Workshop „Text im Prozess“ 15.–18. Oktober 2025
Vom 15.–18. Oktober findet der Workshop „Text im Prozess“ an der Jagiellonen-Universität Krakau statt. Dort kommen Wissenschaftler:innen, Dozent:innen, Doktorand:innen und Studierende beider Institute (Krakau und Leipzig) zusammen und stellen in sprach- und literaturwissenschaftlichen Vorträgen den Prozesscharakter von Texten in älterer und neuerer deutscher Literatur sowie in der germanistischen Sprachwissenschaft vor. Dabei wird der Begriff des Prozesses in seiner Varianz an verschiedenen Gegenständen vorgestellt und definiert, etwa als eine Reise oder Schritthaftigkeit der Figuren, die Entstehung und Überlieferung von Texten oder sprachliche Zeichen eines Verstehensprozesses innerhalb eines Gesprächs. In Diskussionsrunden soll der Begriff weiter geschärft und methodisch erschlossen werden. Die Teilnehmenden und Zuhörenden erwarten Romantexte unterschiedlicher Epochen, Briefe, diverses Material aus Archiven sowie Gegenstände der Medien-, Pragma- und Textlinguistik sowie der Translatologie.
Wir laden Sie ganz herzlich zur Teilnahme ein und hoffen auf regen Zustrom!
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Das Plakat mit den Programmpunkten können Sie hier abrufen und downloaden. (PDF, 1,48 MB)
Plakat
© Textdynamiken 2025
Veranstaltungen
Begrüßung und Einführung
SABINE GRIESE: Dialogischer Konfliktlösungsweg. Die Macht der Sprache im ‚Ehescheidungsgespräch‘ des Strickers
Ein Mann droht seiner Frau mit Trennung und beschimpft sie übel. Die Frau reagiert listig und beweist ihre Macht über den Mann; am Ende versöhnen sich die beiden, küssen sich und singen. Der kurze Verstext des Strickers aus dem 13. Jahrhundert, den die modernen Editoren ‚Ehescheidungsgespräch‘ nennen, zeigt, wie ein Ehemann seine Trennungsabsicht formuliert, indem er den Trennungszeitraum schrittweise verkürzt, wie die Frau verbal reagiert und eine Trennungsmöglichkeit als Unmöglichkeit darlegt. Ein Dialog in Echt- und Jetztzeit zeigt den Auf- und Abbau eines Ehekonflikts als komödiantische Diplomatie, die bewusst mit Zeitschritten arbeitet. Der Stricker präsentiert verbale Drohgebärden eines Ehepaars, die sich in Gesang auflösen. Die Schritthaftigkeit der „Sprechdichtung“ (Nowakowski) ist zu deuten.
FRANZISKA MERZ: Von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit? Ulrich Kraffts Predigtzyklus ‚Der Geistliche Streit‘ in zwei Fassungen
Der im Jahr 1503 während der Fastenzeit gehaltene Predigtzyklus ‚Der Geistliche Streit‘ des Ulmer Stadtpfarrers Ulrich Krafft ist in zwei Fassungen erhalten geblieben. Eine handschriftliche Niederschrift der Predigten wird auf das Jahr 1505 datiert. Der Druck, erschienen nach Kraffts Tod, entstand jedoch erst 1517. Der Vortrag beschäftigt sich mit der Frage, welche Prozesse zwischen den beiden Textzeugen
im Hinblick auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit erkennbar sind. Handelt es sich bei dem Druck um einen Lesetext? Was wurde abgeändert? Können solche Fragen überhaupt beantwortet werden? Diese und weitere Überlegungen stehen im Zentrum einer Spurensuche in und um Kraffts Predigtzyklus ‚Der Geistliche Streit‘.
FRANK LIEDTKE: Text und Zeit.
Über Liveblogs auf Nachrichten-Webseiten
Liveblogs auf Nachrichten-Webseiten zeichnen sich dadurch aus, dass die einzelnen Meldungen dem Geschehen zeitlich folgen – ihre Uhrzeit ist jeweils angezeigt. Das heißt, dass ‚spätere‘ Meldungen zum Zeitpunkt der aktuellen Meldung noch nicht bekannt sind. Umgekehrt kann es sein, dass ‚frühere‘ Meldungen vor dem Hintergrund der aktuellen Meldung redundant oder sogar falsifiziert werden. Wie lesen wir also einen solchen Liveblog? Gerd Fritz schreibt zur dynamischen Betrachtungsweise von Texten, „dass der sequenzielle Charakter der Bearbeitung thematischer Strukturen in den Vordergrund rückt.“ (Fritz 2017, 280). Dynamische Sequenzialität ist auch für Liveblogs entscheidend, aber sie gehen darüber hinaus. Text (Signifiant) und Geschehen (Signifié) entwickeln sich in zeitversetzter Weise synchron. Eine weitere Frage lautet also: Welche Folgen hat dies für das Textweltmodell, das beim Lesen dieser Blogs aufgebaut wird? Dem soll anhand von Beispielmaterial nachgegangen werden.
STEPHANIE BREMERICH: Gehen, Sehen und Verstehen. Prekäre Mobilität und visuelle Registratur bei Emmy Hennings
In ihrem Tagebuch hat Emmy Hennings (1885–1948) ihre Bücher einmal als „Gassenbücher“ bezeichnet: als Bücher, die von ‚der Straße‘ erzählen und als Bücher, die von jemandem erzählt werden, der ‚die Straße‘ kennt. Das prekäre Unterwegssein – als Obdachlose, Prostituierte oder Wanderschauspielerin – sind wichtige Themen ihrer autobiografischen Romane ‚Gefängnis‘ (1919) und ‚Das Brandmal‘ (1920). Auf der Straße sind Hennings‘ Ich-Erzählerinnen disziplinarischen und stigmatisierenden Blicken aus gesetzt; zugleich treten sie selbst als genaue Beobachterinnen ihres Milieus in Erscheinung. In der prozessualen Verbindung von Gehen, Sehen und Verstehen entwickeln die Texte eine Poetik des sozialkritischen ‚Blicks von unten‘, die sowohl an die Flaneur-Literatur der Moderne anknüpft als auch dem Blick eine eigenständige narrative Funktion zuweist.
MAGDALENA FILAR: Zur prozessualen Dimension von Abstracts als kurzen wissenschaftlichen Texten. Über die referentielle Bewegung durch den virtuellen Textraum
Das Referat hat zum Ziel, das Phänomen der Prozessualität im Text zu erklären und anschließend eine detaillierte Analyse der referentiellen Bewegung und des damit verbundenen Informationspotenzials in Abstracts als kurzen wissenschaftlichen Texten durchzuführen. Der Fokus der Analyse wird auf die Untersuchung des semantischen und informationellen Potenzials von anaphorischen Ausdrücken als typischen Indikatoren der referentiellen Bewegung im Text gelegt, darunter insbesondere auf zwei Arten von anaphorischen Ausdrücken – auf indirekte und Komplexanaphern und auf ihre komprimierende Funktion. Als Korpus der Studie werden Abstracts von sprachwissenschaftlichen
Referaten herangezogen, die an der internationalen Konferenz ‚Was man nicht alles sagen muss.‘ Kurztexte und multimodale Kurzformen im öffentlichen Raum gehalten wurden (Kraków, 2019).
KATARZYNA JAŚTAL und JOANNA SZCZUKIEWICZ: Das Stammbuch Karl August Varnhagens von Ense als ein „Text im Prozess“
Das in der Varnhagensammlung überlieferte Stammbuch Karl August Varnhagens von Ense stellt nicht nur ein wichtiges biografisches Zeugnis und einen relevanten Beleg der Stammbuchkultur um 1800, sondern auch ein bedeutendes Dokument literarischer Netzwerkbildung dieser Zeit dar. Seine ursprüngliche Integrität – die im Kontext der Stammbuchkultur in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts keineswegs
selbstverständlich war – wurde durch die nachträgliche Zerstreuung der Einzelblätter durch den Besitzer im Rahmen seiner Sammlungsanlage aufgelöst, womit die ursprünglichen Kontexte der Inskriptionen verzerrt wurden. Der geplante Beitrag erörtert die Eigenart des Albums innerhalb der Stammbuchkultur um 1800, die durch zeitspezifische materielle Praktiken legitime Fragmentierungsformen konstituierte, sowie den einschlägigen Archivierungsprozess des Objekts, der zu seiner Fragmentierung führte. Im Anschluss daran wird der von den Autorinnen vorgenommene Rekonstruktionsversuch der ursprünglichen Konfiguration des Objekts erörtert.
ANTONIA NETZKER: Inzest – Irrtum – Intrige. K. A. Varnhagens Notizen über Ludwig Tieck
Aus den Notizen Karl August Varnhagens zu Ludwig Tieck erfahren wir einige Einzelheiten unerhörter Begebenheiten, die sich im Leben und Umfeld des Dichters ereignet und sogar Einfluss auf seine Dichtung genommen haben sollen. Gehäuft finden in den sechzehn Blättchen Tiecks Schwester Sophie sowie sein Jugendfreund und zeitweiliger Schwager August Ferdinand Bernhardi Erwähnung. Im Zuge des Ehescheidungsprozesses (1806–1809) zwischen Sophie und Bernhardi kommt es zwischen Tieck und Bernhardi zum entschiedenen „Bruch“, wie es bei Varnhagen heißt. Auch wirkt sich das Gerichtsverfahren auf den Kreis der Involvierten aus, darunter August Wilhelm Schlegel, Karl Georg von Knorring, Alexander von Humboldt sowie Johann Gottlieb Fichte. Inwieweit lässt sich der Prozess auf Grundlage bis
heute erhaltener Textdokumente neuerlich aufrollen? Was erfahren wir einerseits über die Preußische Gesetzeslage oder das Eherecht der damaligen Zeit und welche Rolle spielt andererseits womöglich das literarische Geschick der Beteiligten?
SEBASTIAN FRANKE: Alltags- und Ausnahmegeschehen in den Briefen L. A. V. Kulmus
Aus einem Brief von Luise Adelgunde Victorie Kulmus vom 20. Oktober 1733 geht hervor, dass Johann Christoph Gottsched ihr in einem nicht überlieferten Schreiben schilderte, mit welchen Tätigkeiten er sich die Stunden des Tages einteilt. Sie replizierte mit einer Darstellung ihres gewöhnlichen Tagesablaufes. Im starken Kontrast zu diesen Einblicken in scheinbar von Gleichförmigkeit und Kontemplation geprägten
Handlungsabläufen, die Luise Adelgunde ihrem Verlobten gewährte, stehen eine Gruppe von Briefen, die sie im Folgejahre verfasste, denn 1734 war für sie ein überaus bewegtes und von Schicksalsschlägen regelrecht überfrachtetes Jahr. Diese Gegenüberstellung zeigt, dass sich in den Briefen der Jahre 1733/34 unterschiedliche Bewegungsintensitäten beobachten lassen, die ich als Alltags- und Ausnahmesituationen charakterisiere. In meinem Vortrag möchte ich untersuchen, wie diese Bewegungsintensitäten in den Briefen Luise Adelgundes diskursiviert werden.
OLGA KWIATKOWSKA: Figuren des Übergangs. Zur Textstruktur und epistemischen Bewegung in ‚An der Zeitmauer‘ Ernst Jüngers ‚An der Zeitmauer‘ bewegt sich an der Schnittstelle von Essay, Naturbetrachtung und spekulativer Anthropologie.
In dem Vortrag wird weniger nach den metaphysischen Inhalten des Textes gefragt als nach seiner Bewegung: Welche Übergangsfiguren
werden sprachlich, stilistisch und strukturell inszeniert? Im Zentrum steht die Analyse von Textdynamiken, die sich etwa in Wiederholung, Analogiebildung und der Spiralstruktur des Denkens zeigen. Jüngers Text entwickelt sich nicht linear, sondern tastend, oszillierend. Gerade in diesen Übergängen – zwischen Mythos und Biologie, Wissenschaft und Imagination, Faktum und Figur – entfaltet sich
eine eigene Form epistemischer Bewegung. ‚An der Zeitmauer‘ erscheint so weniger als geschlossene Weltdeutung denn als Grenztext: eine Schreibform, die Übergänge hervorbringt und zugleich reflektiert.
ROBERT MROCZYŃSKI: Erkenntnisprozessmarker im Fokus. Eine Neubetrachtung
Marker, die in der Interaktion einen Erkenntnisgewinn anzeigen, werden als Erkenntnisprozessmarker bezeichnet (Imo 2007/2009). Im angelsächsischen Raum heißen sie „change of state token“ (Heritage 1984). Meine Forschung zu Nicht-Verstehensmarkern zeigt, dass insbesondere die Definition der Erkenntnisprozessmarker problematisch ist. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Gebrauch von Verstehens- und Nicht-Verstehensmarkern ganzheitlich betrachtet. Im Vortrag werde ich diese Inhalte genauer präsentieren und die Herausforderungen aufzeigen, bei denen ich bislang keine abschließende Lösung gefunden habe.
KINGA PORĘBSKA: Deutsche Diskursmarker und ihre polnischen Entsprechungen
Mit der pragmatischen Wende in der Linguistik rückten Diskursmarker zunehmend in den Fokus der Forschung. In der wissenschaftlichen Literatur finden sich zahlreiche Begriffe und Klassifikationen für diese Phänomene, die mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen einhergehen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit deutschen Diskursmarkern und ihren polnischen Entsprechungen. Im Zentrum steht die Analyse des deutschen Diskursmarkers ‚weil‘, seiner Verwendungskontexte und die Identifikation seiner funktionalen Entsprechungen im Polnischen. Die Datenbasis bilden Transkripte aus dem „Forschungsund Lehrkorpus Gesprochenes Deutsch“ (FOLK). Die theoretische Grundlage zur Beschreibung deutscher Diskursmarker liefert das Modell von Gohl und Günther (1999). Zur Darstellung des Forschungsstandes zu polnischen Diskursmarkern wird auf die Klassifikationen von Wajszczuk (2005) sowie Grochowski / Kisiel / Żabowska (2014) zurückgegriffen.
RICHARD KRABI: Narrative Konnektivität texthistorisch. Der ‚Tristrant‘ um 1200 und um 1500
Längere mittelalterliche Erzählliteratur ist weitgehend episodisch organisiert. Besonders die Übergänge zwischen einzelnen Handlungsabschnitten erweisen sich dabei regelmäßig als Stellen, an denen narrative Kohärenz problematisch werden kann. Der Vortrag untersucht die sprachliche Gestaltung solcher scene shifts in unterschiedlichen Fassungen und Bearbeitungen des ‚Tristrant‘-Romans Eilharts von Oberg zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert. Im Fokus steht die Frage, wie die Wahl der Kohäsionsmittel mit der medialen Pragmatik der Texte zusammenhängt.
KORNELIA KLEPACZ: Kohärenz und Kohäsionsmittel in Bedienungsanleitungen
Nach de Beaugrande/Dressler (1981) gehören Kohärenz und Kohäsion zu sieben Kriterien der Textualität, die erfüllt werden müssen, damit der Text als kommunikativ gilt. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Analyse von Kohärenzprozessen und Kohäsionsmitteln in der Textsorte Bedienungsanleitungen. Da das Korpus des Beitrags zwei multimodale Texte bilden, die aus dem öffentlichen Raum in Krakau und in Regensburg kommen und die sowohl sprachliche als auch visuelle Elemente enthalten, liegt der Schwerpunkt des Referats auf der Analyse der multimodalen Kohärenz.
JULIA KARKOWSKA: Ryszard Wojnakowski als Übersetzer von Kinder- und Jugendliteratur
Ryszard Wojnakowski ist ein herausragender Übersetzer, der mit seinen Arbeiten maßgeblich zur Rezeption deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur in Polen beigetragen hat. Seine Übersetzungen ermöglichen nicht nur die sprachliche Vermittlung von Geschichten, sondern auch die Anpassung kultureller Kontexte an die polnische Leserschaft. Die Analyse seiner Übersetzungsmethoden sowie der von ihm gewählten Werke erlaubt es, die Herausforderungen und Besonderheiten der Übersetzung von Kinder- und Jugendliteratur besser zu verstehen.
AGNIESZKA GAWEŁ: Zum Wandel des Textmusters von Todesanzeigen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Die Todesanzeige gehört heutzutage zu den am stärksten konventionalisierten Textsorten in der Kommunikation über den Tod wie auch gleichzeitig zu denjenigen Textsorten, in denen die Spannung zwischen der Individualisierung und Kollektivisierung der Trauer die Gestalt der Textmuster besonders deutlich geprägt hat. Im vorliegenden Vortrag untersuchen wir den Wandel der Struktur von Todesanzeigen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Im Mittelpunkt unserer Analyse steht der Übergang von der ersten Phase der
Entwicklung dieser Textsorte, in der die individuelle Textgestaltung dominiert, zur Konventionalisierung des Textmusters, Unterschiede zwischen der prototypischen Textstruktur von Anzeigen aus verschiedenen Zeitperioden wie auch das heutzutage zu beobachtende
Bestreben nach der Individualisierung des Ausdrucks von Trauer, das zu zahlreichen Abweichungen von standardisierten Textmustern wie auch zu Tabu-Brüchen führt.
AGNIESZKA SOWA: ‚Hässlichkeit‘ von Moshtari Hilal als textueller Gesundungsprozess
Obwohl Moshtari Hilal (*1993) für ‚Hässlichkeit‘ (2023) mit dem Hamburger Literaturpreis für Sachbuch ausgezeichnet wurde, ist ihr multimodales Buch zu einem großen Teil auch literarisch und autobiographisch. Der für das Werk essentielle Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden Schönheit/Hässlichkeit wird vor allem performativ durch die Konstruierung des Textes und den Schreibprozess vollzogen, wobei eine signifikante Rolle dem Medium der herangezogenen bzw. zitierten Bücher zukommt. Die Aufgabe des Referats ist es, die Bedeutung der Texte in diesem Prozess zu veranschaulichen.