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Beitrag 3

„Als Liebesbrief­wechsel nicht wahrnehm­bar“? Zwei Briefe von Rahel Levin Varnhagen an Karl August Varnhagen

Von Justyna Bartyzel (Krakau)

1. Einleitung

Die deutsche Intellektuelle jüdischer Herkunft und Berliner Salonnière Rahel Levin, verh. Varnhagen (1771–1833), war eine der Berühmtheiten ihrer Epoche. Obwohl sie kein literarisches Werk in publizierter Form hinterließ, werden ihre Briefe aufgrund der intellektuellen und ästhetischen Qualitäten heutzutage als literarische Texte gewürdigt. In der berühmten Korrespondenz der Autorin, die über 6000 Briefe hinterließ, nimmt der Briewechsel mit ihrem Ehemann, dem Diplomaten und Publizisten Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858), als einer der umfangreichsten eine besondere Stellung ein. Die Ehe-Korrespondenz reflektiert sowohl die ungewöhnliche Beziehung der Meisterin der Briefkunst mit einem anerkannten Intellektuellen, Chronisten und Schriftsteller als auch die politischen und kulturellen Kontexte des bewegten 19. Jh. (vgl. Thomann Tewarson 1988: 99). Laut Barbara Hahn handelt es sich um eine „von vielen Legenden“ (Hahn 1990: 129) umstellte Korrespondenz. Sie wurde als ein wichtiges kulturgeschichtliches Zeugnis gelesen oder aber als „Dokument einer anstößig wirkenden Beziehung“ wahrgenommen, „in der die ältere Frau den dominierenden Part spielte und sich zu einem jüngeren und ihr in vielerlei Hinsicht unterlegenen Mann zuwandte; [a]ls Liebesbriefwechsel war er nicht wahrnehmbar […]“ (ebd.: 129). Die Schwierigkeit, diesen Briefwechsel als Liebeskorrespondenz zu klassifizieren, erklärt die Forscherin mit der Erkenntnis, dass in den genannten Briefen von der Liebe nur auf „eine schwer entzifferbare Weise die Rede“ sei (ebd.: 129).

Es ist anzunehmen, dass dieses kritische Urteil von der Kenntnis der biografischen Umstände des Ehepaares beeinflusst wurde. Die Verlobung von Rahel Levin mit dem jungen Diplomaten unterschied sich nämlich stark von ihren bisherigen, zwar unglücklichen und gescheiterten, aber am Anfang von Leidenschaft getragenen Bindungen: der Liebe zu Graf Karl Friedrich Albrecht Fink von Finckenstein (1772–1811) und der von Eifersuchtsausbrüchen des Geliebten geprägten Verlobung mit dem spanischen Gesandten Rafael Eugenio Rufino d’Urquijo Ybaizal y Taborga (1769–1839). Auch die mit einer kurzen Begegnung 1803 begonnene frühe Phase der Bekanntschaft von Rahel Levin mit Karl August Varnhagen verlief nicht ruhig. Die zukünftigen Eheleute waren zeitweise auch an anderen Partnern interessiert, was zu den sowieso schon zahlreichen (auch brieflich geführten) Auseinandersetzungen zwischen ihnen beitrug. Auf die Spannungen folgte Versöhnung: 1808 kam es zur Verlobung und am 27. September 1814 zur Heirat des Paares, mit der eine 19 Jahre lange, bis zum Tod der Schriftstellerin 1833 andauernde glückliche Ehe begann.

Der die Beziehung begleitende Briefwechsel ist, wie erwähnt, von beachtlichem Umfang. Nach eingehender Beschäftigung erscheint mir die Darstellung eines Überblicks über die gesamte Korrespondenz im Rahmen dieses Beitrags kaum möglich. So soll lediglich an zwei ausgewählten Beispielen aus dieser Korrespondenz, nämlich einem Brief Rahel Levin Varnhagens, der nach der Verlobungszeit am 26. September 1808 verfasst wurde und ihrem kurz nach der Heirat geschriebenen Brief vom 8. Oktober 1814, ein Teilein­blick in die Dynamik dieses Briefwechsels geliefert werden. Die Konzentration liegt dabei auf der Zuordnung der genannten Briefe in die Kategorie ‚Liebesbrief‘. Dabei wird insbesondere auf inhaltliche und ausgewählt sprachliche Merkmale eingegangen, um diese als Markierungen von einerseits liebevoller Zuwendung und andererseits emotionaler Bewegtheit zu interpretieren.

2. Liebesbrief – Versuch einer Definition

Die Ersetzung eines Gesprächs zwischen den Abwesenden gilt als die Grundfunktion des Briefes. Einen wichtigen Platz nimmt der Brief in der Kommunikation der Verliebten ein, weil er dann zum Versuch wird, ihr intimes Verhältnis wiederzugeben und Emotionen, allen voran die Liebe, direkt und indirekt auszudrücken. Fest steht, dass der Liebesbrief als Medium der Offenbarung und Modellierung des Selbst und des Anderen die intime Beziehung der Korrespondenten als ein besonderes soziales System darstellt, das teilweise mithilfe einer eigenen Sprache funktioniert (vgl. Stauf u.a. 2013: 2f.). Die Herausgeber des Bandes Der Liebesbrief: Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart bezeichnen die Liebesbriefkultur als eine vielfältige, mehrstimmige Landschaft, in der verschiedene Formen der Kommunikation nebeneinander existieren. Dabei erkennen sie, dass typische Merkmale des Briefes – d.i. das Verbinden der Gegensätzlichkeiten Nähe und Ferne, Offenbaren und Verbergen, Selbst-Sein und Selbst-Mitteilen sowie die gegenseitige Wechselwirkung aufgrund der intimen Beziehung der Partner – in einem Liebesbrief besonders deutlich zu Tage treten (vgl. ebd. und Hübener u.a. 2020: 506).

Erfüllen die ausgewählten Korrespondenzen von Rahel Levin Varnhagen an ihren (zukünftigen) Ehemann diese Kriterien? Kann man in ihnen die Artikulation von bewegten Gefühlen erkennen?

3. Bewegte Gefühle: zum Brief Rahel Levins an Karl August Varnhagen vom 26. September 1808

Lieber Englischer! Gestern morgen gab man mir Deinen Brief! Im Gegentheil! Du schreibst hundertmal leichter, zusammenhängender und besser als ich! […] auch bin ich hier sehr zerstreut, sehr unterbrochen: muss für tausend Unwürdigkeiten sorgen, die mir den Kopf auseinandersetzen: aber alles besser, als in Berlin geblieben ohne Dich; denke ich an die Straßen und an die Orte von uns beiden, und daß ich dahin zurück muß, so zieht sich mir das Herz! – […] Du Lieber, theile mir alles mit; Du kannst mir alles sagen, und wie stolz, wie zufrieden macht es mich! Du gabst mir Festigkeit! Kurz, wir thun uns gut. (Wie sonderbar, wie scheinend und schmerzend war unser Umgang im Anfang!) Wie verlassen, ja wie ausgelacht komme ich mir ohne Dich vor. Mit Dir, neben Dir, hatte ich zu allem Muth; Du lehrtest mich ausführen, was ich für gut halte; Du lehrtest mich, was ich wohl in der Welt hätte haben können: Du bist der Einzige in der ganzen Welt, der mich je lieb hatte, der mich behandelt wie ich Andere. Ja ich bekenne es Dir gerne mit dem ganzen Drang der Erkenntlichkeit; von Dir lernte ich geliebt sein, und Du hast Neues in mir geschaffen. Nicht Eitelkeit – auch ist die nicht so schlecht, als man sie macht: nur das Lügen durch und für sie ist schlecht – ist es, die ewig mein Wesen mit Befriedigung durchdringt, Du wirst es wissen, Du! – bei dessen rechter Vorstellung die Thränen mir in die Augen dringen – es ist das endlich gesunde, kräftige, wahre, wirkliche Empfangen der Seele. Sie nimmt und giebt, und so wird mir ein wahres Leben geboren! […] Mit Dir war es mir anders als mit allen Menschen. […]. Ich liebe in Dir, daß Du mein Wesen erkennst, und daß das Erkennen sich in Dir ausdrückt, und wirkt, und äußert, wie es geschieht. Ich liebe Dich überaus zärtlich wieder, Du hast es hundertmal gesehen; ich könnte mein Leben mit Dir zubringen; es ist mein sehnlichster, ernster, jetzt einziger Wunsch; ich weihete Dir es in Freude und der größten Befriedigung; ich erkenne Deinen ganzen Werth, und nicht ein Pünktchen Deiner Liebenswürdigkeit, und Deines Seins – Skala hinauf und Skala hinunter – entgeht mir. Ich bin Dir treu aus Lust, Liebe und der gelassensten Wahl. […] endlich umfang’ ich Dich, Du lebst; und bist Du! Denke aber nicht, daß ich Dich ganz ohne Unruhe liebe. […]

(Varnhagen 1874: 44f.)

Die vorliegende umfangreiche Passage, aus der im Folgenden zitiert wird, erfüllt meines Erachtens repräsentativ die Kriterien eines Liebesbriefs: An mehreren Stellen drückt die Schreiberin ihre Liebe gegenüber dem Empfänger direkt aus und versichert ihm ihre Treue. Ein Sich-Verbergen erscheint ihr nicht nötig. Sie weiß um den Wert ihrer Liebe, behauptet, den Wert des Partners vollständig zu erkennen und sein völliges Vertrauen zu verdienen, ferner drückt sie die Überzeugung aus, dass auch Varnhagen sie vollständig versteht: „Ich liebe an Dir, dass Du mein Wesen erkennst“, schreibt sie und nimmt diesen Gedanken an einer weiteren Stelle im Text so auf: „Ich liebe Dich überaus zärtlich wieder, Du hast es hundertmal gesehen“. Mit diesen Behauptungen wird das Bild einer Verbindung gezeichnet, die v. a. auf gegenseitigem Verständnis baut. Rahel Levin akzentuiert das Besondere an dieser Beziehung, als sie dem Verlobten erklärt: „Mit Dir war es mir anders als mit allen Menschen.“ Diesen Zustand erklärt sie mit den Worten: „Du bist der Einzige in der ganzen Welt, der mich je lieb hatte […].“ Der Brieftext betont auch die Ausschließlichkeit der Beziehung beider Korrespondenten, dem Empfänger wird aber dabei viel Verantwortung auferlegt als dem einzigen Menschen, von dem sich die Briefschreiberin geliebt fühlt.

Die modellierende Kraft der Liebe erscheint in diesem Brief als ganz spezifisches Merkmal. Der Brief Rahel Levins lobt nämlich die Liebe ausdrücklich als eine lebenspendende Kraft, die zur Persönlichkeitsentfaltung der Autorin beigetragen hat. Sie schreibt: „Mit Dir, neben Dir, hatte ich zu allem Muth; Du lehrtest mich ausführen, was ich für gut halte; Du lehrtest mich, was ich wohl in der Welt hätte haben können“. Die Stelle, an der der jüngere Geliebte als ein Lehrer gelobt wird, ergänzt die Äußerung: „Du gabst mir Festigkeit!“, „[…] Du hast Neues in mir geschaffen“. Der Beitrag des jüngeren Partners zur Entwicklung der Persönlichkeit der 37-jährigen Partnerin wird mit diesem Eindruck mit Nachdruck akzentuiert.

In sprachlicher Hinsicht lässt sich im Text eine hohe Dichte der Personal- und Possessivpronomina nachweisen. Die oben kursiv wiedergegebenen Redeteile stehen im zitierten Brief vor allem in folgenden Formen: ich, du, mir, dir, mich, dich, mein, dein, wir, uns, unser; sie betreffen also die 1. und 2. Person Singular und 1. Person Plural. Sie und die ihnen entsprechenden Verbformen werden häufig innerhalb desselben Satzes aufeinander bezogen. Die meisten Sätze des Briefs betonen die Verbindung der Korrespondenten: Wenn „ich“ in der Subjekt-Funktion verwendet wird, dann kommt „du“ in der Rolle des Objektes und umgekehrt („du“ als Subjekt und „ich“ als Objekt). So wird nicht nur auf das Agens der jeweiligen Handlung hingedeutet, sondern es werden auch eine starke Wechselwirkung und das intime Verhältnis der Korrespondenten hervorgehoben. Dieses sprachliche Merkmal wird beibehalten, selbst in den seltenen Sätzen des Briefes, in denen äußere Gegenstände erwähnt werden. (Ein auffälliges Beispiel liefert der Satz: „[D]enke ich an die Straßen und an die Orte von uns beiden, und daß ich dahin zurück muß, so zieht sich mir das Herz!“) Mit der genannten Strategie wird die starke Subjektbezogenheit des Brieftextes akzentuiert. Ungeachtet des Gegenstands, von dem berichtet wird, werden die Liebenden und ihre Liebe immer in den Vordergrund gestellt.

Die Schreibhaltung der Korrespondentin akzentuiert die emotionale Bewegtheit, die offen genannt wird, wie z. B. in dem Satz „Du wirst es wissen, Du! – bei dessen rechter Vorstellung die Thränen mir in die Augen dringen –“. Dem Ausdruck der Emotionen entsprechen emphatische Wiederholungen (vgl. auch den früheren Satz: „Mit Dir, neben Dir hatte ich zu allem Muth.“). Darüber hinaus verwendet die Schreiberin zahlreiche Ausrufezeichen. Dazu kommt es bereits am Anfang des Briefes: „Lieber Englischer! Gestern morgen gab man mir Deinen Brief! Im Gegentheil!“ Eine besondere Dynamik bekommt der Text auch durch die Verwendung von mehreren Gedankenstrichen, die man in der Schrift dort verwendet, wo man in der gesprochenen Sprache deutliche Pausen macht oder wo man einen Einschub stärker als mit Kommata vom Rest des Satzes abheben möchte. An einer Stelle kombiniert die Briefautorin sogar die Verwendung der Gedankenstriche und Ausrufezeichen, um ihre Rührung auf der Ebene der Interpunktion wiederzugeben (vgl. „Du wirst es wissen, Du! – bei dessen rechter Vorstellung die Thränen mir in die Augen dringen –“).

Der zitierte Text verdient auch aus einem anderen Grunde Aufmerksamkeit. Viele Briefe Rahel Levins zeichnen sich durch originelle Metaphern und komplizierte, manchmal aphoristische Sätze aus, die mehrmalige Lektüren erfordern. Die Briefe Rahel Levins an Varnhagen enthalten diese Formen eher selten. Das erklärt Barbara Hahn folgendermaßen: „Varnhagen erschrickt vor Briefen, die keinen einfach benennbaren Inhalt haben, sondern in paradoxen Formulierungen und ungetümen Sätzen nach angemessenen Lösungen für Probleme suchen, für die es keine Sprache gibt.“ (Hahn 1990: 130) Im zitierten Schreiben bleiben die Sätze kurz, Satzgefüge liegen nicht vor. Dies lässt eine besondere Textdynamik entstehen. Mit dieser Schreibstrategie verweist die Absenderin darauf, dass sie sich von ihren Emotionen tragen lässt, denn im Zustand einer starken emotionalen Bewegtheit lassen sich keine logisch anspruchsvollen längeren Sätze konstruieren.

4. Ehepartner auf Reisen: Zum Brief Rahel Levin Varnhagens an Karl August Varnhagen vom 8. Oktober 1814

So eben, theurer, einziger, sehr geliebter Freund, habe ich Dir durch Barthold, denn ich den Brief adressirte, nach Wien geschrieben. Ich reise erst Montag nach Dresden, wohin ich meine Prager Briefe beschieden habe, an die Baronin von Grotthuß adressirt. Was soll ich so lange in Prag, wo ich ohne dich zu ungerne bin, im Finstern sitzen und warten! In Wien werde ich, allen Nachrichten zufolge, nicht hinein können: und dann wegen der Theuerung nicht hinaus!!! Ich bin sehr hypochondrisch drüber. Dieser Brief ist nur en l’air geschrieben; Du bist, wann er kommt, gewiß von Frankfurt. Der Wiener ist besser: und ärgerlicher, und doch besser. Noodt begleitet mich. Verlasse dich ganz auf meine innigste, zärtlichste, vertrauungsvollste Liebe; und sei gewiß, alles, was ich mit Dir zu bestehen habe, bestehe ich gerne und gut; und mit Freude, weil du bei mir bist. Du hast mich ganz erobert, und mir ist wohl dabei. Lebe auch wohl! Theurer! Wie sorgte ich, Dich die Nächte auf dem Felde zu wissen. Das kann mir, wie diese Trennung, der General nicht bezahlen. Sag ihm, was er mir anthut: aber ich bin stolz auf dies Opfer, wie ich mich immer fühle, wenn ich freudig bin. Ich umarme meinen geliebten August; und bin Deine R. R. […]

(Varnhagen 1875: 80)

Am 27. September 1814 heiratete Rahel Levin, die damals den Namen Robert trug, den vierzehn Jahre jüngeren Verlobten. Kurz darauf, Anfang Oktober, ging er nach Wien, um eine Stelle als preußischer Diplomat in Wien anzunehmen. Die Ehefrau sollte ihm bald folgen, am 20. Oktober 1814. Der Brief, aus dem auch im Folgenden zitiert wird, entsteht also einerseits in einer Zeit der Gewissheit – nach der langen Verlobungszeit sind die Korrespondenten ein Ehepaar geworden. Andererseits fällt er aber in eine bewegte Zeit. Die allgemeine politische und ökonomische Lage der deutschen Länder um 1814 ist instabil. Instabil ist auch die finanzielle und soziale Situation der Eheleute, die in der fernen österreichischen Stadt Fuß fassen sollen. Dem Brief wird das Thema der Bewegung eingeschrieben. Zu seiner Entstehungszeit befindet sich Varnhagen auf der Reise nach Wien, während seiner Frau diese Reise unmittelbar bevorsteht (vgl. Scurla 1979: 216).

Genauso wie in dem früheren wird auch in diesem Brief dem Empfänger die Liebe der Briefschreiberin mehrmals versichert. Die Zuneigung wird direkt ausgesprochen und mit den Epitheta „innigste“, „zärtlichste“, „vertrauungsvollste“ charakterisiert. Jedes dieser Epitheta wird im 19. Jh. häufig mit dem Substantiv „Liebe“ verwendet, auffallend an der Ausdrucksweise des Briefes ist aber ihre Häufung und Verwendung in superlativischen Formen. Eine Häufung der auf die Liebe der Briefschreiberin zum Ehemann hinweisenden Attribute („theurer, einziger, sehr geliebter“) wurde auch schon in der Grußformel verwendet. Damit entspricht die Ehefrau der Konvention: Solche Epitheta sind im Brief an den Ehemann üblich, durch ihre gehäufte Verwendung wirkt der Text emotional.

Ein deutlicher Unterschied gegenüber dem ersten Brief lässt sich in der Anredeform erkennen. Während sich die Briefschreibende an ihren Verlobten früher mit dem auf das ‚Übermenschliche‘ verweisende Wort „Englischer“ wandte, redet sie ihn hier zu Anfang des Briefes als Freund an. Die in der obigen Passage genannten Epitheta weisen diese Ehe-Freundschaft als einmalig und emotionsgeladen auf, zugleich werden beide Partner als Freunde auf dieselbe Stufe gestellt. Im Unterschied zum ersten Brief vom 26. September 1808 steht in dem späteren nicht das gegenseitige Verständnis, sondern das gegenseitige Vertrauen im Vordergrund. In demselben Satz, in dem die Korrespondentin ihre Liebe mit einem Superlativ als „vertrauungsvollst“ bezeichnet, versichert sie den Ehemann, dass auch sie selbst sein völliges Vertrauen verdient. Sie schreibt: „Verlasse dich ganz auf meine […] vertraungsvollste Liebe“. Am Schluss des Briefes wird der Empfänger als „mein lieber August“ angeredet und durch das Possessivpronomen der Korrespondentin ‚zugeordnet‘.

Dem an der Schwelle zu einer diplomatischen Karriere stehenden Ehemann bietet die Korrespondentin emotionale Unterstützung. Sie betont ihre Bereitschaft, Opfer für das Zusammensein des Paares mit Freude ertragen zu wollen. Dreizehn Tage nach der Heirat wird das Wesen der Beziehung nicht mehr erörtert. In dem früheren Brief vom 26. September 1808 verwies Rahel Levin auf den dynamischen Charakter ihrer Gefühle mit den Worten: „Denke aber nicht, daß ich Dich ganz ohne Unruhe liebe.“ Im Brief von 1814 scheint diese Spannung nicht mehr vorhanden zu sein. Die Autorin schreibt: „Du hast mich ganz erobert, und mir ist wohl dabei.“ In Bezug auf die emotionale Situation des Paares wird mit diesen Worten ein statischer Zustand angedeutet. Die Phase der Eroberung ist abgeschlossen, das Ziel des ‚Eroberers‘ Varnhagen wurde erreicht, die ‚Eroberte‘ erklärt sich mit dem erreichten Zustand zufrieden.

Die Herausgebenden des oben zitierten Bandes Der Liebesbrief: Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jh. bis zur Gegenwart erklären, dass jeder Liebesbrief im Modus einer vielfachen Bezugnahme stehe, aber ein gegebenes bzw. gesuchtes Verhältnis zu dem Adressaten oder der Adressatin immer als der Grundbezug zu betrachten sei (vgl. Stauf u.a. 2008: 1). Wie in dem früheren Brief Rahels steht auch in dem späteren die Beziehung zwischen der Absenderin und dem Empfänger im Vordergrund. Eingang in das Schreiben finden hier aber auch die Namen von Dritten, vor allem den Reisebegleitern beider Eheleute. Darüber hinaus wird über pragmatische Angelegenheiten wie Reisetermine und Reisestationen sowie finanzielle Befürchtungen berichtet. Diesem Themenbereich kann auch die fürsorgliche Erwähnung der Übernachtungsbedingungen des Adressaten (vgl. „die Nächte auf dem Felde“) zugeordnet werden, die zugleich auch mit dem anderen Thema des Briefes – der Liebe – im Zusammenhang steht. Diese Passage, in der beide Themenbereiche des Textes verbunden werden, trägt zur Kohärenz des Textes bei. Mit der Nennung der Namen von Freunden und Bekannten, d. h. mit der Einbeziehung von Dritten, wird das ‚Fenster auf die Außenwelt‘ geöffnet. Diese Öffnung ist allerdings nicht breit, denn alle erwähnten Namen beziehen sich auf Menschen, die mit der Reise bzw. mit dem Briefverkehr der Eheleute in Verbindung stehen, d. h. sie wieder zusammenbringen wollen.

Wie in dem früheren Brief lässt sich auch in dem späteren eine hohe Dichte der Personal- und Possessivpronomina in der 1. und 2. Person Singular nachweisen. Sie werden auch hier innerhalb eines Satzes aufeinander bezogen, um die Wechselbeziehung der Korrespondenten zu akzentuieren. Das erfolgt z.B. in den Äußerungen: „Was soll ich so lange in Prag, wo ich ohne dich zu ungerne bin, im Finstern sitzen und warten!“, „und sei gewiß, alles, was ich mit Dir zu bestehen habe, bestehe ich gerne und gut; und mit Freude, weil du bei mir bist.“ „Du hast mich ganz erobert, und mir ist wohl dabei.“

Auch in diesem späteren Brief verwendet die Absenderin Ausrufezeichen. Sie begleiten hier allerdings nicht den Textanfang, sondern beziehen sich auf den Ausdruck des Unwillens gegen einen einsamen Aufenthalt in Prag (vgl. den oben zitierten Satz „Was soll ich so lange in Prag […]“), Empörung über die teuren Reisebedingungen sowie die späteren Grußformeln („Lebe wohl! Theurer!“). Die Grußformel am Anfang des Briefes, die in den ersten Satz integriert wurde, enthält keine Ausrufezeichen. Die Ausrufezeichen werden in diesem späteren Brief nicht mehr effektvoll mit den Gedankenstrichen verbunden. Auch die Sätze dieses Briefs sind ähnlich wie im früheren nicht „ungetüm“ (Hahn 1990 :130), aber sie erscheinen länger als im früheren Brief. Die Briefschreiberin verwendet an einigen Stellen Satzgefüge (vgl. z. B. „Ich reise erst Montag nach Dresden, wohin ich meine Prager Briefe beschieden habe, an die Baronin von Grotthuß adressirt. Was soll ich so lange in Prag, wo ich ohne dich zu ungerne bin, im Finstern sitzen und warten!“). Der Rhythmus im zweiten Brief wirkt ruhiger als im ersten. Auch der spätere Brief erklärt und zeigt, dass er von Gefühlen getragen wird, sie erscheinen aber gemäßigter als diejenigen, die den ersten der Briefe getragen haben.

5. Schlussfolgerungen

Die Lektüre der in diesem Beitrag behandelten Briefe des Ehepaares Varnhagen erfolgte mit Fokussierung auf die Dynamik der Gattung Liebesbrief. Der erste analysierte Brieftext entstand nach der Verlobung, der zweite kurz nach der Heirat des Paars. Obwohl in der Forschung dem Briefwechsel der Varnhagens oft der Wert der Liebeskorrespondenz abgesprochen wurde, lassen sich in beiden Briefen Charakteristiken dieser Gattung finden. Dazu gehören die Artikulation der Liebesgefühle, Bezüge auf das intime Verhältnis beider Partner und die Betonung der modellierenden Kraft der Beziehung. In den Blick wurden vor allem Passagen genommen, in denen die Zuneigung zum Partner ausgedrückt und starke emotionale Bewegtheit der Korrespondentin während des Schreibprozesses suggeriert wird. Fokussiert wurden sprachliche Strategien, die dazu beitragen. Die hier analysierten Briefe gehören inhaltlich und formal nicht zu den berühmtesten und glänzendsten epistolaren Texten Rahel Varnhagens, sie liefern aber anschauliche Beispiele für die Fortsetzung und Modifikation von textuellen Strategien in den Briefen, die unterschiedliche Phasen ihrer Beziehung zu Karl August Varnhagen begleiten.

Primärliteratur

  • Varnhagen, Rahel (1874): Brief an Karl August Varnhagen vom 26. September 1808. In: Assing-Grimelli, Ludmilla (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Varnhagen und Rahel. Erster Band. Leipzig: Brockhaus, S. 44–47.
  • Varnhagen, Rahel (1875): Brief an Karl August Varnhagen vom 8. Oktober 1814. In: Assing-­Grimmelli, Ludmilla (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Varnhagen und Rahel. Fünfter Band. Leipzig: Brockhaus, S. 80.

Sekundärliteratur

  • Hahn, Barbara (1990): „Antworten Sie mir!“ Rahel Levin Varnhagens Briefwechsel. Basel / Frankfurt am Main: Stroemfeld / Roter Stern.
  • Hübener, Andrea u.a. (2020): Liebesbrief / Erotischer Brief. In: Matthews-Schlinzig, Marie Isabel u.a. (Hrsg.): Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Berlin: De Gruyter, S. 506–514.
  • Scurla, Herbert (1979): Rahel Varnhagen. Die große Frauengestalt der deutschen Roman­tik. Berlin: Verlag der Nation.
  • Stauf, Renate u.a. (2008): Liebesbriefkultur als Phänomen, in: Dies. (Hrsg.): Der Liebes­brief: Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jh. bis zur Gegenwart. Berlin: De Gruyter, S. 1–22.
  • Thomann Tewarson, Heidi (1988): Rahel Levin Varnhagen mit Selbstzeugnissen und Briefdokumenten. Hamburg: Rowohlt.
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