Semantische Verschiebungen ausgewählter Komposita im Zuge der SARS-CoV-2 Pandemie und Textdynamik Am Beispiel eines Instagram-Beitrages
1. Einleitung
Covid-19 hat unseren Alltag und unsere Gesellschaft stark verändert. Im Zuge der Pandemie werden jedoch auch sprachliche Veränderungen erkennbar: Es werden neue Wörter gebildet, aus anderen Sprachen entlehnt oder bekannte Wörter erhalten neue Bedeutungen (vgl. Menden 2020). Dies zeigt, dass Sprache uns Menschen zur Kommunikation und zum Informationsaustausch dient: Wandelt sich unsere Umwelt, muss der Wortschatz und -gebrauch angepasst werden, damit man sich darüber austauschen kann.
Besonders in den sozialen Medien spiegelt sich dieses Phänomen wider, da hier Menschen aus verschiedenen Ländern, mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und mit individuellen Sprachgewohnheiten aufeinandertreffen. Dadurch entsteht eine breite Plattform, welche eine große Varietät an Meinungen und sprachlichen Mitteln, aber auch die Möglichkeit zur Anonymität bietet. Viele Menschen informieren sich und kommunizieren über Plattformen wie Instagram, Facebook oder Twitter. Mit ihrer Allgegenwärtigkeit beeinflussen die sozialen Medien entscheidend u.a. die Prozesse der Wortbildung.
In dieser Arbeit möchten wir uns den semantischen Verschiebungen einiger ausgewählter Komposita in einem Instagram-Beitrag der „Tagesschau“ zum Thema Lockerungen für Geimpfte und Genesene vom 06.05.2021 [14][^ [14] Lockerungen für Geimpfte und Genesene. https://www.instagram.com/p/COh7mw2qN5O/ (Stand: 20.06.2021).] widmen. Wir haben uns für Instagram entschieden, da man dort die wichtigsten Nachrichten in einer prägnanten Form verfassen kann und fast jeder darauf Zugriff hat. Gerne werden nicht nur die dort erscheinenden Beiträge kommentiert, sondern es wird auch auf bereits vorhandene Kommentare reagiert. Dadurch ergibt sich ein von Alltagssprache geprägtes Sprachbild.
Zentral für diese Arbeit ist das Ziel, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, inwiefern bestimmte Komposita im Zuge gesellschaftlicher, durch die Covid-19-Pandemie verursachter Veränderungen neue Bedeutungen erlangen und welche neuen Assoziationen sich im Verlauf der Pandemie zeigen.
Als Erstes wird der Begriff Komposita und seine Bedeutung für die Sprache thematisiert. Daraufhin wird der Sprachwandel beschrieben, der theoretische Einblicke in das Phänomen der Bedeutungsänderungen gibt. Nachfolgend wird der Bedeutungswandel von vier Komposita – Ausgangssperre, Impfpflicht, Impfangebot und Zweiklassengesellschaft – analysiert, der sich durch die gesellschaftlichen Veränderungen infolge der Covid-19-Pandemie vollzogen hat. In welchem sprachlichen Kontext sie im betrachteten Beitrag stehen und was mit ihnen heutzutage assoziiert wird, schließt diesen Teil ab. Abschließend betrachten wir in den Kommentaren der Leser:innen zu dem Beitrag und in den Reaktionen darauf exemplarisch den Bedeutungswandel eines der Komposita und andere sprachliche und nicht sprachliche Ausdrucksmittel als Phänomene der Textdynamik.
2. Begriffsklärungen und zugrundeliegende Theorien
In diesem Kapitel werden die für unsere Arbeit relevanten Begriffe geklärt. Als erstes betrachten wir die Komposita und welche Bedeutung ihnen in der Sprache zukommt. Anschließend werden die Begriffe Bedeutung, Sprachwandel und Bedeutungswandel thematisiert, die samt den theoretischen Grundlagen Einblicke in die in unserer Arbeit zentralen semantischen Verschiebungen ausgewählter Komposita geben.
2.1 Komposita und ihre Bedeutung in der Sprache
Wenn sich unsere Gesellschaft verändert, entstehen neue Sachverhalte, Dinge usw. Um darüber kommunizieren zu können, bedarf es der Benennung dieser und dementsprechend der Bildung neuer Wörter. Mit diesen Prozessen, deren Regeln und deren Analysen, setzt sich die Wortbildung, neben der Flexion einer der Bereiche der Morphologie, auseinander (vgl. Elsen 2011: 7). Während sich die Flexion mit der grammatischen Anpassung von Wörtern in ihren Kontexten befasst, setzt sich die Wortbildung, wie oben bereits erwähnt, „mit der Bildung neuer Lemmata” (Lüdeling 2012: 79) auseinander. Es werden unter anderem die Wortbildungsarten Derivation, Konversion, Komposition und Kurzwort unterschieden (vgl. Hentschel 2020: 23–27).
Die Bausteine komplexer Wörter und den Gegenstand der Morphologie bilden Morpheme (vgl. Lüdeling 2012: 79–82), die als „kleinste bedeutungstragende Einheit” (ebd.: 82) definiert werden. Einerseits können Morpheme nach ihrer Funktion in lexikalische (Basismorphem) und grammatische Morpheme (Affix) eingeteilt werden (vgl. Hentschel 2020: 18–22). Basismorpheme bezeichnen etwas in der realen Welt, Affixe hingegen realisieren grammatische Regeln einer Sprache (vgl. ebd.). Andererseits können sie aber auch in ihrer Gebundenheit unterschieden werden, einige sind frei, sprich deren Morph / e kann / können allein stehen, was bei der anderen Art, den gebundenen Morphemen, nicht der Fall ist (vgl. Lüdeling 2012: 84).
Entsprechend dem Artikelthema befasst sich diese Arbeit zentral mit Komposita als Produkten der Komposition. Bei der Komposition werden zwei Basismorpheme zusammengefügt (vgl. Donalies 2014: 171). Diese Zusammensetzung der Morpheme unterliegt verschiedenen Prinzipien: Komposita besitzen in der Regel eine binäre Struktur, das heißt, sie setzen sich aus zwei Konstituenten zusammen (vgl. Wellmann 2017: 9). So kann das Wort Hauptbahnhof in die zwei Konstituenten haupt und bahnhof zerlegt werden, wobei das zweite wiederum eine binäre Struktur, gegliedert in bahn und hof, besitzt. Nach dem Letztgliedprinzip (vgl. Hentschel 2020: 28) bestimmt der am weitesten rechts stehende Bestandteil eines Kompositums, der morphologische Kopf, dessen grammatische Eigenschaften, wie Wortart und Genus (vgl. Lüdeling 2012: 86). In Komposita, die aus zwei Basismorphemen bestehen, wird die erste Komponente akzentuiert (vgl. Duden 2016: 50). Dies geschieht auf der Silbe, die betont wird, wenn das Morphem ungebunden / selbstständig vorkommt (vgl. ebd.). Kompositionen mit drei und mehr Konstituenten werden jedoch nach verschiedenen Prinzipien akzentuiert (vgl. ebd.). Betrachtet man beispielsweise das Kompositum Handtuch, übernimmt dieses von der rechts stehenden Konstituente tuch dessen Wortart Nomen und Genus Neutrum und die Betonung liegt auf dem ersten Glied hand. Eine weitere Besonderheit der Komposition, die Rekursivität, bezieht sich auf die Nominalkomposita (Morphem-Wortart Nomen) (vgl. Lüdeling 2012: 87). Diese besagt, dass theoretisch beliebig viele Basismorpheme zu einem Kompositum aneinandergereiht werden können. Diese Morpheme dürfen jedoch alle bloß nominal sein; wird ein zum Beispiel adjektivisches Basismorphem dem Kompositum zugefügt, bricht die Kette sozusagen ab bzw. das Kompositum kann nicht weiter verlängert werden (vgl. ebd.). Des Weiteren können Komposita Fugenelemente beinhalten, die als formale grammatische Einheit zwischen den lexikalischen Komponenten, die ein Kompositum bilden, gelten (vgl. Wellmann 2017: 56). Dabei markiert das Fugenelement die Grenze zwischen den zusammengesetzten Worten (vgl. ebd.: 51) und verstärkt darüber hinaus die Verschmelzung beider Konstituenten zu einem Wort (vgl. Coulmas 1988: 325). Jedoch enthalten die meisten Komposita kein Fugenelement (vgl. Lüdeling 2012: 87).
Komposita werden unter anderem nach der Art der zusammengesetzten Wortarten eingeteilt (vgl. Lüdeling 2012: 84f.). Sie können aber auch nach ihrer Bedeutungszusammensetzung bzw. -relation unterschieden werden in Determinativkomposita, Kopulativkomposita und Possessivkomposita (vgl. Hentschel 2020: 39–44).[^1 Auch andere Differenzierungen sind in wissenschaftlichen Quellen auffindbar. Vgl. auch die Diskussion in Hentschel (2020: 39–44).] Bei Determinativkomposita bestimmt das untergeordnete erste Glied („das Bestimmende“ – Determinans) das übergeordnete zweite („das Bestimmte“ – Determinatum / „das zu Bestimmende“, Determinandum) näher (vgl. ebd.: 39). Weitaus seltener sind im Deutschen sog. Kopulativkomposita, bei denen beide Komponenten des Kompositums gleichwertig sind und sich gegenseitig bestimmen (vgl. Hentschel 2020: 39–40). Die dritte, noch seltenere Art der Komposita, die Possessivkomposita, auch Bahuvrihi oder exozentrische Komposita genannt, deren Bedeutung außerhalb des Bereichs des Grundwortes liegt, bestehen zumeist aus einem Adjektiv oder Numerale und einem Nomen (vgl. ebd.: 44). Obwohl so ein exozentrisches Kompositum das gleiche Determinativverhältnis zwischen seinen Konstituenten wie ein Determinativkompositum aufweist (vgl. Olsen 2013), muss nach Hentschel (2020: 44) die Bedeutung der Possessivkomposita anders als bei endozentrischen, selbsterklärenden Komposita eigenständig von außerhalb hinzugedacht werden, da nur ein Teil genannt und damit dessen Ganzes beschrieben wird oder der Begriff mit dem benannten Objekt nur eine geringe semantische Überschneidung aufweist. Somit kann ein Possessivdeterminativ im Grunde als lexikalisierte Metonymie oder Metapher angesehen werden (vgl. ebd.).
2.2 Zum Begriff des Bedeutungswandels
Es ist schwierig, die Bedeutung des Wortes Bedeutung klar und eindeutig zu definieren (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 3). Die Definition hängt von mehreren Faktoren ab, z. B. vom Kontext, Diskurs, Alltagssprachgebrauch. Besonderes Augenmerk wird bei der Definition eines Wortes auf einen weiteren sinnbestimmenden Aspekt gelegt, nämlich auf seinen Anwendungsbereich (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 3; Schaff 1961: 713; Roelcke 2018: 184). Dies kann an einem Beispiel verdeutlicht werden: Die Synonyme bekommen und erhalten haben nicht den gleichen Anwendungsbereich und die gleiche Kollokabilität. Beispielsweise wird ein Baby erhalten nicht verwendet, sondern ein Baby bekommen. Ein anderes Beispiel sind Ausdrücke in verschiedenen Sprachen, die auf den ersten Blick dieselbe Bedeutung haben, sich aber durch den situativen Anwendungsbereich unterscheiden, wie span. adios oder poln. cześć und tschüss. Während adios und cześć auch als Begrüßung ausgesprochen werden können, ist dies bei tschüss nicht der Fall (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 4; [17]).
Keller und Kirschbaum (2003: 4–6) unterscheiden zwei Bedeutungsauffassungen. Entweder und in der Praxis am gebräuchlichsten kann man sich darauf konzentrieren, was ein bestimmter Ausdruck repräsentiert, z. B. Dinge, eine Menge von Dingen, Vorstellungen, Begriffe, Konzepte (repräsentatorische Bedeutungsauffassung). Oder die Bedeutung eines Ausdrucks ist das, wie es verwendet wird – in welchen Situationen und zu welchem Zweck (instrumentalische Bedeutungsauffassung). Um festzustellen, ob die Ausdrücke gleichbedeutend sind, werden ihre Gebrauchsweisen verglichen. Demnach ist „die Bedeutung eines Wortes […] die Regel seines Gebrauchs in der Sprache” (Keller / Kirschbaum 2003: 7).
Alle verwendeten Sprachen der Welt ändern sich schneller oder langsamer im Laufe der Zeit (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 7, 126; Duda 2014: 14; Siehr / Berner 2009: 16). Der Wandel betrifft alle sprachlichen Aspekte (Semantik, Grammatik, Phonetik, Morphologie usw.), nicht aber biologisch bedingte Änderungen (z. B. in Bezug auf Genetik und Evolution) (vgl. ebd.; Keller 2004: 4; Siehr / Berner 2009: 17). Sprecher einer bestimmten Sprache können den Verlauf und das Tempo dieser Veränderungen willentlich nicht beeinflussen (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 8; Siehr / Berner 2009: 17). Sie beteiligen sich am Sprachwandel aber maßgeblich (vgl. ebd.; Efing 2021: 99; Kaehlbrandt 2018: 31), indem sie jeweils sprachliche Mittel wählen, u. U. auch fehlerhaft gebrauchen, mit welchen sie ihre alltäglichen kommunikativen Ziele möglichst optimal erreichen können (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 9, 13; Schneider 2005: 5). Gleichgerichtete Wahlen kumulieren sich und ergeben mit der Zeit den Sprachwandel. „Systematische Fehler von heute sind die neuen Regeln von morgen” (Keller / Kirschbaum 2003: 9). Allerdings ist nicht jede okkasionelle Regelverletzung ein Element des Sprachwandels, die Voraussetzung dafür ist eine weit verbreitete Nutzung durch die Gesellschaft (vgl. ebd.: 9–10).
Bedeutungswandel weist auf den dynamischen Charakter der Sprache hin (vgl. Wolff 1986: 28; Mazurkiewicz-Sokołowska 2017: 130). Er kann, wie der Sprachwandel, durch die Maxime der Energieersparnis (auch Sprachökonomie) erzeugt werden (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 11; Kaehlbrandt 2018: 25–26). Die Veränderungen beziehen sich auf historische, kulturelle oder gesellschaftliche Erscheinungen (vgl. Nübling 2006: 3; Kaehlbrandt 2018: 25). Lewandowski dehnt die Definition des Bedeutungswandels aus und betrachtet ihn als „die geordnete Vielfalt der ständig verlaufenden Prozesse der Umgestaltung, des Verlustes und der Neubildung sprachlicher Elemente” (Lewandowski 1985: 1027).
Es werden vier Prozesse des Bedeutungswandels unterschieden: Differenzierung, metaphorischer Wandel, metonymischer Wandel und Einzelphänomene (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 15–98). Zu den Folgen zählen folgende Phänomene: Polysemie, Homonymie und Wegfall einer Bedeutungsvariante (vgl. ebd.: 101–120).
3. Bedeutungswandel ausgewählter Komposita der Corona-Wirklichkeit
Im diesem Kapitel setzen wir uns mit einigen Komposita, ihren alten, vor Corona, und neuen Bedeutungen auseinander. Dabei wird besonders auf historische und gesellschaftliche Bezüge geachtet, die in der Sprachwandeltheorie die sprachlichen Veränderungen auslösen (vgl. Nübling 2006: 3; Kaehlbrandt 2018: 25). Zudem wird analysiert und werden Annahmen gemacht, um welche Art des Bedeutungswandels es sich jeweils handelt.
3.1 Ausgangssperre
Ausgangssperre bedeutet im Allgemeinen das „Verbot auszugehen, das Haus, die Wohnung [oder] die Kaserne zu verlassen” [2].[^ [2] Ausgangssperre https://www.duden.de/rechtschreibung/Ausgangssperre (Stand: 11.06.2021).] Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache bestimmt den Begriff etwas genauer als „von einer Verwaltungsbehörde, der Regierung oder dem Militär erlassenes Verbot für die Bevölkerung oder Teile der Bevölkerung, das Haus [...] zu verlassen” [3].[^ [3] Ausgangssperre https://www.dwds.de/themenglossar/Corona (Stand: 11.06.2021).] Ausgangssperre ist ein Determinativkompositum: Sperre wird hier durch Ausgang determiniert bzw. genauer bestimmt, also um was für eine Art Sperre es sich handelt.
Das Kompositum Ausgangssperre war schon vor der Covid-19-Pandemie bekannt. Die Generation, die in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges in Deutschland und in okkupierten Ländern lebte, erlebte solche Maßnahmen schon einmal, darunter besonders Menschen jüdischer Abstammung. So wurde nach Beginn des Krieges im Jahr 1939 eine nächtliche Ausgangssperre für jüdische Menschen eingeführt, welche ab 22 Uhr galt (vgl. McCourt / Schmieder 2021).
Ausgangssperren stellen ein effektives Mittel dar, die Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen. Deshalb sind Sperren dieser Art eher in autoritären Regimen und Diktaturen vertreten und werden in demokratischen Ländern meist nicht in Betracht gezogen (vgl. Boehme-Neßler 2021: 1).
So fern der Begriff vielen, nicht nur in Deutschland lebenden Menschen war, desto präsenter ist er nun zur Zeit der Corona-Pandemie geworden. Die Bedeutung des Wortes Ausgangssperre und der Kontext, in dem es auftritt, veränderten sich aber: Immer noch bezeichnet das Kompositum das Verbot, das Haus ab einer bestimmten Uhrzeit zu verlassen. Die Bevölkerung verbindet mit dem Wort die nächtliche Ausgangssperre ab 22 Uhr. Nur wer einen triftigen Grund, wie die Versorgung von Tieren oder Notfälle, vorweisen kann oder beruflich von der Sperre befreit ist, kann sich zwischen 22 Uhr und 5 Uhr morgens außerhalb des Wohnbereiches aufhalten. Das Kompositum Ausgangsbeschränkung ist mit dem der Ausgangssperre leicht zu verwechseln. Bei diesem ist es jedoch möglich, sich frei in der Öffentlichkeit zu bewegen, jedoch nur unter Beschränkungen, wie Maskenpflicht oder Personenanzahl [6].[^ [6] Corona-Notbremse und Ausgangssperre: Diese Regeln gelten jetzt https://www.adac.de/news/lockdown-ausgangssperre (Stand: 22.06.2021).]
Aus den Ausführungen ist zu schließen, dass es sich bei Ausgangssperre um die Bedeutungswandel-Art Differenzierung handelt: Die Bedeutung wird in Bezug auf die Covid-19-Pandemie differenziert bzw. verengt (im Sinne einer Hyponymie) und erhält im Gegenzug als zusätzliche Bedeutungszuschreibung, dass die Ausgangssperre während der Pandemie auf den Zeitraum zwischen 22 und 5 Uhr festgelegt ist und Ausnahmen durch Notfälle und den Beruf bestehen (vgl. Ausführungen Differenzierung Keller / Kirschmann 2003: 15–34).
3.2 Impfangebot
Die Bedeutung des Wortes Impfangebot ist schwierig zu definieren, weil wir den Begriff nicht in Wörterbüchern wie dem Duden finden. Jedoch kann man zu der Bedeutung gelangen, wenn wir die Morpheme betrachten, aus denen das Wort zusammengesetzt ist – nämlich impf und angebot. Das erste Morphem ist das Basismorphem des Verbs impfen, welches bedeutet „jemandem einen Impfstoff verabreichen, einspritzen oder in die Haut einritzen“ [11].[^ [11] Impfen https://www.duden.de/rechtschreibung/impfen (Stand: 21.06.2021).] Beim zweiten Bestandteil handelt es sich um das Substantiv Angebot, ein komplexes Wort entstanden im Zuge anderer Wortbildungsprozesse, das meint “etwas, was jemandem angeboten, vorgeschlagen wird“ [1].[^ [1] Angebot https://www.duden.de/rechtschreibung/Angebot (Stand: 21.06.2021).] Aufgrund dieser Analyse der Konstituenten des Kompositums und unter der Annahme, es handelt sich um ein Determinativkompositum, lässt sich vermuten, dass dieses nur die Möglichkeit, demnach keinen Zwang, sich impfen zu lassen, bedeutet.
Vor der Covid-19-Pandemie bezog sich das Wort auf die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Impfstoffe gegen verschiedene Erkrankungen, die sich Bürger:innen größtenteils frei verfügbar von medizinischem Personal verabreichen lassen können.[^2 In Deutschland werden Impfempfehlungen von der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut ausgesprochen [9] Empfehlungen der Ständigen Impfkommission https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Empfehlungen/Impfempfehlungen_node.html (Stand: 21.06.2021).] Eine Impfung wird in Deutschland empfohlen, es besteht aber keine Impfpflicht [8].[^ [8] Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Corona-Impfung https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/coronavirus-impfung-faq-1788988 (Stand: 21.06.2021).] Daraus lässt sich schließen, dass ein umfangreiches Angebot an Impfungen gegen etliche verschiedene Krankheiten frei zur Verfügung steht und jede Person selbst entscheiden kann, ob sie sich impfen lassen möchte oder nicht.
Während der Pandemie erhielt dieses Wort jedoch eine andere Bedeutung. Heutzutage ist die Impfung nicht nur Schutzmittel gegen die Ansteckung mit SARS-CoV-2, sondern oft eine Erleichterung für Menschen, die von einem Land in ein anderes reisen möchten. Auch andere Erleichterungen / Privilegien sind zu erwarten. Die Verpflichtung zur Untersuchung und Quarantäne bei der Rückkehr aus Risikogebieten und Gebieten mit hoher Inzidenz gilt nicht für Personen, die genesen oder vollständig geimpft sind [5].[^ [5] Corona-Impfung: Diese Länder erleichtern Urlaubern die Einreise https://www.adac.de/news/corona-impfung-reise-urlaub/ (Stand: 23.06.2021).] Der Nachweis der Impfung oder des Überstehens der Infektion muss jedoch dem Einreiseportal der Bundesrepublik Deutschland gemeldet werden [5]. Für vollständig Geimpfte und genesene Personen entfällt auch die Pflicht, sich vor der Rückkehr mit dem Flugzeug aus dem Ausland auf SARS-CoV-2 testen zu lassen. Beim Check-in muss lediglich ein Impf- oder Rekonvaleszenznachweis vorgelegt werden [5]. Die Lockerung der Beschränkungen richtet sich eigentlich nur an die Genesenen und Geimpften. Ein Bundesland – Hamburg – nahm jedoch noch keine Lockerung vor und plant dies auch nicht im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie [10].[^ [10] Freiheiten für Geimpfte: Nur ein Bundesland lockert nicht. https://www.tagesschau.de/inland/lockerungen-geimpfte-107.html (Stand: 21.06.2021).] Obwohl sich viele Menschen impfen lassen wollen, ist es aufgrund der Reihenfolge, in der die Impfstoffe vergeben werden (Prioritätsgruppen), schwierig, den Impfstoff zu bekommen, so dass nicht jeder zu einem bestimmten Zeitpunkt geimpft werden kann [8]. Impfangebot ist demnach nicht mehr ein Begriff, der dafür steht, dass allen das Angebot der Impfung zu Verfügung steht und sie selbst entscheiden können, ob sie dieses annehmen, sondern dieses Angebot gilt zuerst nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Es kann damit als Privileg bestimmter Gruppen betrachtet werden.
Wie im Fall der Ausgangssperre liegt bei Impfangebot ein Bedeutungswandel in Form der Differenzierung vor, denn nun wird mit dem Begriff Impfangebot häufig automatisch das Angebot zur Impfung gegen Covid-19 assoziiert. Anstatt dass das Impfangebot sich auf mehrere Impfstoffe bezieht, ist es in Hinsicht auf diesen einen Impfstoff differenziert und spezifische Bedeutungen wie die begrenzte Verfügbarkeit und damit einhergehende Erleichterungen werden über den allgemeineren Begriff Impfangebot hinaus mitgedacht. (vgl. Ausführungen zu Differenzierung in Keller / Kirschmann 2003: 15–34). Zudem scheint darüber hinaus im Vergleich zur vorherigen dominierenden Assoziation, dass in Deutschland für alle Bürger:innen Impfangebote frei zur Verfügung stehen, dies aber nicht alle annehmen müssen und wollen, eine Art Bedeutungs-Antonymie zu bestehen: Während damals alle die Möglichkeit des Impfangebotes (für verschiedene Impfstoffe) hatten, dieses aber nicht alle annahmen, möchten heute viele ein Angebot (zur Corona-Impfung) bekommen, es erhalten aber nicht alle eines. Aus einem Angebot für alle wurde ein Angebot für wenige Ausgewählte.
3.3 Impfpflicht/-zwang
Zunächst kann festgestellt werden, dass die beiden Begriffe Impfpflicht und -zwang synonym verwendet werden können [12].[^ [12] Impfpflicht https://www.duden.de/rechtschreibung/Impfpflicht (Stand: 17.06.2021).] Im Duden wird die Impfpflicht als „Verpflichtung, sich, sein Kind oder ein Tier impfen zu lassen” [12] beschrieben. Demnach handelt es sich dabei um ein Determinativkompositum, da Impf- die Pflicht näher bestimmt, nämlich als eine Pflicht, sich oder andere impfen zu lassen. Im DWDS wird diese Erläuterung um den Aspekt erweitert, dass eine Nicht-Einhaltung dieser zu Sanktionen führen kann [13].[^ [13] Impfpflicht https://www.dwds.de/wb/Impfpflicht (Stand: 17.06.2021).] Bereits gegen andere Krankheiten wie Masern wurde in der Vergangenheit eine Impfpflicht gefordert (vgl. Osink 2020: 2). Eine gesetzliche Masernimpfpflicht besteht auch bereits für einzelne Gruppen, wie Personen von Gemeinschaftseinrichtungen, für Soldaten sogar eine Impfpflicht gegen mehrere ansteckende Krankheiten (vgl. Gauch 2021).
Auch wenn eine Impfpflicht gegen das Virus SARS-CoV-2 noch nicht der Realität entspricht, befürchten bereits viele Menschen ein solches Gesetz. Damit eng verbunden sind eine Verletzung demokratischer Werte und Einschränkungen von einigen Grundrechten (vgl. Gauch 2021). Während es bisher in der Regel freiwillig war, ob eine Person sich impfen lässt, steigt nun der soziale Druck, dies zu tun. Wie in der Überschrift des Instagram-Beitrages Lockerungen für Geimpfte und Genesene [14] zeigt sich, dass geimpfte Menschen Vorteile haben bzw. haben werden. Wer Freiheiten möchte, muss sich impfen lassen. Diese Bedingung wird inzwischen von vielen Menschen als indirekte Impfpflicht angesehen. Im Zuge der Covid-19-Pandemie etablierte sich zudem der neue Ausdruck Impfpflicht light, womit eine vorschriftsmäßige Impfung für spezielle Personengruppen, insbesondere gegen SARS-CoV-2, gemeint ist [15].[^ [15] Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp# (Stand: 17.06.2021).] Diese wurde geprägt aufgrund der derzeitigen Situation, dass nicht genügend Impfdosen, aber auch Impfbereitschaft vorhanden ist, um eine gesellschaftliche Immunität zu erzielen, und deshalb eine solche durch die Regierung eingeführte „Impfpflicht light” in den gesellschaftlichen Diskurs aufgenommen wurde [15].
Im Fall der Impfpflicht ist es von der Auslegung der neuen Bedeutung abhängig, um welche Art von Bedeutungswandel es sich handelt: Wird Impfpflicht in dem Sinn verstanden, dass es ein rechtskräftiges, zur Impfung gegen das SARS-Cov-2 Virus verpflichtendes Gesetz gibt und damit die Corona-Impfpflicht Realität wird, liegt eine Differenzierung bzw. Bedeutungsverengung vor. Denn die Impfpflicht wird in Hinsicht des zu impfenden Impfstoffes, in diesem Fall des gegen das Corona-Virus, differenziert (vgl. Ausführungen zu Differenzierung in Keller / Kirschmann 2003: 15–34). Wird jedoch die Tatsache, dass es Lockerungen für Geimpfte gibt und der soziale Druck, sich impfen zu lassen, als (indirekte) Impfpflicht verstanden, liegt (gleichzeitig) ein metonymischer Wandel der Bedeutung vor: Die Symptome werden in Kombination als die Folge / die „Schlussfolgerung“, eine Impfpflicht, bezeichnet, während die Symptome im eigentlichen Sinne keine Impfpflicht sind, sondern nur auf diese schließen lassen und / oder als diese interpretiert werden. Die Bedeutungsverschiebung findet damit innerhalb eines Bereiches statt. (vgl. Ausführungen metonymischer Wandel in Keller / Kirschmann 2003: 58–79).
3.4 Zweiklassengesellschaft
Wenn man grundlegend und allgemein von einer Zweiklassengesellschaft spricht, meint man im bisher geläufigen Sinn „eine Gesellschaftsform, die aus einer Klasse der wohlhabenden und einer Klasse der Mittellosen besteht, wobei eine starke Mittelschicht fehlt” [16].[^ [16] Zweiklassengesellschaft https://www.duden.de/rechtschreibung/Zweiklassengesellschaft (Stand: 16.06.2021).] Schon in den Vorstellungen und Schriften Karl Marx’ spielte dieses Kompositum eine tragende Rolle (vgl. Nohlen / Grotz 2015: 310). Hierbei handelt es sich im Sinne des sozio-kulturellen Wandels, um „jeweils zwei antagonistisch sich gegenüberstehende Klassen” (ebd.), welche ihre Differenzen bezüglich dieser gesellschaftlichen Veränderungen aktiv austragen. Später, und damit vor allem die heutige Zeit betreffend, sorgte der erstarkende Kapitalismus für eine gesellschaftliche Umstrukturierung in zwei Klassen: Bourgeoisie und Proletariat (vgl. ebd.). Damit entstand der bis heute andauernde zentrale Konflikt einer Gesellschaft, in welcher Ungleichheit und die damit verbundenen Probleme eine große Rolle spielen (vgl. ebd.). Trotzdem lässt sich das Kompositum Zweiklassengesellschaft nicht nur in Verbindung mit Wirtschaft und Politik nutzen, sondern ist auch in vielen anderen Bereichen der modernen Welt präsent. Häufig wird es als Metapher genutzt, um zwischen zwei gesellschaftlichen Thematiken einen Vergleich zu ziehen oder ein Problem zugänglicher und konkreter darzustellen.
Während der Covid-19-Pandemie erlangte dieses Wort einen anderen Kontext und somit auch eine neue Bedeutung. So zeichnet es immer noch eine zwiegespaltene Gesellschaft ab, jedoch weniger im Sinne des finanziellen Aspekts, wie bei Marx beschrieben (vgl. Nohlen / Grotz 2015: 310), sondern alleinig aufgrund einer erhaltenen Impfung. Hierbei entscheidend ist jedoch ebenfalls eine Mangelerscheinung in der Gesellschaft, welche unter 3.2 bereits genauer beschrieben wurde: Impfangebote. Diese spielen aktuell eine große Rolle, weshalb viele Bürger:innen versuchen, einen Impftermin zu bekommen. Die Problematik dieses Aspektes besteht darin, dass nun neue Regelungen bereits geimpften Personen gesellschaftliche und persönliche Vorteile verschaffen [14]. Neben der Impfung an sich haben Geimpfte mehrere Freiheiten, wie sich nicht mehr testen lassen zu müssen, um ein Event zu besuchen oder zu verreisen, und damit Privilegien, die Ungeimpften nicht zukommen, vergleichbar mit dem Privilegien-Gefälle von Bourgeoisie und Proletariat.
Diese Übertragung des Begriffs der Zweiklassengesellschaft auf die Gruppen Geimpfte und Nicht-Geimpfte lässt bei der Art des Bedeutungswandels auf einen metaphorischen Wandel (vgl. Ausführungen zu metaphorischer Wandel in Keller / Kirschmann 2003: 34–58) schließen: Wie bereits erwähnt, wurde dieser Begriff schon mehrfach als Metapher verwendet, um z. B. auf ein Ungleichgewicht in der Gesellschaft zwischen zwei Gruppen wie bei den Klassen Bourgeoisie und Proletariat aufmerksam zu machen. Im Verlauf der Covid-19-Pandemie wird diese Metapher auch für die Gruppen-Dichotomie Geimpfte / Nicht-Geimpfte verwendet. Dabei sind es nicht im wirklichen Sinne zwei Klassen, aber wie bei der ursprünglichen Zweiklassengesellschaft (wie bei Marx) besteht zwischen beiden Gruppen ein Unterschied in den Vorteilen / Freiheiten, eine gewisse soziale Ungerechtigkeit. Dieses tertium comparationis verbindet beide Bereiche, ermöglicht die Bedeutungsmetapher und damit die neue Covid-19-Bedeutung, die bereits von einigen verwendet wird und präsent in der Gesellschaft zu sein scheint.
4. Textdynamische Phänomene
Textdynamik folgt aus dem dialogischen, dynamischen Charakter der Sprache selbst. Da mit einem Ausdruck mentale Konzepte verknüpft sind, „über die ein Bezug zu Objekten und Ereignissen in der Realität hergestellt werden kann“ (Pittner 2016: 125), wird die Sprache sowohl durch die sich verändernde Wirklichkeit beeinflusst als auch sie selbst verändert die Wirklichkeit. Ferner ist Dynamik den sozialen Medien wie Instagram eigen. Durch Bezugnahme auf Inhalte und Subthemen des kommentierten Beitrags wie auch durch thematisch gebundene Interaktionen zwischen Kommentierenden kommt der Gesamttext in eine innere Bewegung. Die Kommentare sind konzeptionell mündlich und schon deshalb durch Interaktion und eine gewisse Dynamik gekennzeichnet. Die geäußerten Einstellungen der Kommentierenden und ihre Veränderungen entwickeln ebenfalls eine eigene Textdynamik. So werden Lockerungen für Geimpfte und Genesene einerseits aufgrund der Priorisierung als ungerecht (vgl. das Possessivkompositum Zweiklassengesellschaft), andererseits als indirekte Impfpflicht (vgl. 3.3) kritisiert. In den Kommentaren wird deutlich, dass die User:innen die Impfpflicht auf die derzeitige gesellschaftliche Situation beziehen und sich dadurch nun gezwungen fühlen, sich gegen Covid-19 immunisieren zu lassen. In Bezug auf die Überschrift des betrachteten Beitrags [14] weist dies darauf hin, dass die Lockerungen für Geimpfte und Genesene als eine solche indirekte Impfpflicht verstanden werden:
hmm keine impfpflicht?! aber seeeeeeehr schlau gemacht, dass man sich schon fast dazu verpflichtet fühlt!
Und so kommt die ImpfPflicht weil jeder der geimpft ist seine Freiheiten wieder bekommt und die die es nicht sind seine Freiheiten nie wieder bekommen
Noch kräftiger wirken diese Phrasen, wenn sie den gesamten Kommentar vertreten:
Indirekte Impfpflicht ✨🤡
Indirekter Impfzwang
Als ein wichtiges Mittel der Textdynamik zeigt sich der Bedeutungswandel, was am Kompositum Zweiklassengesellschaft exemplarisch dargestellt werden kann. Der Oberkommentar lautet:
Der Ansatz ist sicherlich richtig, aber so heißt es: Willkommen in der Zweiklassen-Gesellschaft
Der Kommentar bezieht sich auf die geplanten Lockerungen für geimpfte Personen. Der:Die Verfasser:in empfindet diese zwar als gerechtfertigt, spricht jedoch auch die Problematik der Zweiklassengesellschaft an, die mit dieser Regelung einhergehen könnte. Die durchaus positive Bewertung wird jedoch durch die Verwendung der gegensätzlichen Konjunktion aber eingeschränkt und die Entstehung einer konzeptuell neuen Zweiklassengesellschaft unterstrichen. Textdynamik kommt in diesem Fall durch die Neukonzeptualisierung der Zweiklassengesellschaft entsprechend der Priorisierung als Teilung der Gesellschaft in privilegierte Geimpfte und unterprivilegierte Ungeimpfte und damit durch die Einbettung in einen anderen Diskurs zustande (vgl. auch Ausgangssperre). Im späteren Kommentarverlauf, in dem die Chattenden darauf anspielen, dass die derzeitige Gesellschaft schon vor den neuen Regelungen für Geimpfte zwiegespalten war, kann eine noch andere Konzeptualisierung des Kompositums Zweiklassengesellschaft vorliegen. Allerdings fehlen hier Indizien dafür, ob in den Subkommentaren (6) bis (8) das ursprüngliche oder aber noch ein anderes Konzept der (Zwei)Klassengesellschaft bemüht wird:
@mika______13 als hätten wir nicht jetzt schon eine klassengesellschaft mein schatz 🤡
@mika______13 hast vorher wohl noch nicht? 😂😂😅
@mika______13 ...die gab es ja vorher auch schon ... 🤷🏼♂
Ebenfalls dynamisch wirkt hier die differente sprachliche Gestaltung übereinstimmender Einstellungen.
Allerdings plädieren auch einige dafür, dass lediglich Maßnahmen wie die Impfpflicht die Covid-19-Krise eindämmen können, doch bisher bevorzugen viele Politiker:innen Freiwilligkeit, statt Pflicht (vgl. Wein 2021: 114).[^3 Eine Impfpflicht würde laut Wein (vgl. 2021: 115) unter den gegebenen Umständen nicht gegen das Gesetz verstoßen.] Die Textdynamik entsteht also auch durch Äußerungen, die in einzelnen Kommentaren oder im Verlauf eines Kommentars gegensätzliche Einstellungen verbalisieren. Wie im Falle des Oberkommentars (5) ist auch in (9) eine persönliche Zwiegespaltenheit in der Meinungsbildung zu bemerken. Zum einen zeigt die verfassende Person Frust gegenüber der Thematik, was unter anderem an der Metapher „all you can eat Plauzen” zu erkennen ist. Durch diese Verbildlichung wird den Lesenden der Unmut und die Unzufriedenheit noch deutlicher. Auf der anderen Seite stimmt die Person mit der Exklamation zu Beginn mit der Aussage des / der Verfassers / in überein.
@mika______13 zumindest kurzzeitig definitiv! Somit drängt man die Leute auch zum Impfen, wobei das ja nichts schlechtes sein muss. Aber diese Undankbarkeit, man erwartet von den Jungen und Gesunden, dass sie die Kranken und Schwachen schützen, nur, dass jetzt ein paar Rentner auf der AIDA ihre all you can eat Plauzen vollstopfen können. Ich gönne es ihnen, aber ich würde vielleicht auch einfach mal gerne nach Mitternacht vor die eigene Tür
Nur wenige stimmen den Lockerungen beziehungsweise dem Oberkommentar (5) ernsthaft zu. Neben all diesen eher negativen Kommentaren, sind jedoch auch konstruktive und klar strukturierte Beiträge erkennbar.
@mika______13 ja aber doch nur bis diejenigen dann auch geimpft sind, danach werde die auch ihre Freiheiten genießen und der Aufschrei „Unfair“ wird ganz schnell vergessen sein…sicherlich nicht bei allen aber bei sehr vielen… dann wird es heißen „ich habe lange genug verzichtet, die Nicht-Geimpfte sind mir egal“ von daher ist das mit der 2-Klassengesellschaft nur solange aktuell, bis man selbst seine Vorteile daraus zieht 😉 … übrigens kenne ich viele die Jünger sind als ich und trotzdem schon geimpft wurden…denen sage ich nun „Trinkt bitte einen für mich mit und genießt euer Leben wieder!!!“
Der gesprächsartige Charakter der Kommentare zeigt sich u. a. im Gebrauch von Exklamationen und Imperativsätzen (vgl. 1, 11, 19), Interjektionen wie hmm, tja, ach ja (vgl. 1, 16, 17) als Hinweise auf die aktuelle Rezeption des vorangehenden Kommentars, mit welchen der Kontakt zum Beiträger bestätigt und der Gesprächsverlauf gestützt werden, manchmal durch gesprächsartige Gestaltung des Kommentars selbst wie in (11):
Es wird keine Impfpflicht geben!
Was? Du willst deine Freiheiten zurück? Ja tut mir leid, musst du dich leider impfen.
Lobbygesteuerte Drecksmafia von Politik! Fahrt zur Hölle
Die „zweite, ungeimpfte Klasse” fühlt sich benachteiligt und entwickelt oftmals negative Einstellungen und Emotionen. Die Kommentare zum Beitrag über Lockerungen für Geimpfte und Genesene implizieren Emotionen und Gefühle wie Missmut und Wut, aber auch Enttäuschung und Frust. Die Kommentierenden sind der Meinung, dass jeder zuerst das Impfangebot erhalten, und dann die Lockerungen eingeführt werden sollten. Die derzeitigen Regeln führten zu einer Spaltung der Gesellschaft und zu vermeidbaren Konflikten.
Neben negativ konnotierten bildlichen Ausdrücken wie ausbaden (müssen) (12) oder vor den Kopf gestoßen (13) drücken Kommentierende ihre Verbitterung über die Priorisierung aus, mit der die Regierung die Bedeutung junger Menschen für die Zukunft widerlege. Als Zumutung wahrgenommene Priorisierung wird mit Applaus an die Regierung ironisch quittiert. Ebenfalls ironisch interpretierbar ist die Gegenüberstellung der gelebten Solidarität mit stärker durch das Virus Gefährdeten und der als Undank empfundenen „Erlaubnis“ weiterhin ohne soziale Kontakte zu leben:
Wirklich stark vom Staat. Junge Menschen haben über 1 Jahr lang ihr Leben zurück geschraubt um solidarisch den älteren und vorerkrankten gegenüber zu sein und als Dank dafür dürfen wir jetzt die nächsten Monate weiterhin ohne sozialen Kontakte leben und darauf hoffen irgendwann mal ein Impfangebot zu bekommen. Also irgendwas läuft hier gewaltig schief.
Vor allem in Anbetracht dessen, dass die jungen Menschen von heute die Zukunft von später sind. All die, die die wirtschaftlichen Schäden wieder ausbaden müssen. Aber über uns macht man sich ja keine Gedanken. Applaus an die Regierung, mehr fällt mir dazu nicht ein
Grundsätzlich eine gute Sache, jedoch fühlt sich jetzt wahrscheinlich jeder junge Mensch vor den Kopf gestoßen, der seit Wochen und Monaten auf sein Impfangebot wartet.
Lockerungen für Geimpfte und Genese werden als indirekte Impfpflicht / indirekter Impfzwang verstanden. Als alleinstehende Kommentare wirken die Phrasen umso kräftiger:
Indirekte Impfpflicht ✨🤡
Indirekter Impfzwang
In (16) wird dagegen die kommentierende Person, auf die Bezug genommen wird, durch die rhetorische Frage indirekt als inkompetent bezeichnet, da sie laut dem / der Verfasser / in im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst habe:
@claire_srmk Tja, das passiert wenn man blindlings alles befolgt was von oben gesagt wird! Nicht im Geschichtsunterricht aufgepasst? Weiterhin viel Spaß mit eurer „Solidarität und Ausgangssperre“ hahaha ... 😂
Die rhetorische Frage in (17) wiederum impliziert, dass das „Volk”, also die Einwohner:innen Deutschlands, nicht denken würden und demnach nicht besonders schlau wären. Hier spiegelt sich erneut der Frust wider, den die geplanten Lockerungen hervorrufen. Außerdem erfolgt hier eine Hyperbel, welche das Treffen und Konsumieren von Alkohol in großen Gruppen übertrieben darstellt. Die Person, die den Kommentar verfasste, scheint demnach wütend auf diese Menschen zu sein und stellt ihre negativen Gefühle übertrieben dar. Es geht der Person vermutlich um Geduld und appelliert an diese, da von der Ausgangssperre in dem Kontext gesprochen wird, und dass diese durch die sinkende Inzidenz wohl bald aufgehoben werden wird.
Wann hat dieses Volk eigentlich lesen und denken verlernt? Da steht nichts von intergalaktischem Freibiersaufen mit 500.000 anderen. Bis auf die eine Ausnahme – Ausgangssperre- ist der einzige Unterschied zwischen geimpft und ungeimpft der zu absolvierende Schnelltest. Und das Thema Ausgangssperre duerfte sich Inzidenznedingt in 10 bis 14 Tagen bundesweit erledigt haben, das braune Thüringen mal ausgenommen. Ach ja. Zweit Impfung 4.6., also noch lange hin bis ich in den Genuss käme.
Vereinzelt, wie in (16) das hahaha, finden sich in den Kommentaren auch Verschriftlichungen paraverbaler Sprachmittel. Dagegen sind grafische Ausdrucksformen von Emotionen – Emojis (3, 6, 7, 8, 10, 14, 16, 18, 21), (mehrfache) Ausrufezeichen (1, 11, 22) – und verstärkende typographische Gestaltung wie Großschreibung (19, 20, spielerisch-dynamisch in 21) und Vervielfachung von Buchstaben (1, 19, 20) bei Kommentierenden offensichtlich beliebt:
Schön dass gelockert wird, obwohl nicht mal jeder ein Impfangebot bekommen hat oder schon einmal infiziert war 👏🏻
Sorry hab da garkein verständnis für. Konnten die nicht warten bis ALLLEN Deutschen ein Impfangebot gemacht wurde? Wie asozial das einfach nur noch ist. Von wegen solidarität
es ist nicht fair solange nicht für ALLE ein impfangebot besteht…
„eS wiRd kEiNE iMpFpFLiChT gEbeN“ 🤡🤡🤡
Unglaublich!!!
Anstatt damit zu warten bis alle ein Impfangebot haben!! Aber nein, die Gesellschaft wird gespalten und es hat absolut nichts mit Neid zutun sondern mit normalem Menschenverstand!! Man wird „bestraft“ dass man jung und gesund ist und kein Anrecht auf einen Impftermin hat!
5. Fazit
Die Analyse der Instagram-Kommentare ergibt, dass Textdynamik ein komplexes, durch mehrere Faktoren bewirktes und mit recht unterschiedlichen verbalen, paraverbalen und nonverbalen Mitteln realisierbares Phänomen ist. Neben dem Format des Sozialmediums, das interaktionale Sprachhandlungen voraussetzt, geht sie aus mündlicher Konzeptualisierung schriftlich realisierter Kommunikation in sozialen Medien hervor. Textdynamik spiegelt sich einerseits in wechselnder Bezugnahme auf den Beitrag und auf vorangehende Kommentare, andererseits im heterogenen Gebrauch von Standard- und Umgangssprache und im Nebeneinander von typischerweise im gesprochenen Deutsch gebrauchten verbalen und paraverbalen Mitteln und aufgrund der Schriftform in graphischen und typografischen Repräsentationen von Emotionen.
Als stark dynamisch erweist sich der Bedeutungswandel. Anders als viele andere Komposita, die täglich (spontan und neu) gebildet werden, fanden die hier untersuchten – Ausgangssperre, Impfangebot, Impfpflicht / -zwang und Zweiklassengesellschaft – jedoch Einzug in die Wörterbücher oder zumindest in das Alltags-Korpus. Neben ihren Wortbedeutungen entsprechen alle vier Komposita der semantischen Relation der Determinativkomposita. Alle untersuchten Komposita haben gemeinsam, dass sie im Zuge der Covid-19-Pandemie im Laufe von Sprachwandlungsprozessen aktuelle Konzeptualisierungen und Verwendungskontexte erhielten, die ihnen eine zusätzliche oder eine neue (vgl. Polysemie), derzeit dominierende Bedeutung verliehen. Die dominierende Corona-Bedeutung ist damit zu erklären, dass die Corona-Pandemie momentan das Thema ist, das alle Menschen beschäftigt, da die Pandemie alle lebensweltlichen und gesellschaftlichen Bereiche maßgeblich beeinflusst. Teils lange bestehende, historische Bedeutungen (vgl. Zweiklassengesellschaft) wurden von der Corona-Bedeutung verdrängt bzw. unterdrückt. Auch wenn sie vorher in unterschiedlichen Kontexten verwendet wurden, besitzen sie nun einen gemeinsamen: die Corona-Wirklichkeit. Dabei ist zu erwähnen, dass dieses Phänomen bei vielen weiteren Komposita auftritt. Weitere solcher Komposita sind beispielsweise in der Wörterliste rund um die Coronapandemie des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache einzusehen [15]. Damit beweist die SARS-CoV-2-Pandemie wieder einmal, wie wandelbar und dynamisch die Sprache ist.
Dennoch erweist es sich als schwierig und wenig aussagekräftig, anhand eines einzigen Instagram-Beitrages neue Zuschreibungen und Kontexte der Komposita zu ermitteln; werden durch die Kommentare doch nur vergleichbar wenig Meinungen von Personen eingeholt und wohl kaum konventionalisierte Bedeutungen ermittelbar. Ob diese Bedeutungen lexikalisiert sind, ist deshalb uneindeutig: Einerseits hielten bereits einige Wörtersammlungen die neuen Bedeutungen schriftlich / digital fest (siehe z. B. Leibniz-Institut für Deutsche Sprache [15]) und die Komposita werden in diesem Sinn von einer großen Masse der Gesellschaft verwendet. Andererseits ist ihre neue Bedeutung noch nicht als Wortbedeutung jenseits des Corona-Kontextes (z. B. im Duden) niedergeschrieben und ihre Entstehungsspanne für einen Bedeutungswandel sehr gering, während die meisten Bedeutungsänderungen einen langen Prozess (vgl. Beispiele in Keller / Kirschmann 2003: 15–100) durchliefen. Deshalb ist es weiterhin zu verfolgen, ob die neuen Bedeutungen sich dauerhaft etablieren (in längerer Hinsicht konventionalisiert werden) oder mit dem Ende der Corona-Krise auch den neuen Bedeutungen ein Ende gesetzt wird. Problematisch ist dies zudem, da bisher nur wenig Studien und Literatur zu dem Thema der „Corona-Komposita“ vorliegen.
Mit Blick in die Zukunft lässt sich fragen, ob die Komposita diese neuen Bedeutungen beibehalten, bzw. die Sprecher:innen der deutschen Sprache sie weiterhin mit der Covid-19-Pandemie in Verbindung bringen werden oder eventuell gar die alten Bedeutungen nach der Krise wieder ihren Status als Hauptkonzeptualisierungen zurückerlangen. Covid-19 ist derzeit immer noch ein zentraler Teil unserer Gesellschaft, die Corona-Wirklichkeit beeinflusst und wandelt auch weiterhin die Sprache. Es ist zu vermuten, dass beides miteinander korreliert.