Textdynamiken der Neueren deutschen Literatur Im Spannungsfeld von Archiv, Schrift und Intermedialität
Ein wichtiger Baustein der Germanistischen Institutspartnerschaft zwischen Krakau und Leipzig ist der Lehr- und Lernaustausch. Die globale Pandemie stellt diesen Austausch vor erhebliche Herausforderungen; zugleich bieten sich durch die gestiegene Nutzung und Akzeptanz digitaler Instrumente neue Möglichkeiten für die Internationalisierung der Lehre und den Austausch von Dozierenden und Studierenden verschiedener Länder. Im Bereich der Literaturwissenschaft wurden zwei regulär im Curriculum verankerte Seminare am jeweiligen Standort um gemeinsame Werkstätten ergänzt. Unter der Leitung von Prof. Dr. Katarzyna Jaśtal, Dr. Stephanie Bremerich und Dr. Paweł Zarychta kamen im Mai 2021 Studierende und Lehrende aus Krakau und Leipzig in zwei digitalen Blocksitzungen live zusammen. Textdynamiken, das meinte hier auch: Dynamiken des Lehr- und Lerndialogs.
Im Fokus des literaturwissenschaftlichen Team-Teachings standen Textdynamiken der Schrift im Spannungsfeld von editionsphilologischen, archivarischen und intermedialen Dimensionen.
Die erste Werkstatt am 15. Mai wurde von Prof. Dr. Katarzyna Jaśtal und Dr. Paweł Zarychta geleitet.
Sich auf seine bisherige Beschäftigung vor allem mit den deutschsprachigen Archivalien in den Beständen der Jagiellonen-Bibliothek stützend, ging Paweł Zarychta auf die in Krakau befindliche Sammlung Varnhagen ein, um einen Versuch zu unternehmen, diese Kollektion als Text zu interpretieren und auf dessen mögliche Dynamiken hinzuweisen. Ausgegangen wurde dabei zunächst von der These Ulrich von Bülows, dass Nachlässe eine Art Kosmos darstellen, der von diversen inneren und äußeren Kräften geformt und beeinflusst wird. Wenn sie oft auch im Zustand der Latenz bleiben, gilt es diese aufzudecken und zu interpretieren. Archive und Nachlässe werden dabei einerseits als individuelles Funktionsgedächtnis, andererseits als Texte verstanden, denen eine komplexe Semantik innewohnt, die sich aus diversen Gesichtspunkten beleuchten und verfolgen lässt. Nach der kursorischen Besprechung dieser theoretischen Aspekte stellte Zarychta zunächst die Geschichte der Sammlung Varnhagen und deren Weg von Berlin nach Krakau vor, um dann in den weiteren Teilen des Workshops auf diverse in Frage kommende Dimensionen der (Text-)Dynamik mit Blick auf die Sammlung Varnhagen hinzuweisen. So wurden z. B. die Dynamiken der Sammlungsformation, der darin festgehaltenen Individualnarrationen, der wissenschaftlichen Erforschung sowie, last but not least, die Dynamiken des handschriftlichen Materials anhand der ausgewählten Beispiele aus der Sammlung Varnhagen in den Beständen der Jagellonen-Bibliothek Krakau angesprochen, womit eine Brücke zu den Ausführungen Katarzyna Jaśtals geschlagen wurde. Dadurch konnte zumindest im Ansatz gezeigt werden, dass Nachlässe nicht zwangsläufig als passive Orte irgendwo in verstaubten Archiven, sondern als Quellen einer aktiven Wissensproduktion mit einer hohen Attraktivität für die Forschung erscheinen können.
Das Konzept des Textes als mehrschichtiges Gefüge, dessen Dynamik u.a. durch Überlagerung der einander potenzierenden bzw. widersprechenden sinntragenden Schichten in Gang gesetzt wird, war leitend für die von Katarzyna Jaśtal vorgenommene Darstellung von drei ausgewählten Korrespondenzen Heinrich von Kleists. Zunächst wurde das Phänomen „Brief-Handschrift“ im Sinne der aktuellen Materialitätsforschung als eine Mitteilungsform reflektiert, bei der die materiellen Aspekte nicht nur die Dynamik des realen Schreibprozesses selbst erkennen lassen, sondern vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher epistolarer Konventionen auch als sinntragend zu interpretieren sind. Am Beispiel eines Briefs Heinrich von Kleists an Achim von Arnim und zweier Briefe an seine Halbschwester Ulrike wurde gezeigt, wie die in bedeutungstragender Funktion eingesetzten materiellen (insbesondere brieftopographischen) Elemente die verbal deklarierte Schreibabsicht des Autors bestätigen, potenzieren bzw. unterlaufen, und somit, wie ein Brieftext unter der Hand eines Korrespondenten im 19. Jh. in Bewegung gerät.
In ihrer Arbeit Zu Dynamiken des Schreibens in den Korrespondenzen Ingeborg Bachmanns und Paul Celans anhand Paul Celans Brief vom 31.10.–1.11.1975 untersucht Maria Igolkina die Textdynamiken des im Titel genannten, komplexen Briefs, den sie als ein repräsentatives Beispiel der genannten Dichterkorrespondenz betrachtet. Igolkina analysiert die dynamische Verfasstheit des Textes, in dem die für Celan und Bachmann zentralen Aspekte des Sprechens, Schreibens und Schweigens eine besondere Kontur gewinnen. Indem sie sich auf die strukturellen Aspekte des Textes vor der Folie der epistolaren Konventionen konzentriert, zeigt sie, wie Celan das Thema der Reise, d.h. der Bewegung im Raum, mit einer Imagination des Textraumes verknüpft, in dem er sich durch Sprünge bewegt.
Im Beitrag „Als Liebesbriefwechsel nicht wahrnehmbar?“ Zwei Briefe Rahel Levin Varnhagens an Karl August Varnhagen wendet sich Justyna Bartyzel der Korrespondenz zwischen dem berühmten Berliner Intellektuellenpaar Varnhagen zu. An zwei ausgewählten Briefen von Rahel Levin Varnhagen an ihren (künftigen) Ehemann reflektiert Bartyzel die kontroverse Frage der Zuordnung der genannten Korrespondenz zur Gattung „Liebesbrief“. Sie konzentriert sich auf Passagen, in denen die Zuneigung der Korrespondentin zum Empfänger und ihre emotionale Bewegtheit während des Schreibprozesses artikuliert wurden, und untersucht einschlägige lexikalische und syntaktische Merkmale der Texte. Dabei stellt sie heraus, wie bestimmte textuelle Strategien von der Briefautorin fortgesetzt und modifiziert werden, womit den Lesern des Beitrags ein (partieller) Einblick in die Dynamik der genannten Korrespondenz gewährt wird.
In der zweiten Werkstatt am 29. Mai wies Stephanie Bremerich exemplarisch auf die Dynamiken zwischen sprachlichen und visuellen Zeichensystemen in der Avantgarde hin. In den Avantgardebewegungen sind literarische Verfahren (Montage, Collage, Intertextualität, Intermedialität) sowohl im Hinblick auf ihre poetologischen Grundlagen (Innovationsanspruch, Sprengung von Gattungsgrenzen und Formtraditionen, Verbindung von Kunst und Lebenspraxis) als auch auf deren texttheoretische Konsequenzen (Erweiterung des Textbegriffes) zu befragen. Anhand von Unica Zürns Haus der Krankheiten (1958), einem in der Tradition des Surrealismus stehenden hybriden Text, in dem sich Handschrift und Handzeichnung kongenial gegenüberstehen und in dem die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, Traum und Wirklichkeit verschwimmen, wurden intermediale Spannungen zwischen Bild und Text diskutiert .
In Der Schlaf der Vernunft gebiert Abenteuer wendet sich Maraike Katharina Szesny dem ebenso rätselhaften wie faszinierenden Collageroman La femme 100 têtes (1929) von Max Ernst zu. Von besonderem Interesse ist André Bretons vorgeschaltete Anweisung für den Leser – ein programmatischer Text des Surrealismus, der von der Forschung bislang wenig beachtet wurde. Szesny begegnet diesem Desiderat, indem sie die Dynamiken zwischen Text und Paratext aufzeigt. Die Spannungen zwischen den Bildcollagen in La femme 100 têtes und Bretons Vorwort untersucht sie sowohl unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten (Lektürelenkung) als auch im Hinblick auf poetologische: Bretons Anweisung weise nicht nur deutlichen „Manifest-Charakter“ auf, sondern sei „Schlüssel der Interpretation von Ernsts Roman“.
Jan König wendet sich in seinem Beitrag einer wichtigen deutschen Dadaistin zu. In Der Garten der Hannah Höch als Teil eines künstlerischen und persönlichen Netzwerks am Beispiel des Briefaquarells ‚Selbst im Garten‘ setzt er die Technik des Collagierens in Bezug zum Garten Höchs, der während der Zeit des Nationalsozialismus und der damit verbundenen Isolation ebenso Refugium wie künstlerische Inspirationsquelle für die Künstlerin war. „Die Verflechtung von Höchs gärtnerischer Tätigkeit mit persönlichen Erlebnissen, politischen Ereignissen und ihrem künstlerischen Wirken“ rückt König als eine besondere Form der Textdynamik in den Blick, wie er anhand eines Briefaquarells, in dem sich Bild- und Textelemente verbinden, herausarbeitet.