Zu Dynamiken des Schreibens in dem Brief Paul Celans an Ingeborg Bachmann von 31.10.–1.11.1975
Zwei der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker des 20. Jahrhunderts, Ingeborg Bachmann und Paul Celan, finden im Mai 1948 im Nachkriegswien zusammen. Von Anfang an gibt es in ihrer Beziehung einen Platz für Dramatik, was nach Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou in der Diskrepanz der Schicksale der Dichter begründet bleibt. Bachmann und Celan begegnen sich als eine „Philosophie studierende Tochter eines frühen österreichischen Mitglieds der NSDAP und ein staatenloser Jude deutscher Sprache aus Czernowitz, der beide Eltern in einem Konzentrationslager verloren und selbst ein rumänisches Arbeitslager überlebt hatte.“ (Wiedemann / Badiou 2008: 215) Während sie in den darauffolgenden Jahren als Menschen, Dichter und Schriftsteller reifen, durchläuft ihre Liebesgeschichte spannungsvolle Entwicklungen. Ihre Entsprechung finden sie in dem Briefwechsel, dessen Texte nicht auf die persönliche Beziehungsebene beschränkt bleiben, sondern sich selbst und die theoretischen Fragestellungen des Schreibens, darunter die Autorschaft, das Ringen um die Sprache und literarische Kompromisse, erörtern sowie intertextuelle Verweise auf Werke anderer Autoren und Lyrik der Korrespondenten enthalten.
Versucht man die Dynamik dieses gesamten Briefwechsels festzuhalten, wären folgende Fakten zu nennen: Zu seinem Korpus zählen insgesamt 196 Dokumente, darunter Briefe (hierzu werden von der Wissenschaft auch nicht abgesandte Briefe und Briefentwürfe gerechnet), Postkarten, Telegramme, Widmungen und eine Gesprächsnotiz. Die erhaltene Korrespondenz beginnt im Mai 1948, als die knapp zweiundzwanzigjährige Bachmann und der siebenundzwanzigjährige Celan in der literarischen Gesellschaft kaum bekannt sind. Bis 1952 fallen an ihrem epistolaren Dialog zwei thematische Dominanten auf, nämlich die Beziehung zwischen den Korrespondenzpartnern und die Bedingungen des Büchermarktes. Widmen Bachmann und Celan dem ersten Thema, bei dem insbesondere die Begegnungen und Trennungen reflektiert werden, gefühlsbetonte Zeilen, erscheinen ihre Hinweise auf Zeitschriften, Publikationsmöglichkeiten und Verleger sachlich und nüchtern. In dieser Zeit spielt Bachmann die führende Rolle in der Korrespondenz (vgl. ebd.: 218).
Im Jahre 1952 wurde der Briefwechsel unterbrochen und es sollte über fünf Jahre dauern, bis er nach einem zufälligen Treffen der Partner bei einer im Herbst 1957 in Wuppertal organisierten Konferenz wieder aufgenommen wurde. Nach diesem Wendepunkt der Liebesgeschichte wurden nach fünf Jahren des Schweigens sowohl die Liebesbeziehung als auch die Korrespondenz wieder aufgefrischt. In dieser Phase der Korrespondenz, in der beide Schriftsteller bereits mit anderen Partnern zusammen waren – der Dichter heiratete 1952 die Künstlerin Gisèle Lestrange, die Lyrikerin begann 1958 ihre literarisch folgenreiche Beziehung mit Max Frisch –, war es Celan, der die Initiative ergriff und den bestimmenden Anteil an der Korrespondenz hatte: „[…] [E]r überschüttet[e] sie [Bachmann] mit Briefen und Gedichten“ (ebd.: 220). Nach 1961 lief die Korrespondenz aus, außer zwei kurzen Briefen Celans, die unbeantwortet blieben, herrschte Schweigen.
Im Folgenden möchte ich mich einem der Briefe Celans aus der zweiten Phase der Beziehung zuwenden, d.i. einer Phase, bei deren Erforschung vor allem die Zeit um 1959 fokussiert wird. Damit wird vordergründig ein Zeitraum unter die Lupe genommen, in dem der Schriftsteller unter den gegen ihn ins Feld geführten Plagiatsvorwürfen von Claire Goll und einer vernichtenden Kritik des Lyrikbandes Sprachgitter aus der Feder des Journalisten Günter Blöcker litt, was seine Korrespondenz mit der Geliebten wesentlich beeinflusste. Der von mir gewählte Brief entstand zwei Jahre vor dieser kritischen Lebensphase, nämlich 31.10.–1.11.1957. Entscheidend für meine Wahl waren der repräsentative Charakter und die dynamische Verfasstheit dieses Schreibens. Der dichte Text verbindet die für das literarische Schaffen Celans und Bachmanns zentralen Fragestellungen des Sprechens, Schreibens und Schweigens mit dem Thema der Liebe und verankert sie biografisch. Zugleich stellt er das Thema der mit der Hoffnung auf ein Treffen verbundenen Reisen und damit die Bewegung im Raum heraus. Er realisiert eigenwillig die konventionellen Merkmale der Briefstruktur, wobei er u.a. eine Imagination des Textraumes entfaltet, in dem sich der Briefschreiber durch Sprünge bewegt.
Der Text des Briefes vom 31.10.–1.11.1957 lautet:
am 31. Oktober 1957.
Heute. Der Tag mit dem Brief.
Zerstörung, Ingeborg? Nein, gewiß nicht. Sondern: die Wahrheit. Denn dies ist ja wohl, auch hier, der Gegenbegriff: weil es der Grundbegriff ist.
Vieles überspringend:
Ich werde nach München kommen, Ende November, gegen den 26ten.
Ins Übersprungene zurück:
Ich weiß ja nicht, was all das bedeutet, weiß nicht, wie ich es nennen soll, Bestimmung, vielleicht, Schicksal und Auftrag, Namensuche hat keinen Sinn, ich weiß, dass es so ist, für immer.
Auch mir gehts wie Dir: daß ich Deinen Namen aussprechen und aufschreiben darf, ohne mit dem Schauer zu hadern, der mich dabei überkommt – für mich ists, trotz allem, Beglückung.
Du weißt auch: Du warst, als ich Dir begegnete, beides für mich: das Sinnliche und das Geistige. Das kann nie auseinandertreten, Ingeborg.
Denk an ,In Ägypten‘. Sooft ichs lese, seh ich Dich in dieses Gedicht treten: Du bist der Lebensgrund, auch deshalb, weil Du die Rechtfertigung meines Sprechens bist und bleibst. (Darauf habe ich wohl auch damals in Hamburg angespielt, ohne recht zu ahnen, wie wahr ich sprach.)
Aber das allein, das Sprechen, ists ja gar nicht, ich wollte ja auch stumm sein mit Dir.
Eine andere Gegend im Dunkel:
Warten: ich habe auch das erwogen. Aber hieße das nicht auch darauf warten, daß das Leben uns in irgendeiner Weise entgegenkommt?
Uns kommt das Leben nicht entgegen, Ingeborg, darauf warten, das wäre wohl die uns ungemäßeste Art, da zu sein.
Da sein, ja, das können und dürfen wir. Da sein – für einander.
Und wenns nur ein paar Worte sind, alla breve, ein Brief, einmal im Monat: das Herz wird zu leben wissen.
(Und doch, eine konkrete Frage, die Du schnell beantworten mußt: Wann fährst Du nach Tübingen, wann nach Düsseldorf? Man hat mich ebenfalls dorthin eingeladen.)
Weißt Du, daß ich jetzt wieder sprechen (und schreiben) kann?
Ach, ich muß Dir noch viel erzählen, auch Dinge, die selbst Du kaum ahnst.
Schreib mir.
Paul
P.S.
Seltsamerweise mußte ich, auf dem Weg in die Nationalbibliothek, die Frankfurter Zeitung kaufen. Und auf das Gedicht stufen, das Du mir zusammen mit der Gestundeten Zeit schicktest, auf einem Papierstreifen geschrieben, mit der Hand. Ich hatte es immer für mich ausgelegt, und nun kommts wieder auf mich zu – in welchem Zusammenhang!
1.XI.57.
Verzeih, Ingeborg, verzeih die dumme Nachschrift von gestern – ich will vielleicht nie wieder so denken und sprechen.
Ach, ich bin so ungerecht gegen Dich gewesen, all diese Jahre, und die Nachschrift war wohl ein Rückfall, der meiner Ratlosigkeit zu Hilfe kommen wollte.
Ist ,Köln, Am Hof‘ nicht ein schönes Gedicht? Höllerer, dem ichs neulich für die Akzente gab (durfte ich das?), meinte, es sei eines meiner schönsten. Durch Dich, Ingeborg, durch Dich. Wäre es je gekommen, wenn Du nicht von den ,Geträumten‘ gesprochen hättest. Ein Wort von Dir – und ich kann leben. Und daß ich jetzt wieder Deine Stimme im Ohr hab!
(Celan 1957: 64f.)[^1 Im Folgenden wird die Edition des Briefes mit der Sigle PC und der Seitenangabe zitiert.]
1. Ein Briefanfang ohne Anrede
Über lange Zeit, von 1948 bis 1967, stehen Ingeborg Bachmann und Paul Celan in brieflichem Kontakt. In den meisten Briefen Celans wird Bachmann, den brieflichen Konventionen entsprechend, mit ihrem Vornamen und häufig mit dem Adjektiv „lieb“ sowie auch mit dem Pronomen „mein“ angeredet, d. h. als „Ingeborg“,[^ PC 8] „Meine liebe Ingeborg“,[^ PC 12] „Liebe Inge“,[^ PC 32] „Meine liebe Inge“.[^ PC 34] Doch den Brief vom 31. Oktober 1957 beginnt Paul Celan ohne konventionelle Anrede, wonach er in einem weiteren Teil des Briefes deklariert, dass das Aussprechen des Namens der Geliebten für ihn eine Beglückung bedeutet. Doch er beginnt den Brief nicht mit einem solchen beglückenden Akt und verwendet erst in der oben zitierten Deklaration den früher ausgesparten Vornamen. Mit dieser im Hauptteil des Schreibens lokalisierten Ergänzung wird einerseits der Mangel des Namens am Briefanfang ausgeglichen, und es werden andererseits zwei Teile des Textes verbunden, was zur Steigerung seiner Kohärenz beiträgt.
Bevor es aber dazu kommt, beginnt er den Brief mit den auf die Datums- und Ortsangabe direkt folgenden Worten: „Heute. Der Tag mit dem Brief.“[^ PC 64] Die Ausdrücke beziehen sich nicht, wie zu erwarten, auf die Adressatin. Das Temporaladverb „Heute“ stellt den Gegenwartsbezug heraus, die darauffolgende substantivische Gruppe definiert diese Gegenwart durch den Bezug auf das Briefschreiben.
Die Verwendung der Substantive zu Beginn des Briefes wirkt prägnant und erscheint zugleich statisch. Bei der Lektüre hält die Bewegung der Lektüre bei diesen Worten inne. Die Interpunktion verlangsamt das Lesen, denn der Punkt zwischen den Ausdrücken scheint eine Denkpause zu markieren, die auch als eine Atempause realisiert werden kann, die die Bewegung des Lesens verlangsamt. Nach dem Ausdruck „Heute.“ hält die Leserin den Atem an, bevor sie weiterliest: „Der Tag mit dem Brief.“ Substantive sind Sprachformen, die dem Ausdruck der Bewegung nicht förderlich sind. Das Temporaladverb „Heute“ und Substantive, d.h. statische Elemente, mit denen Celan seinen Brief eröffnet, heben sich von dem Hauptteil des Briefes ab, für den die Bewegung im Briefraum und Bewegung im realen Raum eine wichtige Rolle spielen.
2. Zum Hauptteil des Briefes
Nach der Briefkonvention wäre nach dem Anfang, der salutatio, der Hauptteil zu erwarten, in dem nach einer captatio benevolentiae, d. i. Einstimmung auf die Situation der Leserin bzw. einer Einleitung des kommenden Themas, eine narratio, d. i. ein berichtender Teil, ferner eventuell eine petitio (eine Aufforderung oder ein Ersuchen) folgen, bevor der Hauptteil mit einer conclusio abgeschlossen wird, in der der Briefanlass noch einmal formuliert werden kann (vgl. Koch 1999: 546). Beendet wird der Brief darauffolgend mit einer Grußformel und der Unterschrift des Verfassers.
Die Auslassung der salutatio gleicht Celan nicht durch einen Versuch aus, auf eine traditionelle Art und Weise auf die aktuelle Lage der Empfängerin einzugehen, um mit dieser geläufigen Strategie ihr Wohlwollen zu gewinnen. Celans Worte orientieren sich aber doch an der Adressatin. Der Dichter geht nämlich direkt auf folgende bekümmerte Frage Bachmanns aus ihrem Brief vom 28.–29. Oktober 1957 ein: „Muß ich jetzt denken, daß ich Dich wieder unglücklich mache, wieder die Zerstörung bringe, für sie und Dich, Dich und mich?“ (Bachmann 1957: 63) Der Briefschreiber antwortet: „Zerstörung, Ingeborg? Nein, gewiß nicht. Sondern: die Wahrheit. Denn dies ist ja wohl, auch hier, der Gegenbegriff: weil es der Grundbegriff ist.“[^ PC 64] Durch die Lokalisierung dieser Antwort an einer so wichtigen Stelle wie dem Briefanfang wird ersichtlich, wie wichtig sie dem Schreiber gewesen ist. Er wiederholt den von Bachmann verwendeten Begriff, nennt erst hier zum ersten Mal den Namen der Adressatin und weist die Vermutung, dass die wieder aufgenommene Beziehung seine Ehe ruinieren wird, zurück. Die Wiederholung des Wortes „Zerstörung“ in Celans Brief verweist im doppelten Sinne zurück: nämlich nicht nur auf den oben genannten Brief der Geliebten vom 28.–29. Oktober 1957, sondern auch auf die frühere Phase der Beziehung, d.i. auf die vor fünf Jahren abgebrochene Korrespondenz. Indem er die Rückwärtsbewegung in die Vergangenheit thematisiert, weist der Absender darauf hin, dass er einen Sprung im Brieftext gemacht hat, indem er sich einer zukünftigen Reise und einem möglichen Treffen mit der Geliebten zuwandte. Die hier verwendete Metapher des Sprungs kann sowohl auf inhaltliche als auch formale Elemente des Briefes bezogen werden. Celan schreibt: „Vieles überspringend: Ich werde nach München kommen, Ende November, gegen den 26ten.“[^ PC 64] Die Lexeme „überspringend“ und „kommen“, die die Semantik von Fortbewegung zum Ausdruck bringen, stehen im Kontrast zum statischen Anfang des Briefes. Der Bewegung im Raum des Briefes entsprechen also das Thema der Reise und die Bewegungsverben auf der lexikalischen Ebene. Damit verbindet sich das strukturelle Merkmal des epistolaren Textes mit der Semantik der Aussage. Die Ansage der Reise kann als eine Textbewegung auch deswegen definiert werden, weil sie sich einem anderen Text, nämlich dem oben bereits zitierten Brief Bachmanns und dem darin artikulierten Wunsch („Wenn Du Ende November kommen könntest! Ich wünsche es mir.“ Ebd.: 63) öffnet.
Die dynamische Komponente in Celans Brief entspricht der von ihm in einem weiteren Teil thematisierten Entscheidung gegen das passive Warten auf eine Zeit, in der das Schicksal beiden Geliebten entgegenkommt. Die Entscheidung für ein aktives Verhalten erklärt er folgendermaßen: „Uns kommt das Leben nicht entgegen, Ingeborg, darauf warten, das wäre wohl die uns ungemäßeste Art, da zu sein“,[^ PC 65] womit er sich selbst und die Geliebte zum Handeln zu motivieren scheint. Nach der Ankündigung der Reise verweist der Absender auf einen Versuch, die Briefkonvention nicht außer Acht zu lassen und markiert im Text eine Rückwärtsbewegung mit den Worten „ins Übersprungene zurück“.[^ PC 64]
3. Zur Dynamik des Briefschlusses
Celan beendet seinen Brief auf eine konventionelle Art und Weise mit den Worten: „Ach, ich muß Dir noch viel erzählen, auch Dinge, die selbst Du kaum ahnst. Schreib mir“.[^ PC 65] Der Schreiber verbleibt im Rahmen der epistolaren Konvention, wenn er in die Zukunft, d. i. auf die Fortsetzung der Kommunikation verweist und die conclusio mit der petitio zusammenfallen lässt. Die den Brief abschließende Bitte wird mit einer Imperativform ausgedrückt. Der Schluss des Schreibens und die darin enthaltene Bitte sind knapp, einfach und prägnant; direkt danach kommt die Unterschrift „Paul“. Die Bewegung / Dynamik des Textes wird damit jedoch nicht abgeschlossen, ihr folgen zwei Postskripta, in denen Celan die literarischen Texte beider Korrespondenten thematisiert.
In dem ersten Postskriptum berichtet der Dichter, dass er in der Frankfurter Zeitung auf Bachmanns Gedicht stieß, das die Geliebte früher für ihn mit der Hand abschrieb und ihm mit dem Band Die Gestundete Zeit zuschickte. Dem Erlebnis, den von ihm bisher als eine intime an ihn gerichtete Nachricht verstandenen literarischen Text unerwartet in einer Zeitung lesen zu müssen, widmet der Autor keinen gesonderten Brief. Die Verwendung des Postskriptums gibt ihm die Möglichkeit, die Nachricht von einem irritierenden Ereignis an das zuvor Gesagte anzuschließen und zugleich die Dynamik des Schreibprozesses zu betonen, ohne den Text erneut beginnen zu müssen.
Nachdem Celan das erste Postskriptum beendet hat, fügt er ein weiteres hinzu, in dem er die Aussage des ersten zurücknimmt. Dieses beginnt er mit einer Datumsangabe, wobei er der von der Konvention vorgeschriebenen Struktur des Briefes folgt, da er darin Absätze, neue Gedanken und Überlegungen deutlich hervorhebt. Mit dem Datum trennt er erkennbar das am vorigen Tag geschriebene Postskriptum von dem am nächsten Tag hinzugefügten Teil. Gleichzeitig unterstreicht er die Kürze des Zeitraums, in dem sich seine Sichtweise änderte. In diesem zusätzlichen Teil des Briefes geht er auf die Worte aus dem ersten Postskriptum zurück, bittet die Empfängerin um Verzeihung für seine Aussage und verspricht, „nie wieder so [zu] denken und [zu] sprechen“ (ebd.: 65). Das finale Textstück ist sehr dicht. In ihm finden nicht nur die entschuldigenden Worte ihren Platz, sondern auch ein Geständnis, dass Celan jahrelang Bachmann gegenüber ungerecht war, und ein bewegendes Liebesbekenntnis. Der Dichter erklärt, ein einziges Wort der Geliebten sei ihm genug, um leben zu können. Dieses Postskriptum ist zeitlich sowohl rückwärts als auch vorwärts orientiert. Es wendet sich einerseits dem vorausgegangenen Textteil, andererseits der Vergangenheit der Beziehung zu und enthält ein Versprechen der Wiedergutmachung des Gewesenen. Mit dem doppelten Postskriptum zeigt Celan nicht nur die Dynamik der Textentstehung, er belegt, dass er seinen Standpunkt im Laufe eines Tages ändern kann.
4. Zu intertextuellen Bezügen des analysierten Brieftextes auf Celans Gedichte
In dem brieflichen Dialog zwischen Bachmann und Celan ist eine Vielzahl von Anspielungen auf ihre literarischen Texte zu erkennen (May u.a. 2012: 334). Es erscheint bemerkenswert, dass in dem analysierten Brief drei intertextuelle Bezüge vorliegen, die auf das Verhältnis des Brieftextes zur Literatur, in diesem Fall zu Gedichten, hinweisen. Es sind Verweise auf zwei lyrische Werke Celans (In Ägypten, Köln, Am Hof) und eins von Bachmann (der Name des Gedichtes wird im Brief nicht genannt, aber vermutlich ist von Im Gewitter der Rosen die Rede, vgl. Bachmann / Celan 2008: 278).
Celan betont, wie bedeutend die Rolle von Bachmann in seinem Leben sei im Hauptteil des Briefs mit den Worten:
Denk an ,In Ägypten‘. Sooft ichs lese, seh ich Dich in dieses Gedicht treten: Du bist der Lebensgrund, auch deshalb, weil Du die Rechtfertigung meines Sprechens bist und bleibst. (Darauf habe ich wohl auch damals in Hamburg angespielt, ohne recht zu ahnen, wie wahr ich sprach.)
Aber das allein, das Sprechen, ists ja gar nicht, ich wollte ja auch stumm sein mit Dir.
(Celan 1957: 64)
Die Wichtigkeit des hier genannten Gedichtes In Ägypten für die Beziehung und Korrespondenz der beiden Dichter kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es wurde von Celan 1948 zu Beginn der Bekanntschaft geschrieben und reflektiert die Liebe des lyrischen Ichs zu einer „Fremden“, womit die Ambivalenzen der Beziehung artikuliert werden. Seine Worte sollten bis zum Schluss des gesamten Briefwechsels für den Schriftsteller wichtig bleiben. Auch in dem hier analysierten Brief, der fast zehn Jahre nach der Entstehung des Gedichts geschrieben wurde, kehrt Celan zu ihm zurück. Damit wird die im Brief nicht erwähnte Fremdheit zwischen den Geliebten konnotiert. Zugleich wird das Gedicht im Brief zu einer Schwelle zwischen den Getrennten, denn die im zitierten Werk als „Fremde“ bezeichnete Geliebte wird von Celan 1957 als der „Lebensgrund“ und „die Rechtfertigung“ seines „Sprechens“ bezeichnet. (Ebd.: 65)
Celans zweites Gedicht, auf das sich der erwähnte Brief bezieht, entsteht im Oktober 1957 und heißt Köln, Am Hof (ebd.: 65). Es wurde wenige Tage nach der oben erwähnten Wiederbegegnung der Geliebten bei der Wuppertaler Tagung geschrieben und ist eine Erinnerung an den Neubeginn der Beziehung: an die Zeit, die Celan und Bachmann in Wuppertal während sowie nach der Tagung in einem Hotel in der Straße Am Hof verbracht haben (vgl. Renker 2017: 29). „Die Straße führt vom erzbischöflichen Palast bis zum Rathausplatz; das Gebiet war im Mittelalter den Juden zugewiesen. Die Straßenbezeichnung wurde zwischen Celan und Bachmann zu einer Art Codewort“ (Bachmann / Celan 2008: 275) in späteren Briefen. Das Gedicht beginnt mit dem Neologismus „Herzzeit“:
Herzzeit, es stehn
die Geträumten für
die Mitternachtsziffer.
Einiges sprach in die Stille, einiges schwieg,
einiges ging seiner Wege.
Verbannt und Verloren
waren daheim.
. . . . . . . . . . . . .
Ihr Dome.
Ihr Dome ungesehn,
ihr Ströme unbelauscht,
ihr Uhren tief ins uns.
(Bachmann / Celan 1957: 59f.)
In dem Zusatzteil seines Briefes vom 31.10–1.11.1957 hebt Celan hervor, dass das Gedicht dank Bachmann geschrieben wurde:
Ist ‚Köln, Am Hof‘ nicht ein schönes Gedicht? Höllerer, dem ichs neulich für die Akzente gab (durfte ich das?) meinte, es sei eines meiner schönsten. Durch Dich, Ingeborg, durch Dich. Wäre es je gekommen, wenn Du nicht von den ‚Geträumten‘ gesprochen hättest. Ein Wort von Dir – und ich kann leben. Und daß ich jetzt wieder Deine Stimme im Ohr hab!
(Celan 1957: 65)
Die Anspielung auf das Gedicht erinnert die Korrespondentin an eine bewegende Zeitphase nach der Wiederaufnahme der Beziehung. Mit der Anspielung wird sowohl auf einen vorausgegangenen literarischen Text als auch auf die spannungsvolle Lage der Geliebten zurückgewiesen, die sich in ihrer Beziehung sowohl „verbannt und verloren“ als auch „daheim“ fühlen. Der intertextuelle Bezug erhöht die Dynamik des Brieftextes.
5. Schlussfolgerungen
Der im vorliegenden Beitrag analysierte Brieftext zeichnet sich durch eine hohe Dynamik aus. Als dynamisch können die inhaltlichen Aspekte, d.h. die geplanten Reisen und die Spannungen in der Beziehung zwischen den Korrespondenten bezeichnet werden. Dynamisch erscheint auch die Form des Briefes, dessen Schreiber die Aufmerksamkeit der Empfängerin gekonnt steuert. Er überspringt oder realisiert eigenwillig die vorgeschriebenen Elemente der Briefstruktur und erzeugt den Eindruck einer sprunghaften Vorwärts- und Rückwärtsbewegung, was die Aufmerksamkeit der Empfängerin erhöht. Er öffnet auch den Brieftext auf literarische Texte und lässt so eine Spannung zwischen den direkt ausgesprochenen und den verschwiegenen Aspekten der das Schreiben begründenden Beziehung erkennen. Die genannten Aspekte lassen den Brief zu einem bewegenden Dokument der Liebe beider Schriftsteller werden.