‚Aristoteles und Phyllis‘ — Dynamiken des Begehrens
Der mittelhochdeutschen Versnovelle ‚Aristoteles und Phyllis‘ liegt ein „in der Weltliteratur weit verbreitet[es] (AaTh1501)“ (Grubmüller 1996, S. 1188) Motiv des durch Frauenlist besiegten Weisen zugrunde. Im europäischen Hochmittelalter wurde es mit der Figur Aristoteles verbunden und fand rasch vielgestaltige Verbreitung: Die Geschichte vom überlisteten Aristoteles lässt sich in unterschiedlichen bildlichen Darstellungen (u. a. Elfenbeinkästchen, Steinskulpturen, Federzeichnungen) ebenso nachweisen wie in unterschiedlichen volkssprachlichen und lateinischen literarischen Zeugnissen (vgl. Herrmann 1991; Ott 1987).
Den Dynamiken des Begehrens (und des Wissens) in der mittelhochdeutschen Versnovelle möchte ich mich über einen Aspekt nähern, der auf den ersten Blick wenig zur Klärung ihrer Relationierung beitragen kann: Den Dimensionen des Sehens und damit dem menschlichen Auge.[^1 Der Beitrag ist eine geringfügig überarbeitete und um ausgewählte Literaturnachweise ergänzte Fassung meiner am 13.01.2022 im Rahmen der Germanistischen Institutspartnerschaft‚ Textdynamiken‘ (Universität Krakau / Universität Leipzig) gehaltenen Vorlesung.] Doch genau das Auge – und die mit ihm verbundene Aktivität des Sehens – ist zentral für zwei unterschiedliche Wissenstraditionen im Mittelalter: Zum einen steht das Anblicken, der visus, am Beginn der quinque linea amoris, der fünf Liebesstufen (vgl. Krause 2014). Zum anderen wächst dem Sehen zentrale Bedeutung für Erkenntnis- und Wissensprozesse zu. Sehen und Auge sind also sowohl für die Liebe (amor) als auch für die Wissensgenerierung (scientia) von zentraler Bedeutung.
Ich beginne jedoch zunächst (1) mit einer kurzen Einleitung, in der ich die mittelhochdeutschen Fassungen von ‚Aristoteles und Phyllis‘ vorstelle. Es folgt dann ein kleiner Exkurs (2) zum menschlichen Auge (und dem Sehen) am Schnittpunkt unterschiedlicher Wissenstraditionen. Im Anschluss (3) werde ich ein close-reading der jüngeren Fassung von ‚Aristoteles und Phyllis‘ vornehmen, das auf die Ausprägung und die Relationierung von Minne und Wissen fokussiert. Den Abschluss meines Beitrags (4) bilden Überlegungen, die das explorative Potential des Textes betreffen, das auf intrikate Weise mit jenen Dynamiken des Begehrens, mit jener Relationierung von Begehren und Wissen, verknüpft ist.
Einleitung
Die mittelhochdeutsche Versnovelle ‚Aristoteles und Phyllis‘ ist in zwei Fassungen erhalten, die jeweils ohne Verfassernamen überliefert sind. Die erste Fassung wird dabei eher an den Beginn des 13. Jahrhunderts, die zweite Fassung eher an das Ende des 13. Jahrhunderts datiert (vgl. Grubmüller 2011, S. 1187).
Die frühe, sogenannte Benediktbeurer Fassung (Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 5249/29b) von ‚Aristoteles und Phyllis‘ aus dem 13. Jahrhundert ist unikal und nur fragmentarisch überliefert. Bei Restaurierungsarbeiten an der Orgel der Klosterkirche von Benediktbeuern wurden 1964/65 mehrere Pergamentstücke in den Orgelpfeifen gefunden (vgl. Schneider 2005, S. 66f.).[^2 Abbildungen der Fragmente sind über die Bayerische Staatsbibliothek zugänglich: https://www.digitale-sammlungen.de/de/details/bsb00125597 (letzter Zugriff: 15.10.2022).] Die Fragmente sind einer Sammelhandschrift zugehörig, deren Format etwa 320 × 240 mm besaß.[^3 Vgl. Klein 2000, S. 186 (Nr. 6). Anders als die meisten Kleinepik Sammelhandschriften muss die Benediktbeurer Handschrift jedoch ursprünglich eine dreispaltige gewesen sein. (vgl. Klein 2000).] Erhalten haben sich auf den Fragmenten neben ‚Aristoteles und Phyllis‘, ebenfalls nur fragmentarisch: Freidank, Cato, ‚Die gute Frau‘ und ‚Der arme Heinrich‘ Hartmanns von Aue.[^4 Zur Überlieferung Hartmanns im Kontext der erhaltenen Fassung vgl.: Hammer / Kössinger 2012.]
Von der frühesten deutschen Fassung von ‚Aristoteles und Phyllis‘ haben sich nun in den Benediktbeurer Fragmenten zwei umfangreichere Passagen erhalten: zum einen die Verführungsszene der Phyllis und zum anderen eine Passage, die von der Auswahl des Sattels bis zum Textende reicht. Die erhaltenen Passagen erlauben es, eine grobe Handlungsführung zu rekonstruieren:
Am griechischen Hof ist Aristoteles beauftragt, den Königssohn Alexander – der später Alexander der Große genannt werden wird – zu unterrichten. Sein Schüler verliebt sich in die Kammerdame Phyllis. Der Philosoph erwirkt die Trennung der Liebenden. Die schöne Phyllis sinnt nun auf Rache und geht wohl gekleidet in die Nähe des kleinen Gartenhäuschens des Philosophen. Dort beginnt sie zu singen. Über das Ohr erreicht Phyllis die Augen des Meisters und es gelingt ihr, die Aufmerksamkeit zu gewinnen, die sie für ihr Vorhaben benötigt. Aristoteles beobachtet, wie Phyllis Blumen auf der Wiese pflückt und schließlich an einer Quelle aufreizend agiert. Nachdem Phyllis die Aufmerksamkeit des Philosophen erweckte und seinen Sehsinn aufreizend stimulierte, entschließt sie sich die Ebene des Anblickens zu verlassen und zu der des Gesprächs überzugehen. Das Geschehen verlagert sich in das Gartenhaus des Philosophen, der stark von der Schönheit der jungen Frau affiziert ist und nur zu gern mit ihr schlafen möchte. Phyllis stimmt dem zum Schein zu, äußert aber den Wunsch, zuvor mit einem Sattel auf Aristoteles reiten zu wollen. Dieser zögert jedoch, denn sollte der Ritt der Phyllis für die Öffentlichkeit sichtbar sein, so würde er sein Ansehen für immer verlieren. Aristoteles Bedenken erweisen sich als self-fulfilling prophecy, denn es kommt tatsächlich so, wie von ihm befürchtet: Phyllis reitet auf Aristoteles durch den Palastgarten und wird dabei von Mitgliedern des Hofes gesehen. Nach der öffentlichen Schande des Philosophen wird aus Alexander und Phyllis ein Paar – und Aristoteles ergreift beschämt die Flucht.
Für die Dynamiken des Begehrens konzentriere ich mich auf die jüngere Fassung, deren Entstehungszeit ins letzte Viertel des 13. Jahrhunderts fällt (Grubmüller 2011, S. 1186; Josephson 1934, S. 69). Wir wissen, dass sie in mindestens drei Handschriften überliefert wurde:[^5 Zur Überlieferung und Datierung vgl. die Angaben im Handschriftencensus und die zu den jeweiligen Überlieferungsträgern genannte weiterführende Literatur: https://handschriftencensus.de/werke/25 (letzter Zugriff: 15.10.2022).] Die Codices aus dem 14. Jahrhundert in Regensburg und in Straßburg sind durch Brände vernichtet worden. Einzig die späte Karlsruher Handschrift aus dem 15. Jahrhundert (vgl. Schmid 1974, S. 13) ist als Überlieferungsträger vollständig auf uns gekommen.
Die dort überlieferte Fassung von ‚Aristoteles und Phyllis‘ aus dem späten 13. Jahrhundert weist wörtliche Übereinstimmungen mit der frühen Fassung auf. Diese Übereinstimmungen weisen darauf hin, dass die spätere Fassung die frühere als Vorlage verwendet haben könnte (vgl. Rosenfeld 1970, S. 331). Dies lässt die begründete Vermutung eines generischen Verhältnisses beider Texte zu. Auch die Handlungsführung der jüngeren Fassung stimmt im Wesentlichen mit dem überein, was die Benediktbeurer Pergamentfragmente von der älteren Fassung preisgeben – bis auf den Schluss des Textes, der wesentlich erweitert wurde: Am Ende der Benediktbeurer Fassung stehen lediglich die kurze Erwähnung der Flucht von Aristoteles und das Happy End der Liebenden. In der jüngeren Fassung ist der Fokus am Ende ganz auf Aristoteles gerichtet: Ausführlich wird von seiner Abreise berichtet und davon, dass er auf der Insel Galicia ein Buch über die Frauenlist geschrieben habe. Darauf werde ich noch ausführlich zurückkommen.
Über diese Veränderung am Textende hinaus trägt zur erheblichen Erweiterung des Textumfanges der jüngeren Fassung die Inkorporation von vier Textpassagen aus dem ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg bei. Dem forschungsgeschichtlich breit ausgearbeiteten Aspekt der sog. ‚Tristan‘-Rezeption widme ich mich in diesem Beitrag jedoch nicht. Ich verweise lediglich auf die Beiträge von Burkhard Wachinger (vgl. Wachinger 1970) und Hedda Ragotzky (vgl. Ragotzky 1996) zum Thema.
Exkurs: Das Sehen, die Liebe und die menschliche Wahrnehmung
Seit der Antike fällt unter den menschlichen Sinnesorganen dem Auge – und damit dem Sehen – eine besondere, eine privilegierte Stellung zu. Dies zeigt sich u. a. an den Debatten, die beginnend in der Antike über die Funktionsweise des Sehens geführt wurden (vgl. Park 1997, S. 3–50; Lindberg 1976, S. 1–17). Das Hochmittelalter ist dabei von einem Übergang geprägt:
Bis etwa 1200 war die platonische Sehtheorie dominant. […] Es handelt sich um eine Extramissionstheorie, die davon ausgeht, daß dem Auge Licht oder Feuer eignet, das beim Sehen als Strahlung aus dem Auge austritt und sich mit dem Tageslicht zu einem Lichtkörper verbindet. (Kellner 1997, S. 42f.)
Diese Theorie (basierend auf Platons ‚Timaios‘), die u. a. auch für Augustinus Perspektive auf das Sehen zentral war, wird konfrontiert mit der Intramissionstheorie, die durch die Rezeption persischer und arabischer Gelehrter (etwa Al-Hazen, Avicenna und Averroes) Europa im 12. und 13. Jahrhundert erreichte (vgl. Lindberg 1976, S. 87–121).
Alhazen geht in seiner Intramissionstheorie von einer Strahlung von den Objekten aus. Diese erfolge jedoch nicht, wie die Atomisten angenommen hatten, als materielles simulacrum des ganzen Objektkörpers, sondern als immaterielle Strahlung, die von jedem Punkt auf der Oberfläche eines jeden farbigen, durch Licht beleuchteten Körpers ausgesandt wird und jeweils senkrecht auf die einzelnen Punkte der cornea trifft. (Kellner 1997, S. 43)
Die hohe Bedeutung, die optischen Theorien im Hochmittelalter zugesprochen wurde, lässt sich u. a. daran ablesen, welch großes Gewicht z. B. Albertus Magnus (um 1200–1280) der aktuellen Diskussion beimaß.[^6 Vgl. hierzu etwa Lindberg 1976, S. 105: „The problem that dominates the optical parts of Albert’s opera is vision. This occupies some sixty pages of De homine, nineteen of De anima, thirtytwo of De sensu, and nineteen of De animalibus (all in Borgnet’s edition).“] Albertus Magnus setzte sich u. a. in ‚De sensu et sensato‘ in der Mitte des 13. Jahrhunderts mit den tradierten Auffassungen zur menschlichen Wahrnehmung auseinander (vgl. Akdogan 1978). Die Arbeit ist von einem streng logischen Zugriff auf Fragen der visuellen Wahrnehmung geprägt. Die innerhalb des Traktats genannten Gelehrten (u. a. Platon, Aristoteles, Demokrit, Euklid, Empedokles, Avicenna, Averroes, Al-Hazen, Al-Kindi) zeugen nicht nur von der umfassenden Kenntnis des Verfassers, sondern sie zeichnen den Wissens- und Reflexionshorizont der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ab (vgl. Akdogan 1978, S. 5–22).
Auch das Grundprinzip menschlicher Wahrnehmung, das prägend für das 13. Jahrhundert ist, findet sich bei Albertus beschrieben. Ingrid Craemer-Ruegenberg hat es folgendermaßen zusammengefasst:
Nach Avicenna, sagt Albert in seiner Schrift Über Gedächtnis und Erinnerung, sind drei Teile im menschlichen Gehirn anzunehmen, die alle eine gewisse Organfunktion haben. Im vorderen Hirn sitzt das Quasi-Organ für die äußere Wahrnehmung und für die Verbindung der Einzelwahrnehmungen zu einer Gesamtwahrnehmung (sensus communis), für die Vorstellungskraft und die Einbildungskraft (imaginativa und phantasia); im mittleren Hirn befinden sich die physiologischen Instanzen für die animalische ‚Urteilskraft‘ (aestimativa), mit deren Hilfe Dinge voneinander unterschieden und auf ihren Überlebenswert hin eingeschätzt werden; im hinteren Hirn schließlich ist der Sitz des Gedächtnisses (memoria). Auf diese Lokalisation habe man deswegen geschlossen, weil bei unterschiedlichen Kopfverletzungen die entsprechenden Fähigkeiten ausfallen. (Craemer-Ruegenberg 2005, S. 154)
Dieses Zusammenspiel ist auch in der Buchmalerei dargestellt worden, etwa im ca. 1310 entstandenen MS Gg.1.1 der Cambridge University Library (vgl. Sudhoff 1913, S. 149–205, S. 184–189).[^7 Abbildung und Codex sind online verfügbar: https://cudl.lib.cam.ac.uk/view/MS-GG-00001-00001/988 (letzter Zugriff: 15.10.2022).] Zu sehen ist dort der Kopf eines Mannes im Dreiviertelprofil als Illustration zu einem im Mittelalter Thomas von Aquin zugeschriebenen Traktat. Der Kopf und die Gehirnregion des Mannes sind beschriftet. Zwei Sehnerven leiten hier die Sinneseindrücke zum sensus communis vel sensatio und zu ymaginatio vel formalis. Darüber befindet sich die estimativa. In einem Kreis im Hinterkopf ist die vis memorativa dargestellt.[^8 Die Miniatur ist in den Text Qualiter caput hominis situatur eingefügt, der sich zu Beginn auf die 78. quaestio der Summa Theologica des Thomas von Aquin bezieht: De ista materia tractat Thomas in prima parte summae quaestione 78 articulo quarto […]. Zitiert nach der Transkription durch Sudhoff 1913, S. 184.]
Dass es sich hierbei nicht um ein abseitiges, ausschließlich den Eliten vorbehaltenes Wissen handelt, zeigt der weitverbreitete mittelhochdeutsche ‚Welsche Gast‘ – ein umfassendes Wissenskompendium des Klerikers Thomasin von Zerklaere (um 1186–1238). Auch hier findet sich jenes Grundprinzip erläutert:[^9 Text und Übersetzung zitiert nach: Willms 2004, S. 106f.]
Ein ieglîcher vier krefte hât,
von den er sol suochen rât.
die vier kreft sint sô getân,
daz in sint undertân
aller wîstuom und alle tugent
beidiu an alter und an jugent.
(V. 8789–94)
[…]
Einiu heizt imaginâtiô,
diu ander heizet râtiô,
diu drite memorjâ ist,
diu phleget der kamer zaller vrist,
die vierd ich intellectus heiz.
(V. 8799–8803)
[…]
imaginâtiô ir swester gît,
swaz vor den ougen lît.
memorjâ behalten kan
wol, swaz ir swester ê gewan.
intellectus und râtiô
hânt ane imaginâtiô
und an ir swester meisterschaft;
die dienent ir nâch eigenschaft.
Swaz imaginâtiô begrîft,
ez sî anders od mit gesiht,
ez sî wâzend ode rüerent,
ez sì smeckend ode hoerent,
daz sol si hin zir vrouwen bringen,
sô mag ir niht misselingen.
râtiô bescheiden sol,
waz stê übel ode wol,
und sol emphelhen, swaz ist guot
der memorjâ ze huot.
(V. 8813–8830)‚Jeder hat vier Kräfte, deren
Hilfe er in Anspruch nehmen kann.
Die vier Kräfte sind so beschaffen,
daß ihnen untertan sind
alle Weisheit und alle Tugend
im Alter wie in der Jugend.
[…]
Eine heißt imaginatio,
die zweite heißt ratio,
die dritte ist die memoria,
die hütet stets die Vorratskammer,
die vierte nenne ich intellectus.
[…]
imaginatio liefert ihrer Schwester,
was vor Augen liegt. Memoria
kann aufbewahren, was ihre
Schwester zuvor aufgenommen hat.
intellectus und ratio haben
die Herrschaft über imaginatio
und über ihre Schwester;
sie dienen ihr als Untergebene.
Was imaginatio aufnimmt,
sei es durch Sehen oder sonstwie,
sei es riechend oder tastend,
sei es schmeckend oder hörend,
das soll sie zu ihrer Herrin bringen,
dann kann sie nicht fehlgehen.
Ratio soll unterscheiden,
was gut und was böse ist,
und soll, was gut ist, der memoria
zur Aufbewahrung empfehlen.‘
Thomasin beschreibt in dieser Passage, wie durch das Zusammenwirken von imaginatio, ratio, memoria und intellectus die menschliche Wahrnehmung erfolgt und wie alle Weisheit und alle Tugend diesem Zusammenwirken ausgeliefert sind. Die imaginatio ist dabei die Kraft, die Dinge (insbesondere) über den Sehsinn wahrnimmt. Auge und Sehen sind damit auf einer ersten Stufe für das Erkennen von Dingen von elementarer Bedeutung. Die imaginatio leitet das Erfahrene dann zur ratio, die als Herrin über die Sinne agiert und zwischen Gutem und Bösem unterscheiden kann und das Gute schließlich der memoria zur Aufbewahrung überantwortet. Hier deutet sich an, wie zentral das Auge für die menschliche Wahrnehmung und das Denken ist.
Die Bedeutung, die das menschliche Auge für die Wahrnehmung besitzt, zeigt sich aber auch darin – darauf hat Horst Wenzel hingewiesen –, dass „seit Aristoteles“ bei der „Aufzählungen der fünf Sinne“ die Augen zumeist die erste Position einnehmen (Wenzel 1995, S. 48). Diese Tradition setzt sich im Mittelalter fort. So findet sich auch bei Thomasin von Zerklaere eine Reihenfolge, in der dem visus die erste Position eingeräumt wird:[^10 Text und Übersetzung zitiert nach: Willms 2004, S. 117.]
Jâ hât ieglîch man und wîp
vümf tür in sînem lîp:
ein ist gesiht, diu ander gehoerde,
diu dritte wâz, diu vierde gerüerde,
die vümften ich gesmac heiz.
swaz man in der werlde weiz,
daz muoz in uns immer vür
ze etlîcher der vümf tür.
(V. 9449–9456)‚Jeder Mann und jede Frau hat bekanntlich
fünf Pforten an seinem Leib: Die erste
ist das Sehen, die zweite das Gehör, die
dritte der Geruchs-, die vierte der Tastsinn,
die fünfte nenne ich den Geschmackssinn.
Was man von der Welt zur Kenntnis nimmt,
das muß in unser Inneres durch
eine oder mehrere der fünf Pforten.‘
Aufeinander folgen in der Aufzählung der fünf Sinnestüren also das Sehen (gesiht), das Hören (gehoerde), der Geruchssinn (wâz), Tastsinn (gerüerde) und schließlich der Geschmackssinn (gesmac).[^11 Katharina Philipowski hat wahrscheinlich machen können, dass Thomasin direkt auf die Alchers von Clairvaux zugeschriebene Abhandlung ‚De spiritu et anima‘ (um 1170) aufbaute. Vgl. Philipowski 2013, S. 60–66.]
Eine ähnliche Reihenfolge lässt sich nun aber auch bei den über die antiken Autoren ins Mittelalter überlieferten fünf Liebesstufen, den quinque lineae amoris, feststellen. Hier folgen ebenfalls aufeinander: visus, colloquium und tactus (vgl. Schnell 1985, S. 26–28; Bein 2003, S. 60). Auch diese Reihenfolge war wirkmächtig. Noch beim wohl wichtigsten Lautenisten des elisabethanischen Zeitalters – bei John Dowland (1563–1626) – heißt es im Lied ‚Come again‘: To ee, to heare, to touch, to kie, to die, With thee againe in weetet pathy.[^12 Lied XVII zitiert nach dem Erstdruck von 1597: The first booke of songes or ayres of fowre partes with tableture for the lute: so made that all the partes together, or either of them seuerally may be song to the lute, orpherian or viol de gambo. Composed by Iohn Dowland lutenist and Batcheler of musicke in both the vniversities. Also an inuention by the sayd author for two to playe vpon one lute, [London]: Printed by Peter Short, dwelling on Bredstreet hill at the sign of the Starre, 1597, o.S.]
Die hier aufgezeigten beiden Reihenfolgen (die Aufzählung der fünf Sinne und die Liebesstufen) entstammen unterschiedlichen Traditionen – aber dem Auge wächst in beiden mit der ersten Position entscheidende Bedeutung zu.
Wie wichtig etwa der visus für die Liebesstufen ist, lässt sich exemplarisch am ersten Buch von ‚De amore‘ (entstanden um 1180) des Andreas Capellanus zeigen. Dort stellt er fest, dass neben zu hohem oder zu jungem Alter auch die Blindheit dazu führen kann, nicht lieben zu können:[^13 Text und Übersetzung zitiert nach: Knapp 2006, hier S. 18–21.]
Caecitas impedit amorem, quia caecus videre non potest, unde suus possit animus immoderatum suscipere cogitationem, ergo in eo amor non potest oriri […]
[‚Die Blindheit verhindert die Liebe, weil ein Blinder das nicht sehen kann, wovon sein Gemüt die unmäßige gedankliche Beschäftigung empfangen könnte. Daher kann in ihm die Liebe nicht entstehen‘.]
Auch in meiner Lektüre der Versnovelle von ‚Aristoteles und Phyllis‘ wird auf den visus zurückzukommen sein.[^14 Zum begehrenden Blick in höfischer Erzählliteratur vgl. auch: Egidi 2011. Egidi betont dabei insbesondere die Asymmetrie innerhalb der Subjekt Objekt Relation. Vgl. ebd., S. 128.] Doch das Sehen – so habe ich hoffentlich zeigen können – ist nicht nur für die Entstehung der Liebe zentral. Auch im Mittelalter wird es als ebenso grundlegend für den Zugriff des Menschen auf die Welt betrachtet.
Close-Reading von ‚Aristoteles und Phyllis‘ (K 408)
Im folgenden close-reading fokussiere ich insbesondere das Sehen im Kontext der Liebesstufen sowie das Sehen im Kontext der Kulturtechnik des Lesens (und Schreibens).[^15 Zum Begriff ‚Kulturtechnik‘ vgl. Bredekamp / Krämer 2003, hier S. 18f.] Beides dient dazu, den Dynamiken des Begehrens in diesem Text auf die Spur zu kommen.

Abbildung 1: BLB Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Deutsche poetische Erzählungen – Cod. Karlsruhe 408, fol. 82v und 83r. Der Beginn von ‚Aristoteles und Phyllis‘ in K 408 (rubrum: von dem weisen aristotiles). (https://digital.blb-karlsruhe.de/urn/urn:nbn:de:bsz:31-1298)
Exposition
Die Versnovelle setzt mit einer ausführlichen Exposition ein, in der zunächst die Eltern Alexanders eingeführt werden. König Philipp lässt Aristoteles an seinen Hof kommen, damit er seinen Sohn, den noch jungen Alexander, unterrichte. Er lässt für den Meister ein kleines Haus im Palastgarten errichten, in dem der Unterricht mit dem begabten Schüler stattfindet. Aristoteles verpflichtet sich, Alexander zu erziehen und zu unterrichten, um ihn auf sein späteres Amt vorzubereiten. Von diesem Unterricht wird einzig das Erlernen des Alphabets im Text expliziert:[^16 ‚Aristoteles und Phyllis‘ zitiert nach: Schmid 1974, S. 348–362. Dabei gebe ich Schrägtrema als Trema, geschwänztes als reguläres z wieder]
Der meynster nam den jüngen knaben
Vnd lerte jn die püchstaben
A b c d e.
Daz tet ym an dem ersten we,
Alz ez noch tüt den jüngen,
So sye seint bezwüngen
Mit schülmeynster scheffte.
(V. 69–75)‚Der Meister nahm den jungen Knaben zu sich
und lehrte ihn die Buchstaben:
A b c d e.
Das bereitete ihm zunächst große Mühe,
wie noch heute den Kindern,
wenn sie bedrängt werden
mit dem Unterricht der Schule.‘
Alexander und Phyllis
Das Sinnen des Prinzen richtet sich nun aber nicht ausschließlich auf den Unterricht, sondern schon bald auf die junge Phyllis. Mit topischen Formulierungen wird das Verlieben im Text artikuliert und ebenso topisch wird der junge Mann seines Verstandes durch Phyllis beraubt. Die Inbesitznahme des Prinzen durch die strenge mynne (also durch die ‚gewaltige‘ oder ‚unerbittliche Frau Minne‘) wird im Text mit der Schönheit der jungen Frau begründet und wiederholt mit der Tätigkeit des Anblickens verknüpft
Doch wart er leyder gepfant
An wiczen vnd an synnen;
Daz det die strenge mynne.
Dye künigein het eyn magt,
Dye waz schön, alz man sagt,
An leyb vnd an varbe,
Daz man sich garbe
Völligklichen het ersehen.
Dye schöne an weyben spehen,
Sye sprach‹en›, daz sye were
Schöne vnd lobenbere
Sye waz von hohem kvnne,
Der werlt gar eyn wünne.
(V. 82–94)‚Doch wurde er leider
seines Verstandes und seiner Sinne beraubt.
Das tat die unerbittliche (Frau) Minne.
Die Königin hatte eine Kammerdame
die war schön – wie man erzählt –
an Gestalt und Aussehen,
dass man sich gar
völlig in ihrem Anblick verlieren konnte.
Diejenigen, die Schönheit von
Frauen erkennen,
sie sagten, dass sie schön und untadelig wäre.
Sie war von hoher Abkunft –
eine Freude für die Welt.‘
Wird die Verwirrung der Sinne für Alexander eingangs nur konstatiert, erklären die folgenden Verse die Ursache: Es ist die außergewöhnliche Schönheit der Phyllis, die innerhalb weniger Verse wiederholt mit Verben des Anblickens markiert wird.
Es folgt dann eine Darstellung der Minnekrankheit, gefolgt von einer nochmaligen Betonung des Blicks:
Allexander wart en prant
Jn ir mynne glüt;
Ver irret an seinem gemüt
Wart der jünge herre
Er ge dacht ym ferre,
Wye ym der sorgen pürde
Eyn teil geleicht würde.
Sein lern waz verirret gar,
Er name der jungfraüwen war;
Wenn er der nicht en sach
So sach man größ vngemach
An dem jüngelinge.
Wen nü die mynne zwynge,
Der merck wye ym were.
Allexander der marterere
En west wye er solt geparn.
(V. 98–113)‚Alexander wurde in glühender Liebe
zu ihr entzündet.
Verwirrt in seinem Gemüt
wurde der junge Mann.
Er dachte eifrig darüber nach,
wie ihm die Last des Kummers
etwas erleichtert würde.
Sein Lernen war völlig blockiert.
Er nahm nur noch die junge Frau wahr.
Wenn er sie nicht sehen konnte,
dann sah man den Jüngling
in großer Unzufriedenheit.
Wen nun selbst die Liebe bedrängt,
der sehe, wie es ihm erging:
Alexander, der Märtyrer,
wusste nicht, was er machen sollte.‘
Der junge Alexander wird zum Minnemärtyrer aufgrund der Qualen, die er erleiden muss. Dabei findet mit der Glut der Liebe klassische Minnetopik Verwendung. Sie führt zu einer Verwirrung der Sinne und des Verstandes, sodass auch das Lernen des Schülers beeinträchtigt ist. Explizit betont wird dabei abermals das Ansehen und Wahrnehmen: Wenn Alexander seine Geliebte nicht sehen kann, dann ist das daraus folgende große Leid an ihm ersichtlich. Sehen, Anblicken und Wahrnehmen besitzen für das Beschreiben der Liebe Alexanders somit elementare Bedeutung auf der Ebene der sprachlichen Realisierung. Die (auch) visuelle Trennung vom geliebten Objekt führt zu Minnequalen, die – auch das markiert der Text explizit – zur Störung der Lernfähigkeit des jungen Prinzen führt: Sein lern waz verirret gar (‚Sein Lernen war völlig blockiert‘, V. 105). Bereits hier zeigt sich damit eine Spannung zwischen amor und scientia, die für den Fortgang der Geschichte wesentlich ist. Es ist explizit die strenge mynne (V. 84), die am jungen Alexander wirkt und seine Sinne verwirrt. Bereits in der Ausgestaltung des Verliebens wird Alexander als Minnesklave inszeniert.
Zugleich findet eine erste Verschiebung von scientia zu amor statt. Beide Systeme operieren dabei mit der Optik: Das Erlernen ist gebunden an die Schrift und damit an die visuelle Wahrnehmung. Die Schönheit der Phyllis nimmt Alexander ebenfalls über den Sehsinn (visus) wahr.
Auffallend innerhalb der Minnedarstellung ist, dass im gesamten Text die Exklusivität und die Gegenseitigkeit der Minnebeziehung zwischen Alexander und Phyllis betont wird, sodass sye eyn müt gewunnen / Vnd nach einander prünnen (‚sodass sie eine Gesinnung gewannen / und füreinander entbrannten‘, V. 127f.). Diese Minnebindung unterläuft nun den Wunsch des Philosophen Alexander adäquat zu unterrichten. Mit slegen vnd mit wörten (‚Mit Schlägen und mit Worten/Zureden‘, V. 154f.) versucht der Lehrer seinen Schüler von der Störung abzubringen – doch erfolglos. Es bleibt schließlich nur die Option, den König vom aktuellen Geschehen zu unterrichten und ihn zur Intervention zu veranlassen. Dies führt zu einer ersten längeren Rede der Phyllis, in der sie ihre ehrenhaften Absichten und ihre Treue zum Ausdruck bringt. Eigenschaften, die auch später im Text, etwa durch den Erzähler, stets präsent bleiben. Durch die Trennung vom Geliebten bricht sich auch an ihr die Minnekrankheit Bahn, sodass ihr Körper aller Kraft und Freude beraubt ist. Im unmittelbaren Anschluss werden dann die Liebesqualen Alexanders beschrieben – und, dass Aristoteles mit seiner Maßnahme nur wenig Erfolg beschieden ist. Denn sein Schüler sitzt erzürnt in seinem Unterricht und prummend alz ein per (‚brummend wie ein Bär‘, V. 199).
Phyllis’ Rache
Phyllis will nicht in diesem Zustand verharren. Sie ist es, die auf Rache sinnt und die diese durchführen wird. Ausführlich berichtet der Text vom Aufputz der jungen Frau, in der abermals die optische Wahrnehmung betont wird. Aus der bereits schönen Kammerdame wird durch das Ankleiden mit edlen Stoffen und Accessoires Filis die liecht snne gläncz (‚Phyllis der leuchtende Glanz der Sonne‘, V. 293). Neben dieser Formulierung, finden sich noch weitere, die wiederholt den visuellen Sinn betonen. Mit dieser Hervorhebung des Sehsinns wird nicht nur an die Verse angeschlossen, mit denen Phyllis in den Text eingeführt wurde, sondern es wird nochmals ihr besonderer visueller Reiz betont, dem auch Aristoteles nur wenige Verse später erliegen wird. Und das setzt der Text wie folgt um:
Nü laßen wir diz rede stan
Vnd vahen wir daz wieder an,
Daz ez ‹icht› pleib in wan:
Filis die wol getan
Gieng spielent vnder die plüt.
Vil stölcz waz ir gemüt.
Sye sleich her vnd hyn;
Daz sahe er dürch ein vÿnsterlein,
Der alt meynster vnd plickt dar
Vnd nam ir geperde war.
Die daücht jn gar wonderleich,
Er sahe sie gar mynnekleich.
Wye schone vnd wie geheẅr,
Wie gar schöne creatür
Jst daz mynnecleich weip;
Der selig man, der seinen leip
Solt mit ir alten!
(V. 334–350)‚Nun belassen wir es damit und
wenden uns wieder der Geschichte zu,
damit nichts offenbleibt.
Phyllis, die Wunderschöne,
ging vergnügt zwischen den Blumen.
Hochgestimmt war ihr Sinn.
Sie streifte hin und her.
Das sah er durch ein kleines Fenster,
der alte Lehrer, und schaute dorthin,
und nahm ihr Verhalten wahr,
das ihm gar sonderbar vorkam.
Er betrachtet sie mit Liebreiz:
‚Was für eine schöne und reizende
und liebliche Gestalt
ist diese anmutige Frau.
Der ist ein glücklicher Mann,
der mit ihr alt werden kann.‘‘
Aristoteles erblickt durch ein Fenster die junge Frau und ist offenbar stark von ihrer Schönheit affiziert. Auf die visuelle Wahrnehmung folgt unmittelbar die Introspektion, in der Aristoteles über den glücklichen Mann nachsinnt, der mit dieser Frau alt werden darf. Diesen Gedanken folgen topische Zeichen der Minne wie der schnelle Wechsel von Hitze und Kälte.
Gerade im richtigen Moment kommt Phyllis auf das Haus des Philosophen zu und provoziert ein Gespräch. Ihr Aufputz und ihre Performance im Garten haben offensichtlich die gewünschte Wirkung erzielt. Aristoteles bittet die junge Frau in sein Haus und bringt sein Begehren schnell auf den Punkt:
Er sprach: „jch bin an wiczen
Vnd an synnen gepfant.
Jch han erfaren manig lant,
Jch gesach nye kynt so wol getan.
Laß mich dein hülde han.
Jch gib dir göldes zwenczig marck
Vnd füre dich jn mein arck,
Nym dar aüs wie vil dü wilt.“
(V. 383–390)‚Er sagte: „Ich bin meines Verstandes
und meiner Sinne beraubt.
Ich habe viele Länder gesehen,
doch noch nie ein so schönes Kind.
Schenke mir Deine Gunst!
Ich gebe Dir (dafür) zwanzig Mark Gold
und führe Dich zu meiner Truhe.
Nimm daraus, so viel Du willst!“‘
An der konkreten narrativen Ausgestaltung fällt auf, dass Aristoteles in direkter Rede mit gepfant (‚beraubt‘) ein Verb verwendet, das im Text zuvor (V. 82) für das Verlieben seines Schülers verwendet wurde. Damit werden die Begehren von Alexander und Aristoteles sprachlich miteinander verbunden. Doch es zeigt sich sehr deutlich, dass es Aristoteles nicht um höfische Minne geht. Er bietet Phyllis materielle Güter, um zu einem schnellen Ziel zu kommen. Damit dient die Parallelisierung der Affizierung beider Männer (über das Sehen und die Schönheit der jungen Frau, über das gleiche Verb) der Kontrastierung der Minnekonzepte: Alexanders Liebesqualen werden mittels höfischer Minnesprache erzählt und sind am literarischen Konzept der höfischen Minne (u. a. Exklusivität, Existenzialität und Gegenseitigkeit der Liebe) geschult. Aristoteles hingegen wird zwar ebenfalls von einem Begehren affiziert, aber es ist eindeutig ein triebhaftes Begehren. Anders als bei seinem Schüler zeigt sich ökonomische Sprache bei seinem Versuch, die Gunst der Phyllis zu gewinnen. Der greise Philosoph fällt so der List anheim und muss letztlich an seiner eigenen Existenz zeigen, dass die scientia der Minne nicht überlegen ist. Die Kontrastierung der Minnekonzepte erfolgt zum einen über die verwendete Sprache, zum anderen über die Handlungen der Protagonisten.
Aristoteles bittet Phyllis also, mit ihm zu schlafen. Sie weist die Bitte zunächst brüskiert ab, sieht dann aber einen Sattel im Raum liegen und bietet dem Philosophen einen Handel an: Lässt er sich von ihr wie ein Pferd mit einem Sattel reiten, wird sie tun, was ihm beliebt.
Der gerittene Aristoteles
Aristoteles willigt nun in den von Phyllis vorgeschlagenen Handel ein, lässt sich satteln und trägt Phyllis in den pamgarten(V. 494), jenen Garten, der zuvor den heimlichen Treffen von Alexander und Phyllis diente. Die Königin und einige ihrer Damen verfolgen das Schauspiel vom topischen Ort der höfischen Dame, von den zinnen der Burg. Damit wird die erfolgreiche Rache der Phyllis über den Philosophen auch raumsemantisch ins Bild gesetzt, denn sowohl Phyllis als auch die Königin befinden sich in erhöhter Position gegenüber dem Philosophen, der zuvor Phyllis bezichtigte und die Königin zur Intervention veranlasste.
Nachdem die Königin und ihre Damen das merkwürdige Schauspiel betrachteten, spricht Phyllis alles offen gegenüber Aristoteles aus – und entschwindet fröhlich in die Burg – und aus der Geschichte. Ihre Rache ist erfüllt, von nun an steht allein Aristoteles im Fokus der Handlung. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht über den Ritt der Phyllis am Königshof.
Aristotelesʼ Flucht und Exil
Anders als in der älteren Fassung weiß der jüngere Text nichts von einem Zusammenleben von Alexander und Phyllis zu berichten. Er lässt dies offen. Stattdessen folgt eine längere, besonders reizvolle Schlusspartie: Nachdem offensichtlich geworden ist, dass Aristoteles sein eingangs formuliertes Versprechen, den Königssohn in großem Ansehen zu erziehen und ihm Orientierung in der Welt zu vermitteln, nicht halten kann, verlässt er den Königshof:
Dar nach jn einer wochen
Nam der meynster zü hant
Sein pücher vnd sein gewant
Vnd alle sein habe
Vnd schickt ez bey nacht hyn abe
Heymlich jn eynem schifflein.
(V. 521–526)‚Eine Woche darauf
nahm der Meister sogleich
seine Bücher und seine Kleidung
und seine ganze Habe
und sandte alles in der Nacht hinab
heimlich auf ein kleines Schiff.‘
Anders als in anderen Überlieferungsträgern – wie etwa dem Straßburger Codex, in dem noch weiterer materieller Besitz des Philosophen mit Sin golt, in ilber […] (S, V. 522)[^17 Zitiert nach Sprague 2007.] erwähnt wird – fokussiert der Karlsruher Codex vor allem auf dessen Bücher. Diese Fokussierung auf die Codices in K greift die eingangs am Erlernen des Alphabets präsente Kulturtechnik des Lesens wieder auf.
Aristoteles bricht also heimlich in der Nacht auf, verlässt mit einem Schiff den Ort und gelangt schließlich auf eine Insel. Dort lässt er sich nieder, widmet sich wieder der scientia und schreibt ein Buch über die Listen der Frauen und wie sie so manchen Mann beschädigten.
Er kwam gevaren jn eyn stat,
Jn ein jnsel hieß Galicia.
‹Da› bleip er vnd machet da
Eyn michel püch vnd schreip daran,
Waz wünderliches kan
Daz schön vn getrew weip
Vnd wie ir leben vnd ir leip
Mangen hat verseret.
Der sich an sie keret,
Der wirt von jn gevangen
Alz der fysch an dem angel,
Alz der vögel an dem strick.
Jr lage, ir aügen plicke
Vahen alz der augsteyn.
Jch bin dez kümmen über eyn,
Daz da für nicht helffen kan,
Wan daz iegklich weiß man,
Der gern an freyse sey,
Der sey ir geselleschafft frey
Vnd fliehe ferre von jn hin dann,
Anders nicht gehelffen kan.
(V. 535–555)‚Er gelangte an einen Ort,
auf einer Insel, namens Galicia.
Dort blieb er und verfertigte
ein großes Buch und schrieb auf,
zu welchen außerordentlichen Dingen
die schöne, treulose Frau fähig ist;
und wie ihr Lebenswandel und ihr Körper
vielen geschadet hat.
Wer sich ihnen zuwendet,
der wird von ihnen gefangen,
wie der Fisch an der Angel,
wie der Vogel im Netz.
Ihr lauernder Hinterhalt, der Blick ihrer Augen,
ergreifen wie ein Magnet.
Ich bin zur Einsicht gelangt,
dass dagegen nichts zu helfen vermag,
außer, dass jeder kluge Mann,
der gern ohne Schrecken leben möchte,
ihre Gesellschaft meiden
und weit von ihnen fliehen solle.
Anderes vermag nicht zu helfen.‘
Abschließend setzt der Text den schreibenden Gelehrten ins Bild, in einer Art und Weise, in der – darauf hatte Burghart Wachinger bereits hingewiesen – „die Inhaltsangabe des Buchs, das Aristoteles schreibt, […] nahtlos ins Epimythion gleitet“ (Wachinger 1975, S. 77): Ein nicht näher bestimmtes Ich erklärt hierin, dass ein Mann sich vor den Listen der Frau nur schützen kann, wenn er sich von ihrer Gesellschaft fernhält. Letztlich erwächst daraus sogar die Möglichkeit, dass es sich um eine mise en abyme handelt: Dass also das Epimythion selbst aus dem Buch des Philosophen stammen könnte.[^18 In K 408 folgen noch einige weitere Verse. Hierauf bin ich im Rahmen der Vorlesung, die einführenden Charakter besaß, nicht eingegangen] Dasjenige, das sich im vermeintlichen Buch des Aristoteles findet, ist aus seiner Position sicherlich verständlich – aber es widerspricht doch eklatant dem, was im Text erzählt wird. Die Formulierung am Ende fügt sich damit nicht zum vorherigen Text. Die Folgerung im Epimythion, dass man(n) sich nur schützen kann, indem man den Frauen flieht, macht im heteronormativen Verständnis mittelalterlicher Erzählliteratur keinen Sinn (vgl. Rasmussen 2015, S. 207f.). Mit diesen offensichtlichen und gezielt im Text eingesetzten Diskrepanzen am Schluss (unlogisches Epimythion und Konflikt zwischen den ungetriuwen wîben und Phyllis) öffnet sich das explorative Potential der Versnovelle.
Exploration
Betrachtet man ausschließlich die Handlungslogik von ‚Aristoteles und Phyllis‘, so könnte man das zentrale Thema leicht mit amor vincit omnia benennen.[^19 Vergil: Ekloge 10, 69 eigentlich: omnia vincit amor. Zitiert nach: Holzberg 2016, hier S. 10. Zur weiten Verbreitung vgl. etwa die Präsenz als Teil eines Gürtelendbeschlags (ca. 1325–1350), heute Dauerausstellung Alte Synagoge Erfurt: vgl. https://thue.museum-digital.de/object/1544 (letzter Zugriff: 15.10.2022).] Der Text selbst, die Interaktion der unterschiedlichen Dimensionen des Sehens und auch die sprachliche Realisierung machen es allerdings keineswegs so einfach. Vielmehr markieren die Diskrepanzen zwischen dem Epimythion und der Geschichte ein exploratives Potential des Textes.
Ich komme hierfür zunächst nochmals auf den Schluss der Erzählung zurück. Dieses Ende ist in der Forschung ganz unterschiedlich interpretiert worden. Ich gebe nur zwei (hier stark verkürzte und dadurch) kontrastive Beispiele. Klaus Grubmüller konstatierte etwa:
Aristoteles […] verläßt den Hof mit all seiner Habe und zieht sich auf eine Insel zurück, in ein Leben als Gelehrter, wie es ihm nach dem Versagen als öffentliche Person wohl ansteht. Dort bewältigt er die traumatische Erfahrung als Schriftsteller: Er schreibt ein Buch über die Gefährlichkeit der Frauen. Auch dieser Rückzug in eine angemessene Existenz macht die Würde der deutschen Fassung aus. (Grubmüller 2006, S. 168)
Diese Lektüre ist durchaus denkbar – insbesondere wenn man etwa diese Fassung mit der Benediktbeurer Fassung oder aber mit dem ‚Lai d’Aristote‘ vergleicht. Ann Marie Rasmussen hat hingegen die Komik des Erzählausgangs betont:
Aristotle sitting alone and far from court on an island, angrily denouncing women for his own failings: surely this is intended not as tragedy but as comedy. (Rasmussen 2015, S. 208)
Beide Forschungspositionen zeigen denkbare und jeweils auch berechtigte Lesarten des Textendes an. Dass sie trotz ihrer Kontrastivität je berechtigt sind, ergibt sich über das explorative Potential von ‚Aristoteles und Phyllis‘, das dieser Text mit einer Reihe von Versnovellen teilt. So können durchaus gegensätzliche Lesarten des Textes entstehen: je nachdem, wessen Position man einnimmt und, ob man den Fokus für die eigene Interpretation auf Aristoteles oder aber auf Phyllis ausrichtet.[^20 Zum Text als „Vexierbild“ vgl. auch Cieslik 2006, S. 181.]
Das explorative Potential entfaltet sich auf diese Weise über das Textende, denn der Inhalt von Aristoteles’ Buch handelt von der Schlechtigkeit der Frauen: Waz wünderliches kan / Daz schön vn getrew weip (V. 539f.) und davon, wie sie die Männer beschädigen. Damit aktualisiert der Text am Ende einen Topos (daz übele wîp). Irritierend bleibt jedoch, dass der Text mit Phyllis gerade nicht von einer schönen und hinterlistigen Frau erzählte (vgl. Schallenberg 2012, S. 91–96). Im Text ist sie zwar diejenige, die Rache an Aristoteles übt, sie bleibt in den Zuschreibungen des Erzählers jedoch immer eine schöne und tugendhafte Frau: Er nennt sie die reyn, die güt (V. 119) oder die süße reyne / Gar alles wandels eyne (V. 356f.) und die süße, die reyne (V. 376f.). Der Text fordert dadurch seine wiederholte Lektüre geradezu ein.
Darüber hinaus aktualisiert das Textende nochmals den Aspekt des Sehens. Im Buch des Aristoteles finden explizit die schönen und gefährlichen Frauenaugen Erwähnung. Jene waren es, die in Aristoteles mit der ersten Liebesstufe (visus) die Liebe entzündeten. Nun wird diese erste Liebesstufe jedoch in Textualität überführt. Damit endet die Versnovelle mit dem Thema der scientia, das am Beginn mit dem königlichen Auftrag an den Philosophen stand. Das Erlernen der Kulturtechnik des Lesens wurde eingangs mit dem Erlernen des Alphabets durch Alexander explizit erwähnt.

Abbildung 2: BLB Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Deutsche poetische Erzählungen - Cod. Karlsruhe 408, fol. 83v (Ausschnitt). In der rechten Spalte (fol. 83vb) ist der Beginn des Alphabets gut erkennbar. (https://digital.blb-karlsruhe.de/urn/urn:nbn:de:bsz:31-1298)
Am Ende rückt dann das Schreiben ins Zentrum, das mit Aristoteles auf der Insel inszeniert wird. Bezogen auf die intradiegetische Niederschrift des Aristoteles artikuliert sich in diesem Ende nochmals abschließend der Konflikt von amor und scientia, der dem Text nicht nur eingeschrieben ist, sondern der ihn geradezu ausmacht.
Die Kulturtechnik des Lesens ist aber nicht nur innerhalb der Geschichte zentral, sondern sie ist auch für die Faktur des Textes selbst offensichtlich, der merkbar textura, Gewebe ist. Die jüngere Fassung von ‚Aristoteles und Phyllis‘ zeichnet sich insbesondere durch die Inkorporation von vier Versatzstücken aus Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘ aus und durch zahlreiche Anklänge an die literarische Sprache Konrads von Würzburg (vgl. bereits Josephson 1934, S. 51–61). Zudem verwendet sie mit dem erzähltechnischen Mittel des Exkurses gleich mehrfach Elemente genuin schriftliterarischen Erzählens: Einer von ihnen (V. 301–333) arbeitet mit den sogenannten ‚Tristan‘-Zitaten des Textes und enthält das Leimruten-Gleichnis. Ein späterer Exkurs widmet sich dann abermals den Frauenlisten. Er wurde vom Verfasser der Versnovelle selbständig gestaltet – und zeigt damit den komplexen und zugleich produktiven Umgang mit intertextuellen Referenzen in ‚Aristoteles und Phyllis‘ an.
Es offenbart sich so ein komplexes, Ebenen überspringendes Erzählen, in dem unterschiedliche Aspekte der mit dem Buch verbundenen Kulturtechnik präsent sind: der Lernprozess des Lesens (am Beispiel von Alexander), das Schreiben (im Bild des schreibenden Aristoteles), das Einfügen von intertextuellen Referenzen in den Text und das schriftliterarische Mittel der Exkurse. Zugleich wird das Lesen der Versnovelle, in welcher der Konflikt von amor und scientia zentral ist, reflektiert: Denn mittelalterliches Lesen ist ein Bildungsprivileg, das unmittelbar an scientia gebunden ist – und in ‚Aristoteles und Phyllis‘ an ein exploratives, lustvolles Erzählen über die Dynamiken des Begehrens und der Literatur gekoppelt wird.