versuch Walthers vorstellen, das Konzept der Hohen Minne aufzubrechen. Diese Lieder markieren allerdings kaum das Ende des Hohen Minnesangs – Walther selbst hat zahlreiche Lieder in dessen Tradition geschrieben – sie erweitern vielmehr das Spektrum der Formen und Motive und stehen so für eine einsetzende große Dynamik der Weiterentwicklung, die zu einer breiten Diversifizierung der Themen und Formen des Minnesangs im 13. Jahrhundert führt.[^33 Breit diskutiert im Tagungsband: Köbele (2013); eine Einführung von Hübner, Gert (2008).]
Will man die Entwicklung der Gattung generell betrachten, muss man von den gesungenen Liedern ausgehen, also von ihrer historischen Performanz an den verschiedensten Höfen, von der uns die Handschriften heute nur noch sehr wenig Zeugnis geben. Und doch, dies sollte deutlich geworden sein, lässt sich auch hier bereits ablesen, dass die meisten Lieder in verschiedener Form vorgetragen wurden. Bereits im donauländischen Minnesang wird ein Lied ‚Nû endarf mir nieman wissen‘ in zwei verschiedenen Formen und unter zwei verschiedenen Namen überliefert, wobei die Fassung in C formal an eine Kanzonenstrophe angeglichen wurde – hier macht sich der Einfluss des rheinischen Minnesangs bemerkbar.[^34 So ist z. B. das Lied ‚Nû endarf mir nieman wissen‘ des Burggrafen von Riedenburg mit zwei Strophen in C überliefert, von denen in B nur die erste und in anderer metrischer Form hat. Das Budapester Fragment Bu (Cod. germ. 92 der Nationalbibliothek Budapest, online unter https://web.archive.org/web/20070205062849/http://www.uni-graz.at/ub/ausstellungen/1999/budapest/budapest.html (12.11.2022)) hat die Strophe in derselben Form wie B unter dem Namen des Burggrafen von Regensburg; die zweite, in B nicht erhaltenen Strophe, hat Bu wiederum in einer anderen Form unter dem Namen des Burggrafen von Regensburg. Beide Versionen sind einsehbar bei LDM: https://www.ldm-digital.de/show.php?au=Riedenb&hs=C&lid=2741 (12.11.2022). Sichtbar wird in der metrischen Varianz offenbar eine Auseinandersetzung mit der neuen romanischen Form, welche die herkömmliche ältere beeinflusst. Vgl. Brunner, Horst (2005), S. 204–205.] Neun Strophen des Kürenbergers sind auch im so genannten Budapester Fragment (Sigle Bu) überliefert, in denen inhaltlich einiges anders akzentuiert ist als in der bereits besprochenen in C.[^35 Vergleich der Fassungen bei Kern, Peter (2001).] So ist die oben zitierte Anspielung an Marienlyrik dort nicht enthalten.
Solches gilt genauso und noch mehr für die verschiedenen Fassungen, in denen die Lieder des späteren Minnesangs überliefert werden. Auch hier variiert nicht nur der genaue Wortlaut an verschiedenen Stellen, sondern wie erwähnt auch der Bestand und die Reihenfolge der Strophen, was in dieser Phase aber die Kohärenz der Lieder verändert. Auch die Zuschreibung an Autoren ist nicht immer fest; so wird eines der berühmtesten Lieder Morungens, das Narziss-Lied, in zwei verschiedenen Fassungen überliefert: In C findet sich nur die erste Strophe; die Handschrift e überliefert diese und drei weitere – allerdings unter dem Namen Reinmars des Alten. Sonst ist dieses Lied nirgends bezeugt.
Auch intertextuell entwickelt sich eine große Dynamik. Die oben angeführte kritische Auseinandersetzung Walthers mit den Liedern seiner Kollegen ist nur ein Beispiel. Es gibt zahlreiche mehr oder weniger deutliche Bezugnahmen auf Lieder anderer im Hohen Minnesang; berühmt geworden ist eine Reihe von Liedern Walthers und Reinmars, in denen sie auf das Minnekonzept des jeweils anderen kritisch eingehen; in der Forschung wurde daraus auch eine regelrechte „Fehde“ herausgelesen.[^36 Erste Orientierung zu Walther mit aktueller Literatur: Bauschke, Ricarda (2021).]
Den lyrischen volkssprachigen (das meint hier: nicht lateinischen) Diskurs über Minne in den Jahrzehnten vor und nach 1200 kann man sich also durchgehend als sehr dynamisch vorstellen. Dabei wäre es im Übrigen verkehrt, sich die literaturhistorischen Hilfskonstrukte von verschiedenen Phasen als eine Abfolge vorzustellen, in denen jeweils eine Phase die vorige beenden würde. Nicht nur waren die Lieder Reinmars und Walthers zur gleichen Zeit aktuell; auch die aus dem Rheinischen Minnesang werden auch dann noch beliebt gewesen sein, als bereits Neidhart das von Walther erweiterte Spektrum mit seinen Dörperparodien abermals bereichert hatte. Am besten kann man sich dies wohl als einen Prozess produktiver Auseinandersetzung mit der Tradition vorstellen, der diese Tradition zugleich weiterträgt, die bis zum Ende des 13. Jahrhunderts anhält und noch währenddessen in die Handschriften aufgenommen wird: Der Schweizer Minnesänger Johannes Hadloub hatte wohl Verbindungen zum Kreis um Rüdiger Manesse, aus dem heraus vermutlich die Herstellung der Handschrift C initiiert wurde. Er selbst ist noch darin vertreten. In ihrer Varianz bewahren die drei hier näher angesprochenen Kodizes wie auch die vielen weiteren also ein Bild der Dynamik, die im Minnesang die Entstehung und Entwicklung der Lieder über nahezu 150 Jahre hinweg prägte.