Einleitung: Germanistische Institutspartnerschaft textdynamiken (DAAD)
Im Jahre 2019 entstand der Gedanke, dass das Institut für Germanische Philologie der Jagiellonen-Universität in Kraków und das Institut für Germanistik der Universität Leipzig eine Institutspartnerschaft aufbauen sollten. In den Jahren zuvor hatte es schon eine intensive Zusammenarbeit einzelner Forscher:innen beider Institute gegeben, so dass der Schritt zu einer Partnerschaft nahelag. Konkretisiert wurden die Pläne einer Kooperation im Jahr 2020. Nach einem Planungstreffen in Krakau zu Beginn des Jahres, bei dem Vertreter:innen der Sprach- und Literaturwissenschaft beider Institute sich über mögliche Themen und Maßnahmen austauschten, wurde im Sommer 2020 ein Projektantrag unter der Leitung von Prof. Dr. Sabine Griese (Mediävistik, Universität Leipzig) auf den Weg gebracht. Erfreulicherweise wurde dieser Antrag vom DAAD bewilligt, so dass zwischen 2021 und 2023 verschiedene gemeinsame Ideen um das verbindende Thema der „Textdynamiken“ herum umgesetzt werden können. Auf diese Weise lassen sich die verschiedenen Formen der Kooperation in der Forschung besser bündeln, wobei die Forschungsergebnisse in verschiedenen Lehrformaten auch in die germanistische Ausbildung eingebracht werden sollen. Forschungsinteressen in Leipzig und Krakau sind beispielsweise die Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Literatur, Briefliteratur und Briefhandschriften, Autorkonzepte der Moderne, kurze sprachliche Formen im öffentlichen Raum, Gesprächslinguistik und Online-Kommunikation. Das Projektteam besteht aus acht Wissenschaftler:innen: Prof. Dr. Zofia Berdychowska (Krakau, Sprachwissenschaft, Textlinguistik, Pragmatik), Dr. Stephanie Bremerich (Leipzig, Neuere deutsche Literatur, Projektassistenz), Dr. phil. habil. Magdalena Filar (Krakau, Sprachwissenschaft, Pragmatik), Prof. Dr. Sabine Griese (Leipzig, Ältere deutsche Literatur, Projektleitung), Prof. Dr. Katarzyna Jaśtal (Krakau, Literaturwissenschaft, Projektkoordination in Krakau), Prof. em. Dr. Frank Liedtke (Leipzig, Sprachwissenschaft, Pragmatik), Dr. Robert Mroczynski (Leipzig, Sprachwissenschaft, Pragmatik) und Dr. Pawel Zarychta (Krakau, Literaturwissenschaft).
Textdynamiken spielen in germanistischen Forschungszusammenhängen sowie in der Lehre eine zentrale Rolle. So ist die Produktion von Texten in Wort und Schrift eine der Zielkompetenzen in der Ausbildung der Studierenden. Texte sind jedoch keine fest gefügte, unveränderliche Einheit, sondern sie existieren in ganz unterschiedlichen Aggregatformen: Texte werden mündlich oder schriftlich verfasst, Texte stammen aus der Gegenwart wie aus der Vergangenheit, sie betreffen fast alle Lebensbereiche des Menschen, sie sind Kommunikationsmittel sowie Alltags- und Kulturgut. Texte beziehen sich aufeinander, und zwar im realen wie im fiktiven Raum (der Literatur und Künste).
Diese Vielfalt der Texte und ihrer Funktionen ist der Ausgangspunkt für die Arbeit in der Germanistischen Institutspartnerschaft: Wir erfassen die Veränderung von Texten in Raum und Zeit, aber auch das Entstehen von Texten im Kopf der Leser:innen und Hörer:innen, mit dem Stichwort der „Textdynamiken“. Damit benennen wir die Phänomene des Wandels kommunikativer Praxen, die an Texten ebenso beobachtbar sind wie die jeweiligen Prozesse, denen Texte auf ästhetischer, kultureller, diachroner sowie produktions- und rezeptionsorientierter Ebene unterworfen sind. Diese Veränderungen von Texten und ihre spezifischen Formen und Zustände wollen wir zum Schwerpunkt des gemeinsamen Forschungs- und Lehrgesprächs machen. Dabei greifen wir auch intensiv auf digitale Formen und Ressourcen in Forschung und Lehre zurück.
Zur Debatte steht der Textbegriff selbst mit Fokus auf seiner Dynamik, also der Entstehung, der Veränderung sowie der individuellen Verarbeitung unter sozialen, kulturellen wie medialen Bedingungen. Zu diesem Vorhaben tragen die Vertreter:innen der Teildisziplinen auf jeweils unterschiedliche Weise bei.
Fragen nach Textdynamiken sind in der germanistischen Mediävistik eng verbunden mit Fragen nach der Textüberlieferung; hierbei ist zu klären, wie Texte vor dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit verfasst und wie sie über die Zeit weitertradiert werden. Texte werden vor der Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts handschriftlich kopiert, um sie zu vervielfältigen, auch mündlich tradiert, und auch später werden sie noch vielfach manuell kopiert. Bei diesen Überlieferungsformen sind Veränderungen des Textes beinahe obligat, denn für das mündliche Erzählen sind diese ganz natürlich gegeben; für die schriftliche Tradierung durch Abschreiben sind Veränderungen ebenfalls der Normalfall. Für die Literatur des Mittelalters gibt es demnach keinen festen, unveränderlichen Text, sondern jeder Überlieferungsträger eines Werks stellt gleichsam einen Text eigener Güte dar.
Für die neuere deutsche Literaturwissenschaft wiederum ergibt sich folgendes Bild: Hier haben Strukturalismus und Poststrukturalismus in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts zu einer Abwendung vom Begriff des ‚Werkes‘ und zu einer Hinwendung zum Begriff des ‚Textes‘ geführt. Text wird in seiner poetischen Organisiertheit als eigenständiger Untersuchungsgegenstand aufgefasst, steht aber auch als ein mit anderen Texten und Medien prinzipiell verbundener Gegenstand (Intertextualität / Intermedialität) im Fokus. Techniken des Fragmentierens und Montierens spielen in der literarischen Praxis eine zentrale Rolle, ebenso wie sie für die Erweiterung des Kunstbegriffes und die Öffnung des Textbegriffes stehen. Sie werden bereits in der Frühromantik um 1800 und der literarischen Moderne um 1900 akut und verbinden sich zum Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit einer Tendenz zur medialen Grenzüberschreitung des Textes.
Einen weiteren Schwerpunkt der wissenschaftlichen Zusammenarbeit im Bereich der Germanistischen Sprachwissenschaft bilden Textdynamiken kurzer Formen in Bezug auf Sprache und Multimodalität, wie sie vor allem im öffentlichen Bereich vorkommen. Hierbei ist an Kurzformen gedacht, wie sie sich modalitätsspezifisch und raumsemiotisch beispielsweise auf Hinweisschildern, Tastflächen oder in Form von akustischen Durchsagen manifestieren. Charakteristisch für diese Texte ist ihre Prägnanz, sie enthalten schnell zu erfassende Botschaften. Angesichts der Kürze und Kompaktheit der Botschaften ist bei ihrer Analyse die jeweilige Zeit- und Raumkonstellation, die situative Einbettung und das jeweils vorausgesetzte Wissen der Rezipient:innen zu berücksichtigen, die ihnen eine besondere, verarbeitungsbedingte Dynamik verleihen. Neben Kurzformen im physischen oder virtuellen Raum werden auch öffentliche Online-Diskurse berücksichtigt. Hier sollen Diskursstränge im Fokus stehen, die interaktiv von den spontanen Diskursakteur:innen konstruiert werden und so eine besondere Form der Dynamik aufweisen. Diese Diskurse sind von denjenigen abzugrenzen, die aus monologisch von Journalist:innen konzipierten Texten und anderen Diskursfragmenten bestehen.
In der Arbeit an dem Begriff der ‚Textdynamiken‘ treffen sich die drei Teildisziplinen, und dadurch wird im Austausch zwischen den Instituten und ihren Vertreter:innen eine wechselseitige Bereicherung auch vor dem Hintergrund der nationalen Fächerkulturen möglich sein. Dies in der Lehre zu vermitteln ist, neben dem wissenschaftlichen Austausch, eines der wichtigen Ziele der Partnerschaft. Entsprechend sind der kontinuierliche Austausch im Bereich der Lehre, die Einbeziehung studentischer Beiträge sowie die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses integrale Bestandteile der im Rahmen der Institutspartnerschaft verfolgten Maßnahmen. Dazu gehören kooperative Lehrformate (Team-Teaching), der gegenseitige Austausch von Doktorand:innen, die Einrichtung von Tutorien und neuen Vorlesungsreihen (digitale Einführungsvorlesung Mediävistik) in Krakau und die Durchführung einer gemeinsamen Sommerakademie in Krakau.
Und dazu gehört – nicht zuletzt – das vorliegende Online-Journal „Textdynamiken“, das als Jahrbuch der Partnerschaft und Open-Access-Publikation erscheint. Das Online-Journal soll sowohl die Ergebnisse des wissenschaftlichen Austausches im Rahmen der Institutspartnerschaft abbilden als auch engagierten Studierenden und jungen Nachwuchswissenschaftler:innen ein Forum zur Publikation bieten. Der Titel „Textdynamiken“ wird dabei von den Herausgeber:innen programmatisch verstanden: als Dynamiken von Texten, die in den verschiedenen Beiträgen aus verschiedenen Fachperspektiven untersucht werden, und als Dynamiken, die sich in der Zusammenarbeit zwischen Krakau und Leipzig in der eigenen Textpraxis vollziehen.
Als Projektteam und Herausgeber:innen möchten wir uns bei den Personen bedanken, die die Institutspartnerschaft und das Journal unterstützt und mit auf den Weg gebracht haben. Unser großer Dank geht an den Deutschen Akademischen Austauschdienst, dessen Förderung diese Institutspartnerschaft überhaupt erst möglich gemacht hat. Namentlich danken möchten wir Karin Führ für ihre Beratung. In dieser Hinsicht möchten wir uns außerdem herzlich bei Tabea Mager und Dr. Isabelle Maringer von der Stabsstelle Internationales der Universität Leipzig für ihr Engagement und ihre professionelle Unterstützung bei der Beantragung und Umsetzung der Partnerschaft bedanken. Ferner danken wir Katharina Triebe und Tim Grützner für Design und Programmierung von Website und Online-Journal. Danken möchten wir auch Adriana Slavcheva vom Open Science Service der Universitätsbibliothek Leipzig sowie Alexander Böhle und Anna Luise Klemm, die das Projekt als Studentische Hilfskräfte unterstützt haben. Ganz besonderer Dank gebührt Franziska Röder für ihren unermüdlichen Einsatz in organisatorischen und administrativen Belangen.