Der Schlaf der Vernunft gebiert Abenteuer Eine Untersuchung des Vorwortes Anweisung für den Leser von André Breton und dessen Bedeutung für Max Ernsts Collageroman La femme 100 têtes (1929)
1. Einleitung
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer lautet der Titel der berühmten Grafik von Francisco de Goya aus seinem Zyklus Los Caprichos (ca. 1793–1799). Es scheint, als hätten die Surrealist:innen diesen Gedanken verkehrt, indem sie der Vernunft mindestens eine gewisse Skepsis entgegenbrachten und sich in besonderer Weise für die vermeintlichen Ungeheuer interessierten, die ihr Aussetzen hervorbringt. Ein Zeugnis davon liefert der Collageroman La femme 100 têtes (1929) von Max Ernst, der bereits Gegenstand vieler Untersuchungen in den Bereichen Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft, Psychologie, Philosophie u.A. geworden ist. So geschehen etwa in den Bänden Max Ernst. Collagen – Inventar und Widerspruch I und II des Kunsthistorikers Werner Spies (Spies 2008a, Spies 2008b) oder in dem Aufsatz Vampir und Verbrechen. Zu Max Ernsts Collagenroman ‚La femme 100 têtes‘ (1929) von Gabriele Wix (Wix 1990). Nicht nur die ungewöhnliche Form des Buches, ein Collagen-Zyklus, der von Bildlegenden begleitet ist und von Ernst als ‚Roman‘ bezeichnet wurde, erschwert eine Einordnung, auch inhaltlich gibt das Buch viele Rätsel auf. In unterschiedlichen Disziplinen wurden bereits einzelne Elemente und Symbole besprochen, Motiv-Gruppen identifiziert, die Struktur des Buches analysiert und das Verhältnis von Bildlegenden und Collagen kommentiert. Der Roman wurde unter anderem als ein ‚Bildungsroman‘ (Ch. Stokes), ein ‚visuelles Manifest des Surrealismus‘ (J. Pech) oder als ‚Bibel und Märchen zugleich‘ (G. Bauer) aufgefasst (vgl. Wix 1990: 52). Weniger oder kaum expliziter Gegenstand geworden ist hingegen das Vorwort von André Breton. Unter dem Titel Anweisung für den Leser eröffnet Breton, der zum theoretischen Sprachrohr der jungen surrealistischen Bewegung avancierte, die Lektüre des Romans und beeinflusst damit nicht nur die Rezeptionshaltung der Leser:innen, sondern auch maßgeblich die Deutung der folgenden Bilder und Texte. Die Prägung, die das Vorwort der Lektüre verleiht, seine Eigenschaften und Funktionsweisen sind Gegenstand dieser Ausarbeitung. Dafür nähere ich mich der Thematik zunächst durch einen kurzen Überblick über die surrealistische Bewegung um Breton, deren Anliegen und Techniken sowie die Adaption des Surrealismus durch Max Ernst an. Anschließend stelle ich den Inhalt und wesentliche Aspekte des Collageromans La femme 100 têtes und des Vorwortes dar. Den Kern der Arbeit, die Analyse und Interpretation des Vorwortes, führe ich anhand der Ausarbeitungen von Gérard Genette zu Typen und Funktionsweisen des Vorwortes durch, die dieser in seiner Publikation Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches (frz. 1987) darlegt. Ziel der Untersuchung ist es, die Arten der Beziehungen zwischen Ernsts Werk und Bretons Text aufzuzeigen.
2. Der Surrealismus: Gründung und Entwicklung eines Programms
Den Anfang des Surrealismus bildete eine kleine Gruppierung französischer Literaten. Die damaligen Studenten André Breton, Louis Aragon und Philippe Soupault verbanden nicht nur die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, sondern auch, nach ihrer Rückkehr vom Feld, ihre Ablehnung des Pariser Bildungsbürgertums und der geistigen Aristokratie, darunter auch ehemalige Vorbilder der jungen Literaten, die anscheinend unberührt von den Gräueltaten ihren Gewohnheiten nachgingen oder gar in nationalistische Euphorie verfielen (vgl. Soupault 2018: 40–42). Sie lehnten den französischen Rationalismus sowie den Literaturbetrieb und dessen Konventionen ab, hegten Argwohn gegen die bürgerliche Kultur, die ihrer Ansicht nach an veralteten Traditionen und Sicherheit suggerierenden Vorurteilen festhielt, und waren anti-klerikal und anti-militärisch eingestellt (vgl. Lange 2005: 129 und Soupault 2018: 45, 58). Im Zuge der Bildung einer künstlerischen und gesellschaftlichen Vision experimentierten sie mit Schreibpraktiken und gaben gemeinsam die Zeitschrift Littérature heraus. Breton, der sich zunehmend zum theoretischen Kopf der Bewegung entwickelte, komprimierte die Annahmen und Ziele der Bewegung 1924 in einem ersten Manifest (Breton 2005, vgl. außerdem Soupault 2018:60 und Lange 2005: 129). Aus der Ablehnung des Rationalismus, der Herrschaft der Logik und des einseitigen und beschränkten Bildes des (Vernunft-)Menschen resultiert Breton zufolge im surrealistischen Programm die Hinwendung zum und die Erforschung des Unbewussten – ein Weg, den unter anderem Freud mit seiner Psychoanalyse und Traumdeutung eröffnet hat (vgl. Soupault 2018: 37, 61). Durch die Erforschung der Imagination soll eine neue Geisteshaltung erreicht werden, durch welche die „scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität“ aufgelöst werden (Breton 2005: 329, Herv. im Orig.; vgl. außerdem Soupault 2018: 37). Im „Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens“, welche nur „ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung“ zu ihrer Entfaltung kämen, ermöglicht der Surrealismus laut Breton die „Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme“ (Breton 2005: 329). Breton räumt ein, dass man gerade erst am Beginn dieses Prozesses stehe und noch nicht klar sei, wie und durch wen (Künstler:innen oder Gelehrte) die Imagination erforscht werden könne.
Zu wichtigen technischen Hilfsmitteln des surrealistischen Zugangs zum Unbewussten entwickelten sich der Zufall und die Verfremdung (vgl. Möbius 2000: 177f.). Durch die Verfremdung, also das Herauslösen der Dinge aus ihrem ursprünglichen Kontext und ggf. die Herstellung neuer Verbindungen zwischen Dingen, können ihre poetischen und transzendenten Eigenschaften verstärkt zu Tage treten. In diesem Sinne operiert die von den Surrealist:innen gern zitierte „zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch“ (nach Lautréamont, vgl. z.B. Ernst 1989: 25). Wenn im Umgang mit surrealistischer Kunst und Literatur von Zufall als Technik die Rede ist, müssen allerdings Einschränkungen gemacht werden, da dem ‚Zufall‘ immer ein gewisses Regelwerk zugrunde liegt (etwa die Akzeptanz der Syntax) und beispielsweise die Ablehnung des Alten und Konventionellen zwangsweise einen Filter auf die Produktion des Neuen legt (vgl. Möbius 2000: 177–181). Aufgrund ihrer Haltung und Interessen wundert es wenig, dass die Surrealist:innen ihre Inspiration vor allem auf Flohmärkten, in Schaufenstern, billigen Antiquariaten und Buchläden suchten, wo sie zufällig auf Objekte mit einem „verlorene[n], verrätselte[n] Gebrauchswert“ (Spies 2008b: 26) stoßen konnten, statt in Museen und ausgewählten Bibliotheken, den Zentren der bürgerlichen Kultur, zu verkehren (vgl. Lange 2005: 124).
3. Max Ernst: Annäherung an die Bewegung und Anwendung surrealistischer Prinzipien in der Collage
Max Ernst war einer der wenigen Bildkünstler, die sich der Gruppierung um Breton anschlossen. Im gleichen Maße wie Breton, Aragon und Soupault von den Eindrücken des Ersten Weltkriegs aufgerüttelt waren, begründete er mit Hans Arp und Johannes Theodor Baargeld den Kölner Dadaismus. Über Tristan Tzara, der mit Arp bekannt war, wurde der Kontakt mit den französischen Surrealist:innen hergestellt. Breton hat Ernst 1921 eingeladen, um ihm seine Werke in einer Pariser Galerie zu zeigen. Seine Mitstreiter waren begeistert von den eintreffenden Collagen. Der Eindruck, den Ernsts Arbeiten hinterließen, war nachhaltig prägend für die Entwicklung der Ästhetik und Praxis der Surrealist:innen (vgl. Soupault 2018: 57, Lange 2005: 129, 133 und Spies 2008a: 294, 296). Breton hält in seinem 1943 veröffentlichten Essay zur Genesis und künstlerischen Perspektiven des Surrealismus rückblickend fest:
Tatsächlich hat der Surrealismus seine unmittelbare Bestätigung in seinen [Ernsts] Collagen von 1920 gefunden, in denen sich eine völlig neue Auffassung der anschaulichen Ordnung niederschlägt, die dennoch dem entspricht, was schon Lautréamont und Rimbaud in der Dichtung gewollt haben.
(Breton 1976: 409; vgl. hierzu auch Wix 1990: 56)
Konkret faszinierte sie der in Ernsts Bildern entwickelte Umgang mit der De- und Neukontextualisierung von Objekten, also die bereits besprochene Verfremdung, die hier in visueller Form manifestiert wurde. Breton dazu weiter:
Der äußere Gegenstand hatte mit seiner Daseinsweise gebrochen, das ihm Wesentliche hatte sich gewissermaßen von ihm emanzipiert, um so mit anderen Dingen völlig neue Beziehungen eingehen zu können, wobei er zwar dem Prinzip der Wirklichkeit entfloh, was aber doch nicht ohne Folgen für dieses Wirkliche blieb; die totale Veränderung des Begriffs der Relation.
(Breton 1976: 409)
Hier wird noch einmal die Tragweite der Wirkung von Verfremdungen deutlich, die sich den Surrealist:innen durch die Collagen von Ernst offenbarte. Andersherum waren die Ideen des Surrealismus auch für Max Ernst bereichernd. Er übernahm den Anspruch eines gesellschaftlichen Bewusstseinswandels mittels der Erforschung
eines neuen, ungleich weiteren Erfahrungsgebiets, in welchem die Grenzen zwischen der sogenannten Innenwelt und der Außenwelt (nach der klassisch-philosophischen Vorstellung) sich mehr und mehr verwischen und wahrscheinlich eines Tages […] völlig verschwinden werden.
(Ernst 1989: 25)
Diese Erforschung, für die es für den Künstler keine erprobten Richtlinien gab, implizierte die Befreiung des Intellekts „aus dem trügerischen und langweiligen Paradies der fixen Erinnerungen“ und sei eine „Sache des Muts oder befreiender Verfahren“ (Ernst 1989: 25).
Ernst deutete das literarische Verfahren des automatischen Schreibens für seine Bildkunst um und sprach von einem ‚visuellen Zwang‘, der die bewusste Kontrolle aussetzen lässt, ihn gefangen nimmt und führt. Auf der anderen Seite verglich Breton das automatische Schreiben mit den Collagen Ernsts, da in beiden Fällen eine Abgabe von Kontrolle an das Material (Bilder bzw. Wörter) erfolgt, die den Zugang zum unbewussten Automatismus erleichtert (vgl. Möbius 2000: 183 und Spies 2008a: 303). Max Ernst treibt diese Überlegungen 1936 in seinem Essay Jenseits der Malerei noch weiter, indem er formuliert: „Wer Collage sagt, meint das Irrationale.“ (Ernst 1976: 333; vgl. auch Möbius 2000: 185).
Vor dem 20. Jahrhundert waren Collagen (franz. ‚coller‘: kleben, von griech. ‚kólla‘: Leim) vor allem Teil etablierter ästhetischer Alltags- und Festpraktiken (bspw. Kinderspiele, Dekoration etc.). Ab 1900 entdeckte die Avantgarde die Technik der Neu-Kombination aus bestehendem Material und Objekten für sich, entwickelte sie in verschiedene Richtungen weiter (z.B. Montage) und machte sie zu einem materialisierten Angriff auf die Ideale der akademischen und bürgerlichen Kunst, in deren Zentrum der / die Künstler:in als Schöpfer:in, die handwerkliche Befähigung und das Kunstwerk als Sinneinheit stehen. Der Begriff ‚Collage‘ wird vornehmlich für Bildkunst und Musik verwendet. Allerdings ist der Sprachgebrauch international uneinheitlich, so dass der Begriff, bezogen auf dieselbe Grundoperation, je nach Verwendungskontext verschiedene Techniken und Reflexionszustände bezeichnet (vgl. Möbius 2009: 65 und Spies 2008: 25). Max Ernst begann seine Auseinandersetzung mit der Collage 1919 in Köln. Sie wurde zur tragenden Technik seines Schaffens, wobei ein herausstechendes Merkmal war, dass seine Collagen häufig kaum als solche identifizierbar waren, da er den Herstellungsprozess kaschierte. Eine Variante der Collage, mit der Max Ernst früh experimentierte und die er ab 1929 in seinen Collageromanen verwendete, basierte auf Holzstichen des 19. Jahrhunderts, einem bis zur Verbreitung der Fotografie im ausgehenden 19. Jahrhundert bevorzugten Mittel zur Gestaltung und Illustration, welches jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als sehr unmodern oder auch trivial empfunden wurde (vgl. Spies 2008a: 23f., 359, 448f.).
4. La femme 100 têtes: Entstehung und Inhalt des Collageromans
La femme 100 têtes ist der erste von drei Collageromanen, die Max Ernst veröffentlichte. Die Bezeichnung ‚Roman‘ – und damit das Gattungssignal für diesen Buchtypus – legte Max Ernst erst beim letzten seiner Collageromane und rückwirkend für die beiden vorangegangenen fest (vgl. Spies 2008a: 453). Das Buch erschien 1929 und umfasst 146 Collagen (durch die doppelte Verwendung einer Collage sind es insgesamt 147 Blätter) mit Bildlegenden. Ernst fertigte die von Anfang an als Zyklus gedachten Collagen während eines mehrwöchigen Aufenthalts im Landhaus seiner Schwiegereltern in Le Fex de Vesseaux an. Beim Ausgangsmaterial handelt es sich um Illustrationen, vorwiegend Holzstiche, die er Trivialromanen und Roman-Feuilletons, Zeitschriften und Galerieführern des späten 19. Jahrhunderts entnommen hatte. Für die Publikation wurden die Collagen fotomechanisch abgelichtet, wodurch sie rein technisch nicht mehr als Collagen erkennbar sind. Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert und endet mit der gleichen Collage, die den Anfang bildet, doch darüber hinaus lassen sich kaum Regelmäßigkeiten oder eine narrative Struktur der Bildabfolge erkennen. Wiederkehrende Motive und Konstellationen geben zwar eine Orientierung, doch lassen sich daraus keine eindeutigen Erzählverläufe oder Sinnzusammenhänge rekonstruieren. Auch die einzelnen Collagen geben mehr Rätsel auf, als sie lösen. Werner Spies spricht diesbezüglich von einer „elementaren Unausdeutbarkeit“ (Spies 2008a: 450; vgl. außerdem ebd.: 455f. sowie Lange 2005: 138).
Die Bildlegenden, häufig nur ein kurzer Satzabschnitt, bewirken zwar teilweise eine Gruppierung der Collagen, verfolgen aber kein durchgängiges Narrativ. Sie sind vielmehr eine „Abfolge sprunghafter Verweise von Elementen einzelner Bilder“ oder stehen sogar in einer „partielle[n] Differenz“ zu ihnen (Möbius 2000: 188), wodurch sie, so befand es bereits Aragon, weniger zu einer Entschlüsselung und mehr zu einer Verrätselung der Collagen beitragen (vgl. Möbius 2000: 186). Für die Beurteilung des Verhältnisses von Bild und Text ist es wichtig zu erwähnen, dass Ernst während der Herstellung seiner Collagensuite gar nicht beabsichtigt hatte, Bildlegenden beizufügen. Erst nach seiner Rückkehr aus Le Fex de Vesseaux gab er auf Drängen von Breton den einzelnen Collagen, deren Reihenfolge zu diesem Zeitpunkt bereits festgelegt war, Unterschriften (vgl. Spies 2008a: 456). Dieser Umstand ändert zwar nichts daran, dass Text-Bild-Relationen, Assoziationen und Dissonanzen von Ernst in der endgültigen Version zusammen gedacht wurden, doch bin ich der Ansicht, dass ein Zyklus, der ausschließlich von der Bildsprache ausgeht, völlig anders konzipiert wird als eine Bild-Text-Narration. Daher sehe ich den einseitigen Ansatz einiger Autor:innen, bei der Rezeption von La femme 100 têtes von einer sich gegenseitig bedingenden Einheit von Bild und Bildlegende auszugehen, durchaus kritisch. Diese drängt sich eher bei Ernsts zweitem Collageroman auf, der von Anfang an mit Bildtexten konzipiert wurde (vgl. Spies 2008a: 457).
Die sprachliche Mehrdeutigkeit, die Max Ernst schon im Titel La femme 100 têtes anlegte (mit der französischen Aussprache des Titels kann im weitesten Sinne die ‚hundertköpfige‘, ‚kopflose‘, ‚blutsaugende‘ oder ‚starrsinnige‘ Frau gemeint sein), zieht sich durch den ganzen Collageroman und verdeutlicht sein Interesse an den sprachtheoretischen Fragestellungen seiner Zeit und deren surrealistischer Aneignung (vgl. Wix 1990: 53, 56 und Spiteri 2004: 14). Inhaltlich speisen sich die Collagen-Texte aus verschiedensten, divers kombinierten Referenzen aus Literatur, Mythen und Wissenschaft sowie Hinweisen auf antike, christliche und moderne Kultur. Wichtige Themen sind die Beziehungen und die Rollenbilder von Mann und Frau im Spannungsfeld zwischen Erotik, Liebe, Tod und Zerstörung. Als männlicher Repräsentant tritt mitunter „Loplop“ oder der „Vogelobre Hornebom“ auf – ein vogelähnliches Wesen, das Max Ernst in seinem Werk immer wieder als Alter Ego verwendete (vgl. Spies 2008b: 195–218). Wiederkehrende weibliche Figuren sind „Germinal, meine schwester, die Hundertköpfige Frau “, „Wirrwar, meine schwester, die Hundertköpfige Frau“, „die Schöne Gärtnerin“, „die Hundertköpfige“ und die „Femme 100 têtes“ (Ernst 1975, unpag., Groß- und Kleinschreibung wie im Orig.). Hinzu kommen autobiographische Bezüge sowie eine wiederkehrende Symbolik von Blindheit und Sehvermögen (Ei, Auge, verletzte und verdeckte Augen, Räder, Sphären), die in Zusammenhang mit den Theorien Freuds (Kastrationsangst und Ödipuskomplex) bzw. Anspielungen auf poetische Offenbarung gebracht werden können (vgl. Spies 2008b: 59–65, Wix 1990: 52 und Spiteri 2004: 12, 14).
5. Vorwort Anweisung für den Leser von André Breton
Die Uneindeutigkeit, die den Collageroman auszeichnet, bestimmt auch das von Breton verfasste Vorwort. Eine präzise Inhaltsangabe des Textes ist kaum möglich, da der Text sehr poetisch und mehrdeutig verfasst ist. Ich werde daher einen kurzen Überblick über die wichtigsten Aspekte und Passagen geben, bei dem es mir unmöglich sein wird, nicht zu interpretieren.
Zunächst stellt Breton einen Bezug zum Ausgangsmaterial der Collagen her: Bei der Lektüre von illustrierten Volks- und Kinderbüchern werde bei den Rezipierenden etwas angesprochen, das man als Fantasie oder schlichte Imaginations- und Begeisterungsfähigkeit beschreiben könne. Mit „fortschreitende[r] erkenntnis“ (Breton 1975, unpag.) geht laut Breton dieser unbescholtene Zugang verloren, und die Bücher verlieren ihren Reiz, doch die Erinnerung an und die stark nachwirkende Prägung durch diese Lektüreerfahrungen bleiben erhalten. Es scheint, als würde sich Breton mit dem Verweis auf die illustrierten Romane generell auf den unbewussten Bereich der fantastischen Träume und Wünsche beziehen, der zwar in der Kindheit selbstverständlich angesprochen und gefördert wird, aber in der modernen und rationalen Gesellschaft der Erwachsenen keinen Platz bekommt. Dennoch lebt er laut Breton in allen Menschen als Prägung und Potenzial weiter. Fast beiläufig schreibt er, dass sich dieses Potenzial „am tage der revolution“ (Breton 1975, unpag.) – möglicherweise meint er den von den Surrealist:innen angestrebten Geisteswandel – Geltung verschaffen werde. Anschließend beschreibt er die bereits angesprochene Schwierigkeit, sich dem Unbewussten bzw. in seinen Worten: den „höchst suggestiven bewegungen beseelter oder nicht beseelter wesen“ (Breton 1975, unpag.) mit künstlerischen Mitteln anzunähern. Nach diesem hier sehr verkürzt besprochenen Abschnitt widmet sich Breton dem Collageroman, den er als „kunstvolle[s] gitterwerk“ (Breton 1975, unpag.) beschreibt, das als visuelle künstlerische Annäherung an das Unbewusste alternativlos erscheint. Dieses Gitterwerk aus Collagenelementen, die ihrem Kontext enthoben wurden, stellt Breton zufolge eine „anzahl so irreführender mutmaßungen dar, daß sie kostbar werden“, und drückt eine Erregung aus, „die um so außergewöhnlicher ist als uns ihr vorwand verborgen bleibt“ (Breton 1975, unpag.). Dann geht er auf die Beschaffenheit der Collagen ein und schreibt:
Es findet sich kein element in ihnen [den Seiten des Romans], das nicht im entscheidenden sinne zufällig wäre und das man, ohne den dehnbaren begriff der wahrscheinlichkeit zu verletzen, nicht für ganz andere absichten verwenden dürfte.
(Breton 1975, unpag.)
Damit umschreibt Breton meiner Ansicht nach nicht nur den bei der gegebenen Zusammenstellung der Elemente in den Collagen wirksamen Zufall, sondern auch den Bruch mit einer konventionellen, an einem chronologischen Erzählverlauf orientierten Rezeptionshaltung. Dies führt er in der folgenden Passage aus, in welcher deutlich wird, dass die Rezeption der Collagen und des ganzen Romans nicht entsprechend eines vorgegebenen Ablaufs erfolgt. Vielmehr erzeugt das Unbewusste jedes Individuums eine Ordnung, die es durch das Buch leitet. Breton spricht hier von einer „wunderbare[n] ordonnanz, die die seiten überspringt“ (Breton 1975, unpag., Herv. im Orig.). In diesem Zusammenhang beschreibt er den dem Unbewussten folgenden Weg zu der „jede[m] von uns eigentümliche[n] wahrheit“ als ein „patience-spiel“ (Breton 1975, unpag.), bei dem eine Intuition für das Wichtige und Unwichtige entwickelt werden könne. Auf den letzten beiden Seiten führt Breton aus, dass Max Ernst erfolgreich die Technik der Verfremdung, „die hauptfunktion aller surrealität“ (Breton 1975, unpag.), verwendet habe, um das Unbewusste ansprechen zu können. Zudem erklärt er in einigen Einschüben, worum es sich dabei seiner Meinung nach technisch handelt und wie die Überwindung moralischer Konventionen und anerkannter Naturgesetze die Türen für transzendente Eigenschaften der Dinge und andere mögliche Welten öffnet, also die Grundlagen der surrealistischen Lebens- und Weltauffassung. Max Ernst, als Autor des Collageromans, wird von ihm zuletzt als fortschrittlicher Künstler und kühner Visionär beschrieben, der die überholten malerischen (Form-)Problemstellungen und Traditionen hinter sich lässt und sich stattdessen dem surrealistischen Geisteswandel verschreibt. Der Collageroman wird laut Breton „par excellence das bilderbuch unserer zeit sein“, das die „idee des fortschritts, für einmal voll glück und ungeduld mit kinderaugen sehen zu können“, in greifbare Nähe holt (Breton 1975, unpag., Herv. im Orig.). Damit beschließt er sein Vorwort durch einen Verweis auf den Anfang des Textes.
6. Analyse und Interpretation des Vorworts und seiner Beziehung zum Collageroman anhand der Ausarbeitungen zu Vorworttypen und -funktionen von Gérard Genette
Ein Paratext ist Genette zufolge „jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.“ (Genette 1992: 10) Empirisch bestehen Paratexte aus einer „vielgestaltigen Menge von Praktiken und Diskursen“ (ebd.), die zwischen Text und Kontext eine Zone der Transaktion schaffen und den Text einrahmen (ich verwende für das bessere Verständnis den Begriff ‚Primärtext‘). Das Vorwort ist ein spezifischer Typ des Paratextes. Dabei können Form, Ort, Zeitpunkt der Entstehung, Autor:in (Genette spricht von ‚Adressant‘) und Adressat:innen eines Vorwortes variieren. Der Bestimmung des / der Adressant:in kommt in Bezug auf den Typ und die Funktion eines Vorwortes eine besondere Bedeutung zu. Diese wird von Genette detailliert ausgeführt: Er unterscheidet zwischen Rolle und Grad, wobei der / die Adressant:in eine auktoriale Rolle (angebliche:r oder tatsächliche:r Verfasser:in des Primärtextes), eine aktoriale Rolle (etwa als Figur der Handlung) oder eine allographe Rolle (in Form einer dritten Person) einnehmen kann. Graduell zu unterscheiden ist ferner zwischen der bestätigten Autorenschaft einer realen Person (authentisch), einer angezweifelten Autorenschaft einer realen Person (apokryph) oder einer fiktiven Autorenschaft (vgl. Genette 1992: 173). Genette benennt verschiedene Funktionen, die Originalvorworte (also Vorworte, die an die Erscheinung von Primärtexten gebunden sind) und andere Typen von Vorworten (etwa nachträgliche Vorworte) erfüllen.
An diesem Punkt nehme ich eine erste Bestimmung vor: Bei der Anweisung für den Leser handelt es sich um einen Prosadiskurs, den laut Genette „häufigste[n] formale[n] (und modale[n]) Status“ eines Vorwortes (Genette 1992: 166). Es ist dem Collageroman vorangestellt und wurde zusammen mit dem Collageroman erstveröffentlicht (das Jahr 1929 wurde am Ende des Textes von Breton vermerkt und wird auch im Text erwähnt). Es handelt sich also um ein Originalvorwort. Die Adressat:innen sind, wie es der Titel schon ankündigt, schlicht die Leser:innen des Collageromans. Auch die Bestimmung des Autors / Adressanten ist eindeutig, da Breton den Text mit seinem Klarnamen unterschrieben hat. Es handelt sich bei Anweisung für den Leser demnach um ein allographes und authentisches Originalvorwort.
Der Funktionstyp dieses Vorworts entspricht laut Genette in etwa dem des auktorialen Originalvorworts und dessen Zweck, „die Lektüre zu fördern und zu lenken“ (Genette 1992: 253; vgl. außerdem ebd.: 157–189). Aus Gründen der Übersichtlichkeit werde ich im Folgenden die Darstellung der hier relevanten Funktionen auktorialer und allographer Originalvorworte (vgl. Genette 1992: 192–227) und die Analyse des Textes von Breton direkt verbinden. Genette unterscheidet zwischen Aufwertungsfunktionen (‚warum zu lesen sei‘) und Informationsfunktionen (‚wie zu lesen sei‘). Die Besonderheit der allographen Originalvorworte liegt in der Perspektive der Funktionen: Die Aufwertung wird zur Empfehlung, und die Information wird zur Präsentation. Aspekte der Aufwertung, die in einem Vorwort zum Tragen kommen können, sind beispielsweise Hinweise auf die Bedeutung eines Themas (Nützlichkeit, Neuheit, Tradition) sowie auf die Einheit und Wahrhaftigkeit eines Primärtextes (vgl. Genette 1992: 193–201). Die Darstellung der Bedeutung des Werkes ist wohl eine der Hauptfunktionen, die im Vorwort von Breton deutlich wird. Einerseits hebt er Aspekte hervor, die den Collageroman als einen Fortschritt in der Kunst- und Literaturtradition auszeichnen, andererseits betont er die gesellschaftliche Dringlichkeit der Sache, also die surrealistische Revolution, in deren Dienst sich der Roman laut Breton stellt. Seine Beteuerung dessen spitzt er in der Formulierung „bilderbuch unserer zeit“ (Breton 1975, unpag.) zu. Die Betonung der Einheit eines Werkes dient laut Genette eigentlich der Aufwertung von Sammlungen von Gedichten, Novellen, Essays etc. und soll einem scheinbar chaotischen Sammelsurium einen roten Faden geben. Diese Funktion findet sich ebenfalls im Vorwort von Breton, wenn auch eher indirekt, indem er das Wesensmerkmal des Romans, den Zufall, und das der Rezeption, die „wunderbare ordonnanz“ (Breton 1975, unpag.), herausstellt und damit das Fehlen einer vorgegebenen Einheit zum vereinheitlichenden Prinzip der Collagen erklärt. Mit der Wahrhaftigkeitsbekundung bezeichnet Genette Versicherungen über die reale Entsprechung eines Textinhalts bzw. die Aufrichtigkeit des Unterfangens. Hier bietet das Vorwort Bretons eine interessante Abwandlung der Funktion, denn es lässt nicht nur keinen Zweifel an der Richtigkeit der dargestellten Wahrnehmungsweise der Gesellschaft und der Wesenszüge des Menschen, sondern reklamiert sogar eine tiefer gehende Wahrhaftigkeit für sich – eine Surrealität.
Unter die Informationsfunktionen eines Vorwortes fallen u.a. Angaben über die Entstehung eines Textes, das angesprochene Publikum, den Titel, die Reihenfolge der Lektüre und die Absicht eines Autors oder einer Autorin. Aspekte, die die Entstehung eines Textes betreffen, sind für Genette mögliche Beweggründe für die Erstellung eines Textes, die Umstände und Etappen der Niederschrift sowie mögliche Quellen eines Textes. Zu all diesen Aspekten lassen sich im Vorwort Bretons umschreibende Angaben finden. Er macht deutlich, dass La femme 100 têtes von Anfang an im Hinblick auf die inhaltliche Motivation und technische Umsetzung an dem von den Surrealist:innen entwickelten Programm ausgerichtet war und dass es eine gemeinsame Idee des Fortschritts gibt, die sich im Roman manifestiert. Die besondere charakterliche Eignung Max Ernsts für die Herstellung eines solchen Werkes, die gleichzeitig eine Erklärung für eine mögliche persönliche Motivation von Ernst beinhaltet, liefert Breton durch die Beschreibung von Ernst als Autor, der „die kraft besaß, über den abgrund zu springen“, der das „wunderbar-besessene gehirn ist, dem es auf eine kleine beunruhigung mehr oder weniger nicht ankommt“, und der weiß, dass, im übertragenden Sinne, „die arche neu gebaut werden muß“ (Breton 1975, unpag.). Max Ernst ist laut Breton also nicht nur durch seine Fähigkeiten dazu berufen, einen surrealistischen Collageroman zu schaffen, sondern hat auch selbst die Dringlichkeit dieses Unterfangens erkannt.
Über die Quellen des Collageromans gibt Breton ebenfalls andeutungsweise Auskunft, indem er die illustrierten Roman-Feuilletons anspricht. Es ist anzunehmen, dass die Art der Holzschnitte und damit die Quellen der Collagen den damaligen Leser:innen vertraut waren, so dass sie die Andeutungen Bretons verstehen konnten. Zum anvisierten Publikum gibt Breton am Anfang zwei Hinweise. Einerseits spricht er von denjenigen, die schon „alles gelesen haben“ (Breton 1975, unpag.) und so in besonderer Weise von illustrierten Romanen angerührt werden, andererseits thematisiert er das Potenzial der Seele, die in allen Menschen wohnt, womit im Grunde niemand von der Lektüre ausgeschlossen wird. Einen Kommentar zur Bedeutung des Titels, wie er in praktisch jeder Analyse zum Collageroman ausgeführt wird, sucht man im Vorwort vergeblich. Einzig der letzte Satz stellt einen – allerdings poetisch-offenen – Bezug her: „während zu ihrer und zu unserer verwunderung die schwarze spitzenmaske fällt, welche die hundert ersten gesichter der fee verdeckte“ (Breton 1975, unpag.). Bezüglich der Reihenfolge der Lektüre kann auf das weiter oben erläuterte Prinzip der fehlenden Einheit und deren rezeptionsästhetische Konsequenz, die ‚wunderbare Ordonnanz‘, verwiesen werden. In Bretons Vergleich der „jede[m] von uns eigentümliche[n] wahrheit“ mit einem „patience-spiel“ (Breton 1975, unpag.) schwingt sowohl eine Anspielung auf die Geduld (patience) als auch auf das gleichnamige Kartenspiel mit, welches in der Regel allein gespielt wird. Der Vergleich kann somit auch als Hinweis auf die selektive Wahrheitsfindung und die jeweils individuelle ‚Reihenfolge‘ für die Leser:innen gedeutet werden. Der letzte Punkt, die Absichtserklärung, also die Darstellung einer vom / von der Autor:in entwickelten Theorie, die den Schlüssel zur Interpretation des Primärtextes bildet, ist zusammen mit der Darstellung der Bedeutung das Hauptanliegen von Bretons Vorwort. Durch die mehrfache Verwendung des Pronomens ‚wir‘ und die Textstruktur, die Rezension, Visionen und theoretische Darstellung untrennbar verwebt, stellt Breton einen Konsens über die von ihm, dem theoretischen Kopf der Bewegung, dargestellte surrealistische Lesart des Buches her. Bretons Gattungsdefinition als ‚Bilderbuch unserer Zeit‘ kann als Variation einer Absichtserklärung verstanden werden, insofern sie die Sprengung von Konventionen hervorhebt. Die plurimediale Neuheit des Buches schwingt bis heute im Begriff des ‚Collageromans‘ mit (zum Begriff der Plurimedialität vgl. Wolf 2014).
Nach Genette entspricht die hier ausgeprägte Funktion der Absichtserklärung einem ‚Manifest-Vorwort‘, das sich „für eine Sache einsetzten [kann], die über die literarische Gattung hinausgeht“ (Genette 1992: 221). Dabei kann es mitunter zu einer Aneignung oder Vereinnahmung durch Dritte kommen:
Es kommt auch vor, daß sich der Vorwortverfasser […] nahezu ‚alles erlauben‘ darf, die Umstände nutzt und das angebliche Objekt seines Diskurses zugunsten einer umfassenderen oder eventuell auch ganz anderen Sache hinter sich lässt. Das Werk […] wird dann zum bloßen Vorwand für ein Manifest, eine vertrauliche Abrechnung oder eine Abschweifung.
(Genette 1992: 259)
Die Stellung Bretons in der surrealistischen Bewegung legt nahe, dass er einen solchen ‚Freifahrtschein‘ besaß, und es ist nach meiner Analyse offensichtlich, dass er das Vorwort nutzte, um seine persönlichen Ansichten darzulegen. Allerdings ist auch anzunehmen, dass Max Ernsts Anliegen grundsätzlich im Einklang mit den Ausführungen Bretons stand und dass eine gegenseitige Legitimation von literarischem Vorwort und bildkünstlerischem Collageroman in seinem Interesse war.
7. Schlusswort
Das Vorwort Anweisung für den Leser vermittelt, anders als man es durch den Titel möglicherweise erwarten mag, nicht nur Anweisungen, die die Lektüre des Collageromans lenken. Es öffnet den Blick der Leser:innen für die surrealistische Auffassung vom Menschen und der wahrnehmbaren Welt(en) und gliedert den Roman damit in einen größeren Kontext ein.
Das Vorwort hat einige weitere Funktionen, die über eine ‚Anweisung‘ hinausgehen. Die Empfehlungsfunktion zeigt sich im Vorwort besonders durch die Herausstellung der Bedeutung des Romans. Indem Breton den Zweck surrealistischer Techniken und die Dringlichkeit des Themas (surrealistische Revolution) darlegt, deren Vermittlung in den Collagen laut Breton gelingt, und indem er die künstlerische Kühnheit von Max Ernst lobt, maximiert er die Bedeutung des Collageromans. In dieser Leseempfehlung ist die Begeisterung spürbar, die Breton seit der ersten Sichtung der Collagen von Max Ernst 1921 ergriff, aber damit auch seine Überzeugung, dass Ernst die visuelle Umsetzung des literarischen Surrealismus bestätige. Darin deutet sich ein weiteres Ergebnis dieser Arbeit an, nämlich dass die zweite große Funktion des Vorworts in der Absichtserklärung liegt. Durch die Erläuterung theoretischer Aspekte wird Bretons Vorstellung des Surrealismus zum Schlüssel der Interpretation von Ernsts Roman und gewinnt darüber hinaus einen Manifest-Charakter. Dass Breton sich dazu teilweise einer deutungsoffenen und poetischen Sprache bedient, dient vor allem der eigenen surrealistischen Agenda, was sich wiederum durch eine künstlerische Aufwertung auf die Rezeption des Collagenromans auswirkt.
Die Analyse hat zudem auch in eine andere Richtung Erkenntnisse hervorgebracht, nämlich bezüglich der Funktionen, die das Vorwort nicht erfüllt. Wie bereits festgestellt wurde, beinhaltet es kaum klare Anweisungen für die Rezeption, sondern vermittelt diese über Umwege und ‚zwischen den Zeilen‘ durch eine Interpretation der Leser:innen. Statt etwa die Theorien Freuds explizit anzusprechen, schreibt Breton von dem Wunsch „voll glück und ungeduld mit kinderaugen sehen zu können“ (Breton 1975, unpag.), der, betrachtet man die oft düsteren und teilweise anrüchigen Collagen, etwas fehl am Platz wirkt. Andererseits schwingt der mit der Kindheit verbundene fantastische Charakter, der in den Ausführungen zum Unbewussten bei Breton anklingt, durch die Verwendung von Holzstichen aus illustrierten (Abenteuer-)Romanen auch in den Collagen mit.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dem Vorwort als einzigem sinnhaft zusammenhängenden Text des Buches und durch seinen poetisch-beschwörenden Stil, aber auch durch seinen Autor, ein besonderes Gewicht zukommt, das zum Erfolg des Collageromans beigetragen hat und dem Surrealismus ein weiteres ‚Manifest‘ bescherte.